Nizza: Rätsel um die schnelle Radikalisierung

Der Anschlagsort in Nizza. Foto: Michel Abada/CC BY-SA 4.0

Erweiterter Suizid oder Terror-Akt? Auch Experten zweifelten an einer schnellen Einordnung. Seit dem IS-Bekenntnis ist der Blick wieder klar auf Terror gerichtet

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Die politische Spitze hatte sich schnell festgelegt. Es war ein terroristisches Attentat, das könne "nicht geleugnet werden", sagte Staatspräsident Hollande in den frühen Morgenstunden nach dem Massenmord in Nizza (Attentat in Nizza: Ein Lastwagen als Waffe). Auch Premierminister Valls erklärte sehr bald, dass der "Terrorist von Nizza ohne Zweifel mit dem radikalen Islam in Verbindung steht".

Innenminister Cazeneuve widersprach ihm bei einem gemeinsamen Fernsehauftritt am vergangenen Freitag: Es sei zu früh, dies zu behaupten. Nach gegenwärtigem Informationsstand sei es unsicher, ob der Fahrer des Kühllasters, der 84 Menschen zu Tode brachte und mehrere in einen kritischen Zustand zwischen Leben und Tod, eine Verbindung zum radikalen Islam hatte. Den Geheimdiensten sei nichts dergleichen bekannt (Nizza: Nur eine Verzweiflungstat als erweiterter Selbstmord?).

Suche nach Komplizen

Am Samstag bekannte sich der IS über seinen Mediendienst Aqma zur Tötungsaktion in Nizza (IS bekennt sich zu Massaker in Nizza). Der Fahrer des Lastwagens sei ein Soldat des IS gewesen. Nach Aussagen von Experten sei laut bisherigen Gebahrens des IS zu erwarten, dass von dieser Seite Material vorgelegt werde, um die Verbindung zu bestätigen.

Indessen suchen auch die französischen Ermittler nach Indizien, welche die Verbindung der monströsen Tat zum Dschihad belegt. Mittlerweile sind sie laut Medienberichten davon überzeugt, dass Mohamed Lahouaiej Bouhlel seine Attacke mit Hilfe von Komplizen mit Vorbedacht durchgeführt habe.

Als Indiz für ein planmäßiges Vorgehen wird vom ermittelnden Staatsanwalt François Molins vorgebracht, dass Bouhlel den Lastwagen bereits am 4. Juli gemietet habe und Reparaturarbeiten verrichtet habe. Er wollte "sicher sein, dass er ein Maximum an Opfern auf seinem vorherbedachten Kurs hinterlasse", interpretiert der Figaro. Woher der Figaro die Sicherheit dieser Folgerung zieht, wird nicht weiter begründet.

Dass er sich die Strecke seiner Fahrt genau angeschaut hat, zeigen Aufnahmen von Überwachungskameras. Sie datieren laut Europe 1 von den Tagen zuvor, vom 12. und vom 13.Juli.

Sieben Personen aus der Umgebung des von Polizeischüssen getöteten Fahrers sollen sich in Gewahrsam der ermittelnden Behörde, dem Inlandgeheimdienst (DGSI), befinden. Als heiße Spur wurde verbreitet, dass Mohamed Lahouaiej-Bouhlel kurze Zeit vor seiner Fahrt via SMS um Waffennachschub gebeten habe, dabei soll er sich darüber gefreut haben, dass er bereits an eine Pistole gekommen sei.

Ob sich der Adressat der SMS unter den Festgenommenen befindet, wird zwar angedeutet, steht aber nicht fest. Angedeutet deshalb, weil er die Pistole angeblich von einem Paar aus Albanien bekommen hat, das festgenommen wurde. Ob aber die SMS auch an dieses Paar ging, ist verlässlich aus den Medienberichten nicht zu schließen. Es heißt aber, dass eine Person unter den Festgenommenen telefonischen Kontakt zu dem Mann hatte.

Viel Geld nach Hause geschickt -"Keine finanzielle Probleme"

Was bei der Nachbearbeitung des Geschehens enorm auffällt, ist, wie sehr sie vom Blick abhängt, der darauf gerichtet wird. Ein Beispiel dafür, dass dies keine bloße Wiedergabe einer Binsenweisheit ist. So berichtet der französische Sender Europe 1 davon, die Ermittlungen hätten ergeben, dass Lahouaiej-Bouhlel in den Tagen vor der "Todesfahrt" mehrmals Geld von einem Bankomaten abgehoben habe, drei Mal um die 500 Euro, zudem habe er sein Auto verkauft. Er brauchte Geld. Der Artikel bringt in Zusammenhang damit, dass dies zu den Vorbereitungen des Anschlags gehöre, weshalb der Leser versucht ist, darüber zu spekulieren, ob er sich mit dem Geld Waffen besorgt habe.

Der britische Independent berichtet davon, dass Lahouaiej-Bouhlel Geld in Höhe von umgerechnet 84.000 Pfund an seine Familie in Tunesien überwiesen habe - in den Tagen vor seinem Angriff auf die Menschenmenge in Nizza. Die Zeitung beruft sich dabei auf Aussagen seines Bruders in Tunesien, die wiederum in einer britischen Boulevardzeitung veröffentlicht wurden. Das Geld sei in kleinen Summen von rückkehrenden Dorfbewohnern überbracht worden.

Die hohe Geldsumme wird in sozialen Netzwerken als Indiz dafür gewertet, dass die ständige Referenz bei der Ursachenbetrachtung des Dschihadismus/Terrorismus auf die miserablen Bedingungen in den Banlieues und Problemen bei der Integration irreführend sei. Laut Independent hat der Mann ja augenscheinlich nicht unter finanziellen Problemen gelitten.

Tatsächlich zeigt sich beim Blick auf die Randbezirke der französischen Gesellschaft ein Phänomen der deutschen Berichterstattung. Auch heute Morgen wurde beim Radiosender BR2 über Zusammenhänge des Phänomens der Anschläge in Frankreich mit den quartiers sensibles gesprochen. Am Freitag- Abend, so schien es, war dies ein großer Fokus der vielen Brennpunkte im TV-Programm.

Der IS bekenne sich "nicht opportunistisch"

Indessen stehen in den französischen Medien nicht mehr Gilles Kepel, ein Soziologe, der als Experte der Banlieues gilt, oder Olivier Roy, der sich viel mit der Integration von Muslimen beschäftigt, im Vordergrund der befragten Experten, sondern Kenner der dschihadistischen Szene, David Thomson oder Wassim Nassr. Ein Leitmotiv bei ihnen: Ungeachtet der Herkunft kann sich jeder zum Dschihad berufen fühlen, das Spektrum ist groß. Gefragt sind sie bei den französischen Medien, weil sie über gute Verbindungen ins Milieu der "Berufenen" verfügen.

Interessant ist nun, dass auch bei David Thomson mit der Zeit Zweifel daran aufkamen, ob es sich bei dem Kühlwagenmassaker um einen erweiterten Selbstmord handelte oder um einen Anschlag mit IS-Hintergrund. Als aber dann die Bekennernachricht vom IS-Medium Aqma kam, waren die Zweifel ausgeräumt und die Blickrichtung klar.

An der Authentizität der Nachricht gebe es nichts rütteln, zumal die Bestätigung der Beanspruchung der Tat für den IS auch in anderen bekannten mit dem IS verbundenen Nachrichtenorganen zu lesen war. Es handle sich um einen IS-Anschlag, wenn der IS dies auf seine Fahnen schreibe, so Thomson. Dann nämlich müsse eine Verbindung vorliegen.

Auch Wassim Nassr folgt dieser Sicht. Wenn der IS einen Anschlag als Tat eines "Soldaten des IS" validiere, so würden bald Nachweise dafür vorgebracht werden. Es gebe eine Verbindung, andernfalls würde der IS den Akt vielleicht "begrüßen", wie er dies in anderen Fällen gemacht habe, aber niemals ausdrücklich als Tat eines IS-Soldaten für sich reklamieren.

Beide vertreten die Überzeugung, dass der IS dabei nicht opportunistisch vorgehe. Dagegen spreche, dass der IS mehrmals die Gelegenheit dazu hatte, zuletzt beim Absturz des ägyptischen Flugzeugs, um todbringende Geschehnisse zu vereinnahmen, auch bei Anschlägen in den USA, dies aber nicht tat.

"Radicalisation rapide"

Damit konfrontiert, dass Lahouaiej-Bouhlel augenscheinlich der Aussagen von Familienmitgliedern, Nachbarn. Bekannten oder Ärzten wenig Zeichen einer ausgeprägten muslimischen Frömmigkeit gab - er trank, kiffte, ging nicht beten, aß Schweinefleisch -, stattdessen aber handfeste Indizien für eine aufbrausende Gewalttätigkeit und Zeichen für eine mentale Verstörung, konterten die Experten mit der Erklärung, dass es sich in diesem Fall um eine "sehr rasche Radikalisierung" handelte. Das sei möglich, wie viele Fälle auch in der Vergangenheit zeigten.

Geht es nach bekannten Fakten muss die Radikalisierung innerhalb kürzester Zeit geschehen sein, dem Mann sei nicht mal ein richtiger Bart gewachsen, heißt es bei Le Monde. Libération berichtet, dass er noch während des jüngst zu Ende gegangenen Ramadan tagsüber öffentlich Kaffee getrunken habe, ohne dem Bedeutung beizumessen.

Mittlerweile folgt auch die politische Spitze Frankreichs, einschließlich des Innenministers Cazeneuve, dieser Ansicht. Das Wort von der radicalisation rapide ist überall. Nur ein anderer Terrorexperte gibt zu bedenken, dass es angemessener sei von einer schnellen Konversion zu sprechen - um "in eine Sekte einzutreten".

Laut Wassim Nassr spiele es für die Dschihadisten keine Rolle, ob der Attentäter unter geistigen Störungen gelitten habe, die Person selbst sei nicht mehr wichtig, wichtig sei, dass die Organisation insgesamt einen Erfolg verbuchen könne. Die Dschihad-Handschrift sei ja gut erkennbar.