Olympische Spiele, Paris 2024: Deutscher Burnout

Hand mit Goldmedaille vor deutscher Flagge

Bild: Niyazz /Shutterstock

Medaillenspiegel: Der deutsche Sport im Abstieg – Vielleicht ist es ja gar nicht weiter schlimm, dass die Deutschen kaum mehr Medaillen gewinnen. Aber woran liegt es? Kommentar.

Sport ist ein Symptom, der Spiegel der mentalen Situation einer Gesellschaft. Die Frage stellt sich: Ist das bislang schlechte Abschneiden der deutschen Sportler bei den Olympischen Spielen in Paris ein Symptom für die Misere eines ganzen Landes, für eine Lage aus Handlungsblockade und falscher Selbstzufriedenheit, der Unfähigkeit zum Umdenken und Verändern? Ein Symptom des Burnouts der deutschen Gesellschaft?

"Vierter ist erster Verlierer"

"Noch ist alles möglich", sagen die deutschen Fernseh-Reporter seit einer Woche gern, wenn bei den Olympischen Sommerspielen wieder einmal eine deutsche Tischtennisspielerin oder eine Herrenmannschaft mehrere Matchbälle gegen sich hinnehmen muss. Und kurz danach verlieren sie dann.

Wir sehen einen Tischtennisspieler, der vier Satzbälle hintereinander vergeigt und nach 3:1 Satzführung noch 3:4 verliert. Wir sehen klassische Sportarten, in denen die Deutschen über Jahrzehnte zur Weltspitze gehörten, wie Reiten oder Fechten oder Turnen und in denen sie heute keine Rolle mehr spielen.

Die Leichtathletik-Wettbewerbe haben erst begonnen. Auch hier dürfte es jenseits herausragender Einzelleistungen – Weitsprung, Zehnkampf – nicht viel besser aussehen.

Wie oft die deutschen Athleten stattdessen Vierter oder Fünfter werden, und wie oft sie dann ihre Zufriedenheit kundtun! Nur selten erlebt man eine Athletin wie die Schwimmerin Angelina Köhler, die unter Tränen im Fernsehen schluchzte: "Vierter ist erster Verlierer." So sehen es offenbar aber nur die Wenigsten.

Medaillenspiegel: So schlecht wie nie

Dabei steht längst fest: Die Deutschen sind bei dieser Olympiade bislang so schlecht wie noch nie. Seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten befindet sich der deutsche Sport im Abstieg. Hatten die Deutschen bei der Olympiade 1992 in Barcelona wie auch bei der darauffolgenden in Atlanta noch den dritten Platz belegt und Goldmedaillen gewonnen, so gelang es ihnen nach Atlanta nie mehr, auch nur 20 Goldmedaillen zu gewinnen.

Einige Jahre lang pendelte man im Medaillenspiegel noch zwischen Platz fünf und sechs. Bereits bei der letzten Olympiade in Tokio reichte es nur zu Platz neun und auch dieses Ziel dürfte die deutsche Mannschaft in diesem Jahr verfehlen.

Und nicht nur das Ranking im Medaillenspiegel und die Zahl der Goldmedaillen, sondern auch die Gesamtzahl der Medaillen geht kontinuierlich zurück: von 82 im Jahr 1992 auf 37 im Jahr 2021. Würde Deutschland diese Zahl in Paris noch erreichen, wäre dies schon ein Erfolg.

Im augenblicklichen Stand des Medaillenspiegels liegt Deutschland mit nur zwölf Medaillen auf Platz zehn.

Dass das nicht genügen und zufriedenstellen kann, zeigt ein Blick auf den ewigen Medaillenspiegel: Dort liegt Deutschland je nach Zählweise auf Platz zwei oder drei. Die DDR alleine liegt, wenn man sie herausrechnet, immer noch auf Platz neun. Deutschland ohne DDR, allerdings mit dem Deutschen Reich von 1945, liegt auf Platz drei.

Die Deutschen waren also ziemlich gut und sind immer noch ziemlich gut, wenn man irgendwelche Sportförderungen in der DDR und staatliches Doping abzieht. Man möchte natürlich wissen, warum das heute nicht mehr so ist? Ob das vielleicht bereits seit 1990 bergab geht?

Vielleicht ist die Schwäche der deutschen Sportler ein Indiz für gelungene Zivilisierung?

Natürlich gibt es Einwände gegen eine solche Wahrnehmung. Man könnte argumentieren, dass der Medaillenspiegel den Olympischen Spielen, so wie sie heute sind, in denen es weniger um Nationenvergleiche als um ein globales Sportfest geht, nicht mehr gerecht wird.

Man kann auch sagen: Prima, super, wir Deutschen sind halt 80 Jahre nach dem von uns entfesselten Weltkrieg endlich so locker und so tolerant geworden, dass wir die anderen gewinnen lassen und ihnen das gönnen können. Dabei sein ist alles! Vielleicht ist die Schwäche der deutschen Sportler ein Indiz für gelungene Zivilisierung?

Demokratien sind besser und erfolgreicher

Der Autor dieses Kommentars ist von alldem nicht überzeugt. Man kann gern dabei sein. Aber gelegentlich sollte man auch noch mal gewinnen.

Natürlich ist offensichtlich: Die meisten Länder, die im Medaillenspiegel vor Deutschland liegen, sind angelsächsische Länder mit ganz anderen Vorstellungen von der Bedeutung des Sports: USA, Kanada, Großbritannien, Australien. Außerdem noch Japan und Südkorea, Repräsentanten ostasiatischer Disziplin. Außerdem aber noch Gastgeber Frankreich (mit Heimvorteil, aber dennoch), Italien und die Niederlande.

Es liegt also alles auch nicht daran, dass die Länder vor Deutschland etwa Diktaturen wären – im Gegenteil: Es handelt sich, bis auf China, um stabile Demokratien. Umso dringender stellt sich daher die Frage, warum andere Demokratien besser sind und erfolgreicher?

Liegt es nur daran, dass sie besser trainieren? Oder dass sie einfach mehr Sportförderung haben? Vielleicht ist da am Ende Prestige bei den Franzosen und den Briten noch relevanter? Oder ist da mehr Geld in der Sportförderung noch wichtiger nationales Prestige.

Nur waren die Briten und die Franzosen in früheren Jahren genauso nationalverliebt wie heute und trotzdem sportlich nicht so gut wie die Deutschen. Warum hat sich das verändert?

Aufweichen des Wettbewerbsdenkens

Ein wichtiger Punkt ist die Lage der Sportförderung, besonders die Nachwuchsförderung: Die Neudefinition der Bundesjugendspiele seit 2021 ist ein starkes Indiz: Man begreift die Bundesjugendspiele seither nicht mehr als eine leistungsorientierte Veranstaltung.

Stattdessen bekommen alle eine Urkunde, und es geht nicht mehr um Konkurrenz, gar nicht mehr um "höher, schneller, weiter" und andere Leistungsunterscheidungsmerkmale, sondern um Wohlfühlen, um den Empfindsamkeitshaushalt der Kinder.

Das hat große Auswirkungen. Denn es ist wichtig, den Spaß am Gewinnen und den Willen zu gewinnen, zu wecken. Die Motivation, sich zu messen und besser zu sein als andere, und Spaß auch am Wettkampf zu üben, vor allem auch noch daran, wenn man verliert. Das ist etwas, dass Kinder und Jugendliche üben müssen und das man nicht noch mehr aufweichen sollte. Aber genau dieses Aufweichen von Wettbewerbsdenken passiert gerade.

Allerdings ist dies nur eine Teilerklärung. Denn der Prozess setzte viel früher ein. Und diejenigen, die jetzt für Deutschland bei den Olympischen Spielen dabei sind, die haben es ja schon zu den Spielen geschafft. Sie haben ganz offensichtlich keine Probleme mit dem Leistungsgedanken. Nur es reicht es halt gegenwärtig einfach nicht für ganz vorn.

Die falsche Einstellung

Geht es also um den Kopf, "die Seele"? Hat das was mit der deutschen Krise zu tun? Oder nicht? Ist die deutsche Nation einfach müde und erschlafft?

Jedenfalls scheint sie von einem Burnout erfasst und wirkt zugleich ungemein saturiert. Ist Deutschland eine saturierte Nation? Man muss sich zumindest diese Frage stellen. Genauso wie man sich bei den Deutschen im Fußball die Frage stellen kann, warum hier diese Dominanz, die sie seit Jahrzehnten hatten, plötzlich (eigentlich schon nach der WM 1990) spätestens in den letzten zehn Jahren aufgehört hat?

Erkennbar ist Angst vorm Siegen und gleichzeitig die Überheblichkeit, das vorzeitige Abfeiern des Sieges. Zu beobachten ist auch ein Mangel an Konzentration und am Festlegen von Prioritäten: Deutsche Sportler haben vielleicht vier Matchbälle für sich, schaffen es dann aber nicht, sich innerlich in eine Position zu bringen, dass es eigentlich null zu null steht.

Sondern, wie es den Eindruck macht, denkt man: Einer von den vieren wird schon reingehen – dann aber hat man schon verloren. Sie haben "gesundheitliche Probleme", derentwegen sie "ihre Leistung nicht abrufen" können. Früher nannte man das den "inneren Schweinehund".

Das ist "eine Kopfsache", es hat mit Einstellung zu tun und mit dem Coaching dazu – und mit der "deutschen Seele"? Sicher ist, eine kollektivpsychologische Betrachtung über das Land wäre nötig. Denn eindeutig verändern sich die Einstellungen in der Gesellschaft gerade rapide.

Ein neues Biedermeier scheint sich herauszubilden, eine Sehnsucht, die Zeit anzuhalten, weil es gestern besser war, als es morgen sein wird. Darum möchte man sich der Zukunft nicht stellen. Im Sport ist das nicht weiter schlimm, wenn sich Deutschland nicht mehr mit den Top-Nationen messen will, sondern irgendwo zwischen Paraguay und Uganda einrichtet. Und immerhin ist auch Indien, das bevölkerungsreichste Land der Erde, im Sport drittklassig.

Der heutige Samstag könnte ein goldener Tag werden, so die Hoffnung in deutschen Medien. Sie könnte "einen Erfolgstag dringend gebrauchen", heißt es.

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Redaktionelle Anmerkung: Indien ist nicht, wie es zuvor im Artikel hieß "das größte Land der Erde", sondern das bevölkerungsreichste. Das wurde korrigiert.