"Neue Blasen stehen vor der Tür"

Seite 6: 6. Der Effekt: Weitgehende Folgenlosigkeit der Finanzkrise in den USA

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Das hieße aber doch, dass sich trotz der massiven Auswirkungen durch die Krise 2007-10 im Grunde nichts in der grundlegenden Finanzkultur der USA geändert hat - und zwar gerade weil diese Finanzkultur die gesamte US-Kultur als Schulden-Zukunftskultur begründet, und also bis zu einem gewissen Grad sogar deren innersten Kern ausmacht?

Benedikter: Das ist in der Tat der Fall. Die US-Schuldenkultur einschliesslich ihres Prinzips "antizipativen" Konsums zu verändern, hieße, die USA an sich in ihrem innersten kulturellen Zentrum in Frage zu stellen. Daher hat sich die US-Finanzkultur durch die Krise in der Tat auch nicht in ihrem historischen Kern geändert. Das ist bis zu einem gewissen Grad, wie vor allem die amerikanische Rechte (Republikanische Partei) hervorhebt, auch gar nicht möglich, wenn die USA die USA bleiben wollen.60 Wenn der beschriebene US-Umgang mit Geld also auch nach der Krise 2007-10 kulturtypologisch bis heute der Fall bleibt, wie ich glaube, wenn auch bis auf weiteres im Gefolge der Krise temporär sicher etwas abgedämpft, dann liegt in den USA der Schwerpunkt des Umgangs mit Geld auf der - vergleichsweise stark risikobereiten - Erschließung einer völlig offenen neuen Möglichkeit, in Europa auf der vergleichsweise wenig risikobereiten, jedoch rational balancierten Weiterentwicklung einer Errungenschaft.

Daraus ergeben sich unausweichlich verschiedene kulturelle Grundentscheidungen im Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft.

Benedikter: Richtig. All dies macht einen grundlegenden Unterschied in den Strukturmechanismen nicht nur der Wirtschaft, sondern der gesamten Gesellschaft, ihrer Kulturpsychologie und -grundstimmung aus. Und zwar - aus meiner Sicht wichtig! - bei gleichen oder zumindest ähnlichen, und zudem über den Atlantik miteinander verwobenen kapitalistischen Grundbedingungen. In wirtschaftlicher Hinsicht sind die USA und Europa nach wie vor die am stärksten miteinander verwobenen Regionen weltweit. 2010 betrug der Anteil der EU-Investitionen in den USA mehr als 50 Prozent aller Auslands-Direktinvestitionen, der Anteil der US-Direktinvestitionen in der EU etwa 60 Prozent.61

Können wir abschliessend die Hauptpole Ihrer Beobachtungen zusammenfassen? Was bedeuten sie in ihrer spezifisch zeitgenössischen Verwobenheit, als Einheit?

Benedikter: Zusammenfassend kann man sagen, dass die Gründe für die weitgehende Folgenlosigkeit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007-10 erstens in globalpolitischen Zusammenhängen (u.a. der Aufstieg Chinas mittels "neoliberalem" Kapitalgebrauch); zweitens im Wesen der spekulativen Vernunft der Moderne; und drittens im grundlegenden Charakter der US-Schuldenkultur als personalkreditzentrierter Zukunfts-Antizipationskultur bestehen, die im Unterschied zu Europa das spekulative Prinzip in ihrem Zentrum trägt. Über die globalpolitischen Gründe haben wir eingangs gesprochen. Die kulturellen Gründe bestehen aus einem Konglomerat von allgemeinem kulturellen Habitus der USA mit im engeren Sinn finanztechnischen Aspekten. Alle drei Gründe wirken heute zusammen.

Und die Zukunft?

Benedikter: Die drei genannten Dimensionen werden sich in den kommenden Jahren gegenseitig stützen und verstärken. Sie bewirken bislang, dass die Krise wenig Folgen für das bestehende System hat. Sie wirken für dieses stabilisierend. Nur wenn man diese drei Aspekte zusammennimmt und in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit versteht, kann man die Hartnäckigkeit und Veränderungsresistenz des bisherigen Finanz- und Wirtschaftssystems sowie die vielen, in Europa oft schwer verständlichen Kompromisse verstehen, die US-Präsident Barack Obama in den vergangenen Monaten im Hinblick auf die im Raum stehende Neuregulierung des nationalen und internationalen Finanzsektors eingegangen ist.

Das heisst bezogen auf Europas Verhältnis zu den USA?

Benedikter: Die Schuldenkultur ist Teil der ambivalenten, aber eben gerade in dieser Ambivalenz produktiven Seele Amerikas. Aus ihr speisen sich faktisch nicht nur die internationale Finanzwirtschaft, sondern auch die offenen Gesellschaften und Demokratien weltweit. Aus ihr heraus erfahren sie alle bis zu einem gewissen Grad ihre Legimation, und in ihr finden sie ihr weltweites Zentrum. Viele Nationalwirtschaften leben ja bis heute massgeblich von Exporten in die USA, die diese auf Schulden finanzieren. Das alles sollten wir bei der Ortung und Bewertung der Grundlagen der Krise nicht vergessen.

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