Carini, Khelif und der neue Kampf der Geschlechter im Sport
Sind Sport-Kategorien noch aktuell? Trans- und intersexuelle Athleten stellen Regeln infrage. Wer aber fehlende Fairness beklagt, versteht das Wesen des Sports nicht.
Folgt man den aufgeregten Debatten um intersexuelle und transsexuelle Sportler bei den Olympischen Spielen in Paris, dann fragt man sich früher oder später, ob der Starfußballer Lionel Messi nicht eigentlich beim Behindertensport hätte Fußball spielen müssen, statt einer der besten und erfolgreichsten Fußballer aller Zeiten zu werden.
Schließlich kam er mit einem Mangel an Somatropin zur Welt, einer angeborenen Unterversorgung mit Wachstumshormonen. Seine Eltern entschieden sich, von Argentinien nach Spanien umzusiedeln, wo sie mehr Geld zu verdienen hofften, um die teure Therapie bezahlen zu können.
Die Geschichte vom Probetraining des vierzehnjährigen, 1,40 Meter kleinen und 40 Kilogramm leichten Ballkünstlers beim FC Barcelona ist Legende: Der erste Vertrag inklusive Übernahme der Behandlungskosten wurde auf die nächste Serviette geschrieben, nach 30 Sekunden Probespiel.
Niemand kam je auf die Idee, dass die Behandlung eine Art Doping sei, eine unfaire Vorteilsnahme gegenüber anderen, die ihre Körpergröße nicht mit der Kanüle selbst bestimmen können. Dass Messi mit 1,69 auch später eher klein war, machte ihn besonders wendig und seine Gegenspieler leicht schwindelig.
Hätte er nicht klein bleiben und bei den Paralympics spielen oder den Traum aufgeben müssen? Wachstumshormone bei Leichtathleten sind als Doping allzu bekannt. Und schließlich musste sich der südafrikanische Sprinter Oscar Pistorius alias "Blade Runner" dieser Debatte stellen. Er war mit unvollständigen Füßen geboren worden, die dann mit einem Teil seiner Waden amputiert wurden.
Als er sich in die Wettkämpfe mit gesunden Sportlern einklagte, sagten manche, seine federnden Prothesen seien ein Vorteil der unlauteren Art. Manch anderer fand diesen Einwand allerdings so unsportlich wie geschmacklos.
Was ist gesund, was krank?
Nun ist die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit nicht gottgegeben. Der deutsche Radrennfahrer Jan Ullrich hatte Asthma und nahm Medikamente, die jeder andere Arbeitnehmer auch nimmt und sogar nehmen muss. Die Medizin operiert hier mit Normwerten, die der jugendliche Messi bei den Wachstumshormonen unterschritt.
Andererseits hätte Messi vermutlich keine gesundheitlichen Schäden erlitten, wäre er nur 1,55 geworden, abgesehen von der psychischen Herausforderung eines solchen Lebens.
Bevor die Hormone synthetisch hergestellt werden konnten, landeten Kleinwüchsige oft beim Zirkus und gehörten zu den Beliebtesten, der Mensch schaute halt schon immer gern auf andere herab. Rund vier von 100.000 Menschen kommen mit Somatropinmangel zur Welt, im Alltag trifft man heute kaum mehr Kleinwüchsige an: Gut so.
Wo hört Fairness auf?
Das Problem der Fairness im Sport ist die Festlegung von Grenzwerten, also die Frage, wo die Fairness aufhört, wo der Sport anfängt.
Der belgische Radrennfahrer Eddy Merckx hatte angeblich immer viel geringere Lactatwerte als seine Gegner, und das ist vor jedem Training auch genetisch bedingt. Der US-Radrennfahrer Lance Armstrong und Jan Ullrich hatten neben ihren Dopingtechniken vor allem regelrechte Pferde-Lungen von sieben Litern.
Normale Werte liegen gerade einmal bei der Hälfte. Niemand käme auf die Idee, im Radsport Wettkampfklassen nach Lungenvolumen oder Körpergewicht aufzustellen.
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Es gibt keine Basketballteams für Leute bis 1,80 Meter. Wer nicht begünstigt ist, sucht sich einen anderen Sport und niemand hält das für unsportlich. Das Gegenteil ist der Fall, denn Sport ist die Lust, die besten zu finden und ihnen zuzusehen oder einer zu sein.
Dabei gibt es auch Regeln im Sport, die für diejenigen unsportlich daher kommen, die gleiche Bedingungen für alle so verstanden wissen wollen, dass Nachteile ausgeglichen werden.
Zum Beispiel hat der Weltradsportverband ein Mindestgewicht für das Wettkampfrad festgelegt. Damit es nicht bei 120 km/h, das man auf der Abfahrt vom Timmelsjoch Richtung Sölden leicht erreicht, in einem Schlagloch zerbricht, soll eine Untergrenze von 6,8 Kilogramm dem Leichtbau ein Ende setzen.
Nun gilt dieses Mindestgewicht aber für jeden Fahrer, ob er 50 Kilogramm wiegt oder 80 Kilogramm, und es gilt für Frauen und Männer gleichermaßen:
Offenbar eine Benachteiligung leichterer Athleten wie eben den Frauen, deren Zeiten auf den berühmten Anstiegen hinter denen der Männer zurückbleiben.
Im Einzelzeitfahren startete auch mancher mit kleinen Laufrädern, um die beträchtliche Kraft zu minimieren, die man für die Rotation der Felgen und Speichen aufbringen muss.
Radport: 28 Zoll für alle
Der internationale Radsportverband Union Cycliste Internationale (UCI) legte deshalb die Größe der Laufräder auf 28 Zoll (ca. 71 cm) fest.
Sie gilt nun für den 1,55 Meter kleinen Kletterer, der jetzt zwischen den Laufrädern sitzt, genauso wie für den 1,85 Meter großen Sprinter, dessen Sattel weit darüber thront. Ist das fair oder Sport oder einfach pragmatisch?
Würde man andere Regeln haben, Räder mit 26 Zoll (ca. 66 cm) für Athleten unter 1,72 Meter oder ein Rad mit sechs Kilogramm für solche unter 65 Kilogramm, man schüfe nur andere Härtefälle. Man kennt sie aus den Gewichtsklassen im Boxen, in die sich manche hinunterhungern oder herauffressen. Nicht schön.
Willkür gab es schon immer
Bei der Wahl der Kategorien, die für Wettkämpfe eingeführt werden, richten wir uns nach willkürlichen Kriterien, weshalb sie bisweilen neu angesehen werden sollten.
Vor allem, weil Medizin und Verständnis sich entwickeln. Natürlich ist es sinnvoll, Altersklassen zu erstellen, niemand möchte Sechszehnjährige mit Erwachsenen messen, niemand Frauen mit Männern.
Und dies wiederum, obwohl bei der Fußball-Europameisterschaft gerade der 17-jährige Lamine Yamal zweifellos zu den allerbesten gehörte, sowohl athletisch wie als Spielerpersönlichkeit.
Kleine verlieren
Und obwohl Frauen auf dem Rennrad am Berg sehr vielen Männern leichtfüßig und grüßend davonfahren. Die Kategoriengrenzen sind dabei immer willkürlich gesetzt und unfair.
Jeder, der Jugendklassen durchlief, weiß, dass man alle zwei Jahre wieder einen Kopf kleiner war, und einstecken musste, wenn es auch nur Niederlagen waren. Verlieren können ist im Sport aber die Grunddisziplin und höchste Ehre.
Trennung der Geschlechter
Bei den viel diskutierten Auftritten transsexueller Athletinnen in den Kampfsportarten ist die Verletzungsgefahr ein zentrales Kriterium für die Einteilung der Teilnehmerinnen in Klassen, zu der die Trennung der Geschlechter gehört.
Vielleicht sollte man sich die Debatte im Boxen sparen, weil es wie der Stierkampf abgeschafft werden sollte. Aber solange das nicht der Fall ist, muss man hier besonders genau hinsehen.
Imane Khelif im Netz rauf und runter als Transfrau zu bezeichnen, obwohl sie offenbar nicht transsexuell, sondern intersexuell ist. Und obwohl sich kaum jemand damit genau auskennt, ist so wenig hilfreich, wie ihrer Gegnerin zu unterstellen, sie sei transphob und habe dazu die ganz große Öffentlichkeit gesucht, als sie nach 46 Sekunden den Kampf abbrach mit der Begründung, sie sei noch nie so hart geschlagen worden.
Auch Frauen schlagen hart zu
Imane Khelif hat oft gegen Frauen gekämpft und verloren. Es wird Frauen geben, die härter schlagen als sie oder besser ausweichen, eine bessere Taktik oder Ausdauer oder mehr Kampfgeist haben als sie und öfter zuschlagen.
Wenn diese Frauen ihre Schlagkraft gegen Frauen wie Angela Carini einsetzen dürfen, Imane Khelif aber nicht, nur weil sie auch männliche Chromosomen oder einen sehr hohen Testosteronwert aufweist, dann ist das nichts als Sexismus: die Benachteiligung qua Geschlecht, in diesem Fall zudem die eines Geschlechts, das ein wenig diskutabel ist.
Sehr bewundernswert war die Aussage Carinis, die unter Tränen ihren olympischen Traum begrub und dennoch sagte, sie wolle die Zulassung ihrer Gegnerin nicht beurteilen. Es werde schon einen Grund haben, wenn sie hier sei.
Auch Khelif hat ihr Schicksal
Dass auch Imane Khelif einen Kampf zu führen hat, den sie sich nicht aussuchte, wird jedem klar, der sich für ihre Geschichte interessiert.
Sie ist nicht so einfach wie etwa die Frage ob Transfrauen, also Männer, die nach einer maskulinen Pubertät ihr Geschlecht operativ oder hormonell anzugleichen suchen, bei den Frauen starten. Hier ist die Studienlage einfach:
Sie verlieren fünf bis zehn Prozent Muskelmasse, während der Unterschied zwischen Männern und Frauen 30 bis 50 Prozent beträgt.
In einer transsexuellen Biografie ist der Startplatz in einer Kampfsportart vielleicht nicht das Wichtigste. Man kann sich aber vorher damit auseinandersetzen und sollte einen Ausschluss bei den Frauen so akzeptieren, wie der Bergfloh das Mindestgewicht des Wettkampfrades bei der Tour de France, für das es keine endgültige Begründung gibt.
Neue Kategorie nötig?
Wahrscheinlich ist es doch am besten, man führt hier eine neue Kategorie für Inter- und Transsexuelle ein, auch wenn man dann in die Nähe der Paralympics rückt, in denen es notgedrungen allerhand unübersichtliche Klassen gibt.
Warum eigentlich finden sie immer noch von der normalen Olympischen Spielen getrennt statt, wenn niemand mehr weiß, was normal ist?
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Eine eigene Kategorie des Geschlechts würde die Betroffenen, es sollen 1,7 Prozent der Bevölkerung sein, auch ehren, stolz machen können und ihnen den Platz in der Welt geben, der ihnen zusteht.
Übrigens hat Marta, der brasilianische Superstar des Frauenfußballs die wohl verdienteste Rote Karte bekommen, die es in der dieser Sportart seit Langem gab. Sie trat ihrer spanischen Gegnerin in luftiger Höhe heftig an den Kopf. Der Shitstorm blieb aus.
Geboren und aufgewachsen in Bielefeld, absolvierte Ralf Bönt zunächst eine Lehre als Kfz-Mechaniker, bevor er Physik studierte und bei Harald Fritzsch promovierte. Er arbeitete am CERN, Brookhaven National Laboratory und DESY. Seit 1994 ist er freier Schriftsteller und veröffentlichte zahlreiche Werke, darunter Erzählungen, Hörspiele, Romane und Essays. 2017 wurde er Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland und 2022 Mitgründer des PEN Berlin.
2009 erschien sein Roman „Die Entdeckung des Lichts“, der auf der Spiegel-Bestsellerliste stand. Er schrieb Berichte über die Killing Fields in Phnom Penh und positionierte sich nach dem Atomunfall in Fukushima als Kernkraftgegner. In „Das entehrte Geschlecht“ (2012) thematisiert er die Nachteile des Patriarchats für Männer.
Er nahm an der Metoo-Debatte teil und führte eine Radiosendung mit Paula-Irene Villa Braslavsky. 2020 unterschrieb er den Appell für freie Debattenräume und forderte 2022 eine geschlechtersensible Corona-Impfverordnung. 2023 schloss er eine Hilfsaktion für die Ostukraine erfolgreich ab.