Noam Chomsky über den gefährlichsten Punkt in der Geschichte der Menschheit
Seite 2: Wie globale und soziale Ordnungssysteme attackiert wurden
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Als globaler Hegemon sind die USA die einzige Macht, die in der Lage ist, Sanktionen zu verhängen. Es handelt sich dabei um Sanktionen von einer dritten Partei, denen andere gehorchen müssen. Und sie gehorchen, selbst wenn sie die Sanktionen entschieden ablehnen.
Ein Beispiel sind die US-Sanktionen, die Kuba strangulieren sollen. Sie werden von der ganzen Welt abgelehnt, wie wir an den regelmäßigen Abstimmungen in der Uno sehen. Aber sie werden befolgt.
Als Clinton noch schärfere Sanktionen als zuvor verhängte, rief die Europäische Union die WTO an, um die Rechtmäßigkeit dieser Sanktionen zu prüfen. Die USA zogen sich wütend aus dem Verfahren zurück und erklärten es für null und nichtig.
Dafür gab es einen Grund, wie Clintons Handelsminister Stuart Eizenstat erklärte: "Herr Eizenstat argumentiert, dass Europa 'drei Jahrzehnte amerikanischer Kuba-Politik, die auf die Kennedy-Regierung zurückgeht', infrage stellt und ausschließlich darauf abzielt, einen Regierungswechsel in Havanna zu erzwingen."
Kurz gesagt, Europa und die WTO sind nicht befugt, das langjährige US-Projekt des Terrors und der wirtschaftlichen Strangulierung zu beeinflussen, die darauf abzielt, die kubanische Regierung gewaltsam zu stürzen, also sollen sie sich verziehen.
Die Sanktionen haben Vorrang und Europa muss sich an sie halten – und tut es auch. Ein klares Beispiel für das Wesen der auf Regeln basierenden Ordnung.
Es gibt viele weitere Beispiele. So entschied der Internationale Gerichtshof, dass das Einfrieren iranischer Vermögenswerte durch die USA illegal ist. Praktisch keine Reaktion darauf.
Das ist nachvollziehbar. Im Rahmen des regelbasierten Systems hat der globale Vollstrecker ebenso wenig Grund, sich Urteilen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) zu beugen wie den Entscheidungen der WTO. Das wurde bereits vor Jahren festgestellt.
1986 zogen sich die USA aus der Rechtsprechung des IGH zurück, als dieser die USA für ihren Terrorkrieg gegen Nicaragua verurteilte und sie zur Zahlung von Reparationen aufforderte. Die USA reagierten darauf mit einer Eskalation des Krieges.
Um ein weiteres Beispiel für das auf Regeln basierende System zu nennen: Die USA zogen sich als einziges Land aus dem Verfahren des Gerichtshofs zurück, der die Anklagen Jugoslawiens gegen die Nato prüfte. Sie argumentierten mit dem korrekten Hinweis, dass Jugoslawien von Völkermord sprach und die USA sich selbst vom internationalen Vertrag zum Verbot von Völkermord ausgenommen hatten.
Man könnte so weiter fortfahren. Es ist schnell einzusehen, warum die USA das auf den Vereinten Nationen basierende System zurückweisen, da es ihre Außenpolitik unmöglich machen würde, und ein System bevorzugen, in dem sie selbst die Regeln festlegen und sie nach eigenem Gutdünken außer Kraft setzen können. Warum die USA eine unipolare gegenüber einer multipolaren Ordnung bevorzugen, muss nicht diskutiert werden.
All diese Überlegungen sind von entscheidender Bedeutung, wenn es um globale Konflikte und Bedrohungen des Überlebens geht.
Alle Gesellschaften haben in den letzten 50 Jahren dramatische wirtschaftliche Veränderungen erlebt, allen voran China, das sich innerhalb weniger Jahrzehnte von einer Agrargesellschaft zu einem industriellen Kraftzentrum entwickelt hat und dabei Hunderte von Millionen Menschen aus der Armut befreit hat. Das heißt aber nicht, dass das Leben unbedingt besser als in der Vergangenheit ist. In den USA beispielsweise hat die Lebensqualität in den letzten zehn Jahren abgenommen, und auch in der Europäischen Union ist die Lebenszufriedenheit gesunken. Befinden wir uns in einer Phase, in der wir den Niedergang des Westens und den Aufstieg des Ostens erleben? In jedem Fall scheinen viele Menschen zu glauben, dass der Aufstieg der Rechtsextremen in Europa und den Vereinigten Staaten mit der Wahrnehmung des Niedergangs des Westens zusammenhängt. Der Aufstieg der Rechtsextremen ist jedoch ein globales Phänomen, das von Indien und Brasilien bis nach Israel, Pakistan und auf die Philippinen reicht. Sogar im chinesischen Internet haben die Rechtsextremen eine Heimat gefunden. Was ist also los? Warum erleben Nationalismus, Rassismus und Extremismus ein so großes Comeback auf der Weltbühne?
Noam Chomsky: Es gibt ein Zusammenspiel vieler Faktoren, von denen einige spezifisch für bestimmte Gesellschaften sind, zum Beispiel die Demontage der säkularen Demokratie in Indien, wo Premierminister Narendra Modi sein Projekt verfolgt, eine harte, rassistische Hindu-Ethnokratie zu errichten. Das ist eine Besonderheit Indiens, wenn auch nicht ohne Entsprechungen in anderen Ländern.
Es gibt einige Faktoren, die ziemlich weitreichend sind und vergleichbare Konsequenzen haben. Einer davon ist die radikale Zunahme der Ungleichheit in weiten Teilen der Welt als Folge der neoliberalen Politik, die von den USA und Großbritannien ausgeht und sich darüber hinaus auf verschiedene Weise ausbreitet.
Die Studie der Rand Corporation schätzt, dass während der neoliberalen Jahre fast 50 Billionen Dollar an Reichtum von den Arbeitern und der Mittelschicht – den unteren 90 Prozent des Einkommens – an das obere eine Prozent übertragen wurden. Weitere Informationen finden sich in den Arbeiten von Thomas Piketty und Emmanuel Saez, die der politische Ökonom Robert Brenner übersichtlich zusammengefasst hat.
Der neoliberale Angriff ist ein wichtiger Faktor für den Zusammenbruch der sozialen Ordnung, der viele Menschen wütend, desillusioniert, verängstigt und verächtlich gegenüber Institutionen macht, die ihrer Meinung nach nicht in ihrem Interesse arbeiten.
Die grundlegende Schlussfolgerung ist, dass während des …
Nachkriegsbooms die Ungleichheit tatsächlich abnahm und nur sehr wenig Einkommen in die obersten Einkommensschichten floss. Während des gesamten Zeitraums von den 1940er- bis Ende der 1970er-Jahre erhielten das oberste eine Prozent der Einkommensbezieher neun bis zehn Prozent des Gesamteinkommens, nicht mehr. Aber in dem kurzen Zeitraum seit 1980 ist ihr Anteil, d. h. der Anteil des obersten einen Prozent, auf 25 Prozent gestiegen, während die unteren 80 Prozent praktisch keine Zuwächse verzeichnen konnten.
Das hat eine Reihe von Konsequenzen. Eine davon ist die Verringerung der produktiven Investitionen und der Übergang zu einer Rentenökonomie, in gewisser Weise ein Rückfall von der kapitalistischen Produktionsinvestition zur feudalen Produktion von Reichtum, also nicht von Kapital. Marx nannte es "fiktives Kapital".
Eine weitere Folge ist der Zusammenbruch der sozialen Ordnung. In ihrem prägnanten Werk "The Spirit Level" zeigen Richard Wilkinson und Kate Pickett einen engen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und einer Reihe von sozialen Störungen auf. Ein Land fällt aus dem Rahmen, die USA: sehr hohe Ungleichheit, aber noch größere soziale Unordnung, als es die Korrelation erwarten lässt.
Es ist das Land, das den neoliberalen Angriff angeführt hat – offiziell verkauft wurde das als Politik der kleinen Regierung mit Betonung des Markts. In der Praxis funktionierte das Ganze radikal anders, als verbissener Klassenkampf von oben, der alle verfügbaren Mittel dafür nutzt.
Die aufschlussreiche Arbeit von Wilkinson-Pickett wurde seither fortgeführt, zuletzt in einer wichtigen Studie von Steven Bezruchka. Es scheint sich zu bestätigen, dass Ungleichheit ein Hauptfaktor für den Zusammenbruch der sozialen Ordnung ist.
Im Vereinigten Königreich hat die harte Sparpolitik ähnliche Auswirkungen, die in vielerlei Hinsicht auf andere Länder übergehen. In der Regel sind die Schwachen am stärksten betroffen.
Lateinamerika hat in zwei verlorenen Jahrzehnten unter der zerstörerischen Strukturanpassungspolitik gelitten. In Jugoslawien und Ruanda verschärfte diese Politik in den 80er-Jahren die sozialen Spannungen und trug zu den nachfolgenden Gräueln bei.
Manchmal wird behauptet, die neoliberale Politik sei ein großer Erfolg gewesen. Es wird auf den schnellsten Rückgang der weltweiten Armut in der Geschichte verwiesen. Dabei wird jedoch übersehen, dass diese bemerkenswerten Erfolge in China und anderen Ländern erzielt wurden, die die neoliberalen Grundsätze entschieden ablehnten.
Darüber hinaus war es nicht der "Washingtoner Konsens", der US-Investoren dazu veranlasste, die Produktion in Länder mit deutlich billigeren Arbeitskräften und eingeschränkten Arbeitsrechten sowie Umweltauflagen zu verlagern und damit Amerika zu deindustrialisieren, mit den bekannten Folgen für die arbeitende Bevölkerung.
Auch gab es andere Optionen. Studien der Arbeiterbewegung und des eigenen Forschungsbüros des Kongresses (OTA, inzwischen aufgelöst) boten praktikable Alternativen, wovon Arbeiter weltweit hätten profitieren können. Aber sie wurden verworfen.
All das bildet einen Teil des Hintergrunds für die Phänomene, die Sie beschreiben. Der neoliberale Angriff ist ein wichtiger Faktor für den Zusammenbruch der sozialen Ordnung, der viele Menschen wütend, desillusioniert, verängstigt und verächtlich gegenüber Institutionen macht, die ihrer Meinung nach nicht in ihrem Interesse arbeiten.
Ein wesentliches Element des neoliberalen Angriffs besteht darin, den betroffenen Gruppen die Mittel für ihre Verteidigung zu entziehen. US-Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher eröffneten die neoliberale Ära mit Angriffen auf die Gewerkschaften, die Hauptverteidigungslinie der arbeitenden Menschen gegen den Klassenkampf.
Sie öffneten auch die Tür für die oft illegalen Angriffe der Unternehmen auf die Arbeitnehmer. Aber die Illegalität hatte keine Konsequenzen, da der Staat, den sie weitgehend kontrollieren, wegschaute.
Die wichtigste Verteidigung im Klassenkampf ist eine gebildete, informierte Öffentlichkeit. Das öffentliche Bildungswesen wurde in den neoliberalen Jahren hart angegriffen: drastische Kürzungen der Mittel, Geschäftsmodelle, die billige und leicht zu ersetzende Arbeitskräfte (Hilfskräfte, Doktoranden) anstelle von Lehrkräften bevorzugen, Modelle, die auf Tests abzielen und kritisches Denken und Forschen untergraben, und vieles mehr.
Am besten ist es, wenn die Bevölkerung passiv, gehorsam und zerstreut ist, selbst wenn sie wütend und verärgert ist, und somit eine leichte Beute für Demagogen darstellt, die es verstehen, die hässlichen Strömungen anzuzapfen, die in jeder Gesellschaft nicht allzu weit unter der Oberfläche verlaufen.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Common Dreams. Hier finden Sie das englische Original. Übersetzung: David Goeßmann.
Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews: "Chomsky: Was passiert, wenn Befehlen aus Washington nicht gefolgt wird?"
Noam Chomsky (geb. 1928) ist emeritierter Professor für Linguistik und Philosophie am MIT, Lehrstuhlinhaber für Linguistik an der Universität von Arizona, wo er auch das Programm für Umwelt- und soziale Gerechtigkeit leitet. Chomsky ist einer der meistzitierten Wissenschaftler der modernen Geschichte und kritischer Intellektueller, der von Millionen von Menschen weltweit rezipiert wird. Er hat mehr als 150 Bücher, wissenschaftliche Standardwerke und viele Bestseller in den Bereichen Linguistik, politisches und soziales Denken, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und Weltpolitik sowie Klimawandel veröffentlicht. Zusammen mit Vijay Prashad ist von ihm gerade erschienen: "The Withdrawal. Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power".