Nicht nur die New York Times in Not

Zwei von drei US Bürgern haben kein Vertrauen mehr in die Qualität des amerikanischen Journalismus, nachdem Reporter der "The New York Times" in Verruf gekommen sind

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Reporter Rick Bragg, ein Pulitzer-Preis Träger, gestand zu, dass er im Vorjahr für einen Bericht über Austernfischer einen Assistenten anheuerte. Seine eintägige Stippvisite in Miami reichte ihm aus, um die mehrtägigen Recherchen seines Youngfellow zu verifizieren. Ohne Rasterfahndung wäre das Vorgehen verborgen geblieben. Doch die Welt der New York Times (NYT) geriet in Unordnung durch die Erkenntnis, dass ein 27jähriger Reporter, Jayson Blair, offenbar von Anfang an seine Artikel am Schreibtisch seines Apartments strickte (Der Fake-Journalismus). Ohne überhaupt an den Orten seiner Berichte gewesen zu sein, benutzte er den Lokalteil anderer Zeitungen als Quelle und ergänzte phantasievoll was zu seinem Stil dazu gehörte.

Im Nachhinein, so heißt es bei der New York Times, gab es gar nicht so selten Unstimmigkeiten. Das konnte der Blick über das freie Feld sein, das nicht existierte, oder es waren die Namen von Nachbarn der Betroffenen, die außer Jayson Blair keiner kannte. Zusätzlich kamen Klagen über Plagiate, die bei einem von Journalisten-Kollegen gelesenen Blatt jene sprichwörtlichen kurzen Beine machen, die Lügen ans Licht der Öffentlichkeit bringen. 36 von 70 Artikeln waren fabriziert, befand ein 20-Köpfiges Gremium der NYT. Dem dunkelhäutigen Journalisten kam, so mutmaßte Howard Kurtz von der Washington Post, die Rolle eines Vorzeige-Negers zu, dem seine Vorgesetzten deshalb vieles nachsahen.

Vor diesem Hintergrund erwischte es Rick Bragg, weil die Herausgeber nicht nur den Artikeln Jayson Blairs nachgingen, sondern weiteren Klagen über Unstimmigkeiten in den Berichten ihrer Reporter. Rick Bragg bekannte, dass er etwa 15 Stories mit Hilfe seines Assistenten zu Stande brachte. Inzwischen quittierte Rick Bragg seinen Job bei der New York Times.

Gary Weiss von der "Business Week" hat Verständnis für Rick Bragg, weil es die wichtigste Aufgabe des Journalisten sei, herauszufinden, ob seine Quelle die Wahrheit sagt. Anders das Verhalten von Jayson Blair. Dessen Verhalten unterscheide sich nicht von den Betrügereien an der Wallstreet, wo die Broker jung, charming und unmoralisch sind. Dass der gestrauchelte Journalist auch noch im "The New York Observer" zu Wort kommt und damit prahlt, wie er die New York Times angeschmiert hat, ist Nestbeschmutzung. "Blair," so meint Gary Weiss, "wäre besser bei den Kriminellen von der Wall Street aufgehoben. That's because Blair wasn't a journalist at all."

Die Washington Post brachte seit Mitte Mai nahezu 30 Beiträge zu dem brisanten Thema. "Die New York Times setzt den Standard", schreibt Michael Kinsley, "deshalb ist es nicht Schadenfreude, sondern alarmierend." Seit 152 Jahren ist "The New York Times" eine Institution. Sie steht nach "USA Today" und "Wall Street Journal" auf Platz 3 der führenden amerikanischen Tageszeitungen (Jahr 2001) mit einer Auflage von 1,1 Millionen verkauften Exemplaren.

In Wirklichkeit erreicht die New York Times Company mehr als doppelt so viele Leser, weil der "Boston Globe" und weitere 22 Tagesblätter zum Konzern gehören und aus der Zentrale gespeist werden. Dazu kommen etwa 350 landesweite lokale Zeitungen, die Beiträge der New York Times übernehmen. Die Artikel und Kommentare sind am Puls der Zeit und persönlich im Vergleich zu den Meldungen der Presseagenturen Reuters, Associated Press, u.a.. Eine solide Recherche war das Markenzeichen der New York Times, für die 380 Journalisten tätig sind. Der Herausgeber der "Rocky Mountain Press" beispielsweise bot seinen Lesern bisher unkritisch die überregionalen und internationalen Informationen an. In einer Gesprächsrunde mit Jim Lehrer bekannte er nun, dass er nach der Jayson Blair-Affäre bereits einen NYT-Beitrag gestrichen hat, weil der ihm nicht glaubwürdig vorkam.

In den Vereinigten Staaten, wo der "Readers Digest" (12 Millionen Abonnenten) mit Abstand zum meistgelesenen Magazin gehört, zählt für einen aufstrebenden Journalisten die öffentliche Anerkennung seines Schreibstils. Die New York Times ist seit langem der Teig, aus dem die Pulitzer-Gewinner geformt werden. Allein im Vorjahr kamen sieben Preisträger von der New York Times. Da im Zeitungsgeschäft der Name des Hauses darüber entscheidet, ob Türen geöffnet werden, findet der NYT-Reporter eher offene Ohren als der Lokalreporter. Andererseits besteht die Gefahr, dass Insider-Informationen von der Regierung oder von Kongressabgeordneten mit Blick auf das potentielle Publikum bewusst lanciert werden. Den richtigen Mix zu finden und die nationale und internationale Präsenz der New York Times halten die Journalisten unter Dauerstress. "Die kurzen Deadlines," so vermutete denn auch Howard Kurtz von der Washington Post, "machen den Reportern der New York Times zu schaffen."

Für Außenstehende ist die Presse der Vereinigten Staaten ein unentwirrbar verzweigtes Netzwerk. Folgt man den nunmehr allerorts geführten Diskussionen mit der Forderung nach dem Großreinemachen, drängt sich der Verdacht auf, dass nicht nur die New York Times von Missständen betroffen ist. In den aktuellen News von Jim Lehrer, der zu den wenigen unabhängigen Fernsehreportern mit eigener Sendung zählt, brachte die Diskussion um den Vertrauensverlust der Bevölkerung ein altbekannte Forderung zu Tage: mehr Kontrolle durch Gegencheck. Ein Ombudsmann muss her, die Kritik an Artikeln systematisiert und der Vergleich mit den Protokollen möglich sein, die dem Bericht zugrunde liegen.

Gute Journalisten sind Künstler des Wortes. Die Wortwahl, die Präsentation der Argumente, die Selektion, all das erzeugt in der Summe ein Stimmung, auch wenn es sich durchgehend um nachprüfbare Tatsachen handelt. Der aufmerksame Leser weiß in der Zusammenschau mit seinen anderen Quellen sehr wohl zu unterscheiden, wo der Tenor eines Blattes liegt.

Weil Objektivität ein zweischneidiges Schwert ist, liegt die Lösung in der konkurrierenden Vielfalt von Berichten. Das bedeutet weniger Zusammenschlüsse zu übermächtigen Pressehäusern und idealerweise die Trennung von Printmedien, Fernsehen und Radio. Wie sehr die Printmedien verbandelt sind, beweist der Aufschrei um die Ereignisse bei der New York Times. Bald wird die Konzentration des amerikanischen Fernsehmarktes auf wenige Große zusammenschrumpfen. Ein Gesetz aus den 60er Jahren, das kleine lokale Sender schützt, soll noch in diesem Jahr gekippt werden (In den USA soll die Medienkonzentration gefördert werden).