Österreich "Das Regime Kurz ist nach wie vor an der Macht"

Ehemaliger Grünen-Politiker ohne Illusionen: Peter Pilz.

Das nationalpopulistische Projekt Österreichs, der "Bundesstrohmann" und der eigentliche Kanzler. Ein Interview mit Peter Pilz

In Österreich ist Kanzler Sebastian Kurz "beiseite getreten", wie er sich selbst ausdrückt. Einen Rücktritt scheint es in der Welt des vielbestaunten Polit-Talents nicht zu geben. In der neu ausgerichteten ÖVP ist jedoch längst nicht alles Gold, was glänzt. Peter Pilz, Journalist, Politiker (ab 1986 für die Grünen und später für seine Liste "Pilz") und Herausgeber des Online-Mediums ZackZack.at, beschreibt in seinem Buch "Kurz - Ein Regime" (Kremayr & Scheriau) die Langzeitstrategie einer skrupellosen Politik, mit der eine Volkspartei zu einer nationalpopulistischen Kraft umgebaut wird. Mit dem Hauptziel, die Macht im Staate zu erlangen und zu halten. Sachpolitik interessiert da wenig. Vielmehr entspinnt sich ein filmreifes Netz aus Intrigen.

Kanzler Kurz ist "beiseite getreten", wie er es selbst ausdrückt. Ist damit das Regime Kurz zu Ende?
Peter Pilz: Nein, das Regime Kurz ist nach wie vor an der Macht. Der jetzige Kanzler Alexander Schallenberg ist nichts anderes als der Bundes-Strohmann des eigentlichen Bundeskanzlers, und der heißt nach wie vor Sebastian Kurz. Dass sich Kurz jetzt ins österreichische Parlament zurückgezogen hat und da als Klubobmann, das heißt als Fraktionsvorsitzender seiner Partei ÖVP auch den parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den Korruptionsvorwürfen gegen ihn selbst kontrollieren kann, das verschlimmert die Situation eher.
Die eigentlichen Geschäfte des Klubobmanns übernimmt noch ein anderer?
Peter Pilz: Ja. Das hat einen einfachen Grund: Ich habe in Österreich noch nie einen Spitzenpolitiker erlebt, der das Parlament so verachtet wie Kurz. Man merkt, da ist er nicht zuhause. Jetzt wird die österreichische Regierung aus einem Hinterzimmer im ÖVP-Klub geleitet. Österreich tritt jetzt in eine kritische, instabile Phase: Kurz kann eigentlich nicht mehr regieren und kämpft nur noch ums Überleben. Da hat er eine einzige Chance: Wenn er politisch und strafrechtlich überleben will, muss er versuchen, doch noch die ganze Macht an sich zu reißen.
Bei der Lektüre Ihres Buches fragte ich mich immer wieder, was passieren muss, dass in Österreich Spitzenpolitiker von ihren Ämtern zurücktreten?
Peter Pilz: Stellen Sie sich einmal vor, Angela Merkel würde von der Strafjustiz wegen des Verdachts der Bestechung, des Amtsmissbrauchs und der falschen Zeugenaussage verfolgt. Stellen Sie sich vor, Angela Merkel hätte daraufhin versucht, die Staatsanwaltschaft mundtot zu machen und die Staatsanwälte persönlich zu verfolgen. Stellen Sie sich vor, Angela Merkel hielte sich regelmäßig in Berliner Drogenlokalen auf und deren Besitzer wäre ihr enger Freund. Das alles ist in Deutschland undenkbar.
Bei uns haben sich zu viele daran gewöhnt, dass die Verbindungen zwischen gewissen Teilen der Politik und einer dubiosen Geschäftswelt immer enger werden. Die Herrschaften rund um Kurz nennen sich nicht zufällig "Familie". Sebastian Kurz war kein normaler Bundeskanzler. Er ist nach wie vor der Kopf einer zwielichtigen Familie. In Italien würde man sagen, er ist der capo di tutti capi der ÖVP.
Der Oberboss, der Boss der Bosse.
Peter Pilz: Oder wie es in manchen Videospielen heißt: der Endboss.

"Das Einzige, was hier keine Rolle spielt, ist das Alter"

Denken Sie, dass das auch generationsabhängig ist? Auch wenn man die rüde Sprache in den Chatverläufen bedenkt, die aufgrund der Ermittlungen jetzt bekannt wurden?
Peter Pilz: Das Einzige, was hier keine Rolle spielt, ist das Alter. Die Vorbilder von Kurz sind deutlich älter: Putin in Russland, Orbán in Ungarn und Erdogan in der Türkei. Die Strategie ist immer dieselbe: Die Partei übernimmt zuerst die Geheimdienste und die Kriminalpolizei, dann legt sie Justiz und Rechtsstaat lahm, dann kauft sie die wichtigsten Medien über Hunderte Millionen Regierungsinserate und schaltet den Rest durch direkte Interventionen gleich, und dann wird das Parlament stummgeschaltet.
Das ist der russische, der ungarische, der türkische und unter Kurz auch der österreichische Weg. Das Gute an Österreich war, dass es hier Brückenköpfe des Rechtsstaates und der freien Presse gibt, an denen sich Kurz viele Zähne ausgebissen hat. Das Gefährliche an ihm ist nicht seine Jugend, sondern dass er zum ersten Mal in der Europäischen Union aus einer traditionell christdemokratischen Staatspartei eine im Kern anti-europäische und nationalistische Mob-Partei gemacht hat, mit der er versucht hat, ein autoritäres Regime einzurichten.
Sie schreiben in Ihrem Buch auch, dass es Teil der Strategie war, das Profil der FPÖ zu übernehmen, um diese zukünftig als Konkurrenz auszuschalten.
Peter Pilz: Die Übernahme des FPÖ-Programms beobachten wir bei der ÖVP unter Kurz schon seit etlichen Jahren. Das Überraschende war, dass mit dem Regierungseintritt der Grünen im Jahr 2019 eine türkis-grüne Regierung entstanden ist, die eine österreichische Variante der AfD-Politik umsetzt und damit die FPÖ in der Opposition wieder stärker macht. Das ist eine Schande, dass sich die Grünen für so etwas hergeben. Ich habe selbst vor fast vierzig Jahren die Grünen mitgegründet und war mehr als 30 Jahre ihr Abgeordneter. Aber das hätte ich nicht für möglich gehalten.

"Die politischen Spitzen der Grünen sind korrumpiert"

War das dann die Versuchung der Regierungsmacht?
Peter Pilz: Die politischen Spitzen der Grünen sind korrumpiert. Das ist kein Geheimnis. Aber an der Basis rumort es zum Glück ganz gewaltig. Da gibt es noch viele Grüne, die echte Grüne geblieben sind. Ich glaube nicht, dass die grüne Spitze, das auf Dauer durchhalten wird. Die Grünen sind die nächste Sollbruchstelle der Regierung.
War es durch die grün besetzten Ministerien vielleicht noch möglich, dem Kurz-Kurs gegenzusteuern?
Peter Pilz: Alma Zadic ist die grüne Justizministerin. Sie hat sich bislang nicht besonders mutig, aber im Grunde korrekt verhalten. Sie ist sicher auch nicht bereit, die Strafverfahren gegen Kurz und seine Gruppe niederzuschlagen. Das hat jetzt zur Folge, dass die türkise ÖVP um Kurz versuchen muss, die Kontrolle über die Justiz wiederzubekommen. Dazu braucht sie einen türkisen Justizminister. Das geht nicht ohne Neuwahlen. Um seinen Kopf zu retten, muss Kurz also nochmals alles auf eine Karte setzen. Ich glaube, dass die aktuelle Regierung bald brechen wird. Dann werden wir einen harten und schmutzigen ÖVP-Wahlkampf rund um die Zukunft von Kurz erleben. Für Kurz geht es um alles. Daher ist er zu allem bereit.
Für seine erste Kanzlerschaft hat er bereits das Torpedieren geübt. Sogar gegen den Parteikollegen Mitterlehner von der ÖVP, der damals in einer Großen Koalition mit der SPÖ war.
Peter Pilz: Ja, er hat versucht, die Christdemokraten innerhalb der ÖVP zu liquidieren. Das ist ihm weitgehend gelungen. Zwei Regierungen sind bereits durch ihn gescheitert. Jetzt bricht gerade seine dritte Regierung. Aber das Entscheidende ist, dass er die ÖVP als christdemokratische Partei ruiniert hat. Es gibt in Österreich keine nennenswerten Christdemokraten mehr. An ihrer Stelle gibt es ÖVP-Landesfeudalherren und eine Bundespartei, die auf Kurz-Kurs bleibt.
Innerhalb der ÖVP gibt es derzeit keine echte Alternative zu Kurz. Daher muss man beginnen, sich Außergewöhnliches vorzustellen. Wenn Kurz die nächste Wahl gewinnt, bekommt Österreich möglicherweise die erste Fußfessel-Regierung der Welt.
Den Kurz-Kurs beschreiben Sie in Ihrem Buch ausführlich. Er besteht zu großen Teilen aus einer schönen Oberfläche und einer präsentierten Smartness.
Peter Pilz: Das war eine der Grundlinien der Propaganda. Das hatten wir jetzt jahrelang erlebt, dass es bei Kurz-Regierungen ausschließlich um Propaganda geht, um das Erzählen einer Geschichte über ein junges Talent, das alles für Österreich tut und von bösen Mächten wie dem ominösen "Netzwerk roter Staatsanwälte" verfolgt wird.
Dieses völlig faktenfreie Propagandamärchen ist mit großer Begeisterung von den Mitläufern nicht nur in den österreichischen Medien verbreitet worden. Von Kronen Zeitung bis Bild ist "Superstar Kurz" bejubelt worden. Jetzt kann sich plötzlich niemand mehr daran erinnern. Wir müssen uns merken: Die gekauften Massenmedien, die mit gefälschten Umfragen Wahlsiege für Sebastian Kurz herbeischreiben, sind die wichtigsten Komplizen des Systems "Kurz".

