Orientierungsleistung mangelhaft

Seite 4: Fragen an die Medienforschung

Zu Beginn der Pandemie gab es die Erwartung, dass wir mit Studien der Kommunikationswissenschaft und Journalistik überschwemmt würden, schließlich lagen Fragen und Forschungsmaterial vor uns wie Sand am Meer. Doch vermutlich gilt für Journalismusforscher dasselbe wie für Journalisten: sie verhalten sich wie normale Menschen, allem Sonderrollen-Gehabe zum Trotz. Denn passiert ist bisher unfassbar wenig.

Mitten in der Pandemie stellte die größte deutschsprachige Fachtagung ihre einzigen beiden Podiumsdiskussionen unter die top-aktuellen Headlines "Die Kommunikationswissenschaft heute" und "Die Kommunikationswissenschaft morgen"; aber man hatte Corona nicht ganz verschlafen, Tagungsbeiträge waren z.B. "Social-Distancing in Zeiten von Corona: Eine Längsschnittstudie zur Rolle von (Medien-) Kommunikation für soziale Normen zum Social-Distancing-Verhalten", "Dynamik und Beharrung in der Mediatisierung - Eine Theorieperspektive auf den Wandel des Medienhandelns - am Beispiel einer Studie zur Corona-Situation", "Corona als Digitalisierungsschub?

Die Maker-Bewegung und die Veralltäglichung 'experimenteller Praktiken' während der Covid-19 Pandemie" und natürlich der Klassiker "Corona-Verschwörungstheorien und ihre Glaubwürdigkeit". Die führende deutschsprachige Fachzeitschrift diskutiert seit 9 Monaten Binnen-I und Gender-Sternchen. Und gleichzeitig beklagen Vertreter des Fachs die Bedeutungslosigkeit der Kommunikationswissenschaft.

Allerdings hat die nächste Tagung der DGPuK-Fachgruppe "Gesundheitskommunikation" im November einiges zur Erforschung des Corona-Journalismus im Programm. Zwei kürzlich erschienene Studien der Rudolf-Augstein-Stiftung untermauern zentrale Punkte der hier in der Serie dargelegten Qualitätsprobleme (ebenso wie die äußerst geringe mediale Resonanz auf beide Untersuchungen).

Da wir Journalisten nun mal Fragen stellen sollen, hier nun einige für die Journalismusforschung. Gründe für alle Fragen hat diese Serie hier geliefert.

Forschungsstand und -prozess

  • Die erste Frage betrifft die Transparenz des Faches: was läuft noch an Forschung zur Corona-Kommunikation und -Berichterstattung? Veröffentlichte Beiträge können auch in Jahren noch analysiert werden, falls ein historisches Interesse erwachen sollte, aber für anderes ist der Zug längst abgefahren. Gab es zum Bespiel Redaktionsbeobachtungen, um die Entscheidungsprozesse nachvollziehen zu können? Journalisten hatten schlagartig ein großes Interesse an Reportagen von Intensivstationen, hatte die Journalismusforschung Interesse am Ausnahmezustand der Nachrichten- und Meinungsproduktion?

Informationsvielfalt

  • Nach welchen Kriterien wurden Corona-Nachrichten von den Redaktionen ausgewählt (bei Agenturen, Zeitungen, privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern etc.)?
  • Welche Entscheidungsroutinen lassen sich konkret bei der Auswahl wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Corona-Pandemie feststellen? (Die Frage betrifft sowohl die Gewichtung der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen als auch die Nachrichtenselektion innerhalb der Ressorts, z.B. Medizin und Verfassungsrecht.)
  • Wie verhielten sich Angebot und Nachfrage im Corona-Journalismus? (u.a. Input-Outpult-Analyse für Themenangebote Freier)
  • Vielfalt der Medienmagazine: Gibt es einen Binnenpluralismus im öffentlich-rechtlichen Medienjournalismus zur Corona-Berichterstattung? (Hypothese aus Nutzersicht: alle thematisieren dasselbe und kommentieren in gleicher Weise; schon beim Themenstichwort weiß der geübte Zuhörer oder Zuschauer, was der Beitrag bieten wird.)

Meinungsvielfalt

  • Gibt es signifikante Unterschiede bei der Meinungsvielfalt innerhalb eines Mediums und der Meinungsvielfalt der von diesem Medium via Social Media verbreiteten Beiträge? (Hypothese: An dieser Stelle wird erneut in eine bestimmte Richtung selektiert.)
  • Wie unterscheiden sich die Medien in der publizierten Meinungsvielfalt? In welchem Medium bekamen wir zur Corona-Politik die größte Spannweite an Meinungen, die meisten unterschiedlichen Positionen, und wie vieles fiel auch dort noch unter den Tisch? Wie stehen die Medien im Vergleich dazu bei anderen kontroversen Themen da?
  • Korrelieren Meinungsvielfalt und Informationstiefe in den Medien?
  • Wie verlief die redaktionelle Meinungsentwicklung ausweislich der Veröffentlichungen?
  • Vielfalt oder Gleichklang der Medien? Wie unterschiedlich war der Corona-Journalismus?

Richtigkeit

  • Wie wurden Fehlinformationen korrigiert (insbesondere, wenn sich Fehlinterpretationen oder -annahmen erst lange Zeit nach Veröffentlichung herausgestellt haben)? Welche und wie viele sind bei den Journalismuskunden noch unkorrigiert gegenwärtig?

Recherche

  • Wie kritisch sind Lokalzeitungen mit ihrem örtlichen Krankenhaus in der Berichterstattung umgegangen (Besucherregelungen etc.), kommen überhaupt kritische Stimmen zu Wort, stellt die Redaktion selbst Fragen? Wird redaktionell bearbeitet, was über Leserbriefe etc. an Fragen/ Behauptungen/ Erlebnissen eintrifft?
  • Fallbeispiel: Wie wurde die Notwendigkeit der Bundeswehr im Anti-Corona-Kampf mit recherchierten Daten unterfüttert? Wo wurden Alternativen erörtert? (Dass bei Stadtverwaltungen mit hunderten bis tausenden Beschäftigten ein Dutzend Soldaten die ansonsten nicht leistbare Pandemiearbeit gewuppt hat, während niemand - pandemiebedingt - Däumchen gedreht hat, ist ohne entsprechende Enthüllungsgeschichte schlicht nicht vorstellbar.)

Medienleistungen

  • Welche Kooperationen vor allem zur dauerhaften Bereitstellung von Informationen gab es im öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Was war innovativ? Gab es zu Corona kollaborative Angebote privatwirtschaftlicher Medien?
  • Lässt sich die Relevanz (nicht der Nachrichtenwert!) von Protagonisten erfassen (Stichwort: Lauterbach)?
  • Wie sind die Medien mit Protagonisten verfahren, die sich nicht öffentlich äußern wollten? (Hintergrund: Zahlreiche Journalisten berichten, vor Corona noch nie so viele Informanten erlebt zu haben, die nicht mit ihrer Meinung öffentlich zitiert werden wollen.)
  • Faktenchecks: an wen richten sie sich, wer liest sie, was thematisieren sie? (Hypothese: Politik-kritisches wurde weit häufiger einem Faktencheck unterzogen als Politik-bestätigendes.)
  • Objektivität: Wie groß waren bei einzelnen Medien die Verzerrungen, die Maßstabsverschiebungen? Dass es sie gab, wurde in dieser Serie aufgezeigt, aber ihr Ausmaß lässt sich seriös nicht schätzen.
  • Mit was hat sich die journalistische Medienkritik beschäftigt (außer wie üblich mit der Bild-Zeitung)? Welche Probleme im Corona-Journalismus hat das eigene Kontroll-Ressort ausgemacht?

Rezipientenforschung

  • Wieviel Zeit ihres Lebens haben reale Rezipienten mit Corona-Informationen verbracht? Und was wissen sie heute?
  • Wie hängen persönlicher Einstellung und Qualitätsbeurteilung der Berichterstattung zusammen?
  • Welche Bilder zu Einzelfällen haben die Rezipienten im Kopf und wie stark weichen sie von der Realität ab? (Stichworte Bergamo, "Sturm auf den Reichstag") Bei wie starker Abweichung können wir nicht mehr von "Medienrealität" sprechen?
  • Wie weit reden rund um Corona Blinde von Farben? (Bezug z.B. das Schweizer Jahrbuch zur Qualität des Journalismus, das die Qualität bewertet, ohne bspw. auf Richtigkeit zu achten.)

Mainstream und Nischen

  • Welche der nicht als Fake-News falsifizierbaren Beitragsthemen aus sog. Alternativmedien tauchten in den sog. etablierten Medien gar nicht auf? Welche Informationsunterschiede ergeben sich (demnach) zwischen den Gruppen