"Sektensprache einer verschworenen Bubenpartie"

In der Politik schlägt sich dann im Hinterzimmer auch eine burschenschaftlich-jugendliche Sprache nieder, die mit einer gewissen Arroganz Politik betreibt. Wie beurteilen Sie das?
Peter Pilz: Das ist die Sektensprache einer verschworenen Bubenpartie. Die Kurz-Getreuen bezeichnen sich selbst als seine "Jünger". Die Jünger folgen ihrem Führer auf einem neuen Weg in eine türkise Zukunft. Das ist ein Bild, wie es Leni Riefenstahl fotografiert hätte. So hat Propaganda schon Jahrzehnte vor Kurz funktioniert. Aber wir müssen gerade jetzt aufmerksam bleiben: Kurz war lange nur unser Problem in Österreich. Jetzt bekommen auch Sie ein Kurz-Problem. Wenn wir nach Deutschland schauen, sehen wir künftige CDU/CSU-Spitzen in einem politischen Trümmerfeld.
Die fragen sich, wie es weitergeht. Wenige Tage vor dem Kurz-Sturz in Wien sind ja von dort die ersten Vorschläge gekommen: Machen wir es in Berlin und München so, wie Kurz es in Wien macht. Diese Idee ist nicht tot, sie ist nur momentan unattraktiver. Aber angesichts eines SPD-Kanzlers als Merkel-Erbe ist auch für die deutsche Rechte in CDU und CSU ein AfD-Weg mit gekauften Medien eine einfache Möglichkeit, wieder zurück an die Macht zu kommen.
Ich befürchte, dass sich die CDU/CSU bereits mit dem Kurz-Virus angesteckt hat. Wir wissen von anderen Pandemien, dass man sich entweder rechtzeitigt schützt oder ein großes Problem bekommt.
Um im Bild zu bleiben: Es kommt auch auf die Immunisierung der Politiker an.
Peter Pilz: Wir wissen heute aufgrund der Erfahrung der letzten Jahre, dass es dafür einige wichtige Voraussetzungen gibt: Erstens - ein Kurz-artiges Virus muss in einer Partei ausgebrütet werden. Das ist in der ÖVP passiert. Zweitens - das politische Virus muss die Oberhand gewinnen. Drittens - das Virus muss hochansteckend sein und alle Grenzen überwinden. Bei Covid-19 wussten wir zu spät, was da aus Wuhan gekommen ist. Bei Kurz wissen wir rechtzeitig: Das kommt aus der ÖVP aus Wien. Das liegt jetzt an Deutschland und an uns in Österreich, diese nationalpopulistische Pandemie einzudämmen und zu besiegen.
Welche Mittel sehen Sie da? Problematisch scheint die Presseförderung, die die Presse auf Linie bringen kann.
Peter Pilz: Ein großer Teil der österreichischen Medien ist schlicht und einfach gekauft. Grundsätzliche Kritik am Kurz-System wurde bis vor kurzem nicht geduldet. Da sitzen vom ORF bis zum Zeitungs-Boulevard überall Mitläufer. Da sind Dutzende Posten und Hunderte Millionen Steuergeld verteilt worden. Große österreichische Zeitungen ähneln heute Patienten auf einer Intensivstation. Sie hängen am Inseratentropf und verlangen ständig nach einer größere Dosis. Die Kurz-Inseratendealer haben Medien in Österreich inseratensüchtig gemacht.
Jetzt müssten wir hergehen und einen Schnitt machen. Wir müssen die Inseratenwerbung der Bundesregierung auf einem niedrigen Niveau gesetzlich einfrieren. Wir müssen Garantien haben, dass alle Ibiza-Strafverfahren ungehindert geführt werden. Wir müssen Delikte wie illegale Parteienfinanzierung oder Spendenwäsche nach dem Vorbild Deutschlands mit hohen Freiheitsstrafen bedrohen. Wir müssen den ORF befreien und unabhängig machen, denn der ORF ist heute weitgehend ein Regierungsfernsehen.
Das alles kann nur eine Regierung umsetzen, aus der die ÖVP ausgeschlossen ist. Daher müssen sich alle Parteien von der SPÖ bis zur FPÖ darauf einigen, mit diesem Programm eine kurze Übergangsregierung zur Vorbereitung fairer Wahlen zu bilden und dann möglichst schnell wählen zu lassen. Dann gibt es eine große Entscheidung, wohin Österreich geht. Ich halte das für eine Chance, um die uns Ungarn, Russen, Polen und Türken zurecht beneiden.
Da stellt sich die Frage, wie die Wähler entscheiden werden. Vielleicht wieder zugunsten der türkisen ÖVP?
Peter Pilz: Das wissen wir nicht. Das ist Demokratie: Wir können nicht das Wahlergebnis vorbestimmen, aber wir können faire Verhältnisse schaffen und dafür sorgen, dass die ÖVP nicht wieder mit gefälschten Umfragen und mit gekauften Medien eine Wahl gewinnt. Die ÖVP hat die beiden letzten Nationalratswahlen nicht gewonnen, sondern gekauft. Das darf nicht mehr passieren.
In den Chats der Kurz-Gruppe wird ein Verständnis von Politik deutlich, das auf Ehrlichkeit keinen Wert mehr legt.
Peter Pilz: In Österreich wird seit vielen Jahren politische Gaunerei belohnt. Wenn das nicht abgestellt wird, werden weiterhin Parteien wie die ÖVP an der Macht bleiben. Jetzt geht es erst einmal um Pressefreiheit und Rechtsstaat. Das ist das Wichtigste.
Sie sind bereits an einem neuen Buch dran, das mit dem Drogenmilieu der Hauptstadt zu tun hat. Das sind heikle Themen. Wie sicher sind Sie momentan in Österreich?
Peter Pilz: Gerade ist mein Briefkasten aufgebrochen worden. Unser ZackZack-Server ist nach der Veröffentlichung der Kurz-Hausdurchsuchungsanordnung massiv angegriffen und stundenlang lahmgelegt worden. Ich habe mit "Kurz ein Regime" einen Bestseller geschrieben, der vielen die Augen geöffnet hat. Mit ZackZack.at habe ich eine Online-Tageszeitung gegründet, die wunderbar erfolgreich ist.
Wir sind das erste Boulevardmedium, das eine große Reichweite hat und nicht weit rechts steht. Wir sind der Gegenverkehr am Boulevard. Die Antwort sind Millionenklagen von Oligarchen wie René Benko, die Kurz nahestehen. Diese Gerichtsverfahren sollen uns mundtot machen. Also müssen wir sie gewinnen. Es geht um ein einfaches Prinzip: Wenn die alten Medien versagen, muss man neue gründen. Und das tun wir. Wir sind erfolgreich und deshalb werden wir auch mit allen Mitteln bekämpft.
Die Absurdität zeigt sich auch in der Anzeige der Oberstaatsanwaltschaft Wien gegen die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft. Was war da eigentlich los?
Peter Pilz: Die Ibiza-Affäre führte 2019 zu Ermittlungen der WKStA. In der ÖVP merkte man, das wird bald brandgefährlich. Es musste etwas getan werden. Wenn es den Freunden der ÖVP gelungen wäre, die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft kaltzustellen, dann hätte sie mit verlässlichen Freunden in der Justiz die Ermittlungen von der ÖVP weglenken können. Die WKStA hat diesen Angriff abgewehrt. Kurz hat diese Auseinandersetzung verloren. Das war ganz entscheidend für seinen Sturz.
Zum Glück sind die scheinbar gelöschten Dokumente ja erhalten geblieben. Da stellt sich die Frage, warum sie nicht professionell gelöscht werden konnten?
Peter Pilz: Mich hat es auch immer verwundert, wie eine Gruppe von Handy-versessenen Kurz-Jüngern nicht einmal weiß, wie Handys, Festplatten und Clouds funktionieren. Die dilettantischen Löschungen haben zugelassen, dass die Experten der WKStA das Ganze wieder lesbar machen konnten. Die zahlreichen Löschversuche zeigen, dass hier ständig versucht worden ist, Spuren zu verwischen. Das ist misslungen und das ist auch gut so. Diese Runde hat der österreichische Rechtsstaat gegen Kurz und die ÖVP gewonnen.
Danke für das aufschlussreiche Gespräch, Herr Pilz.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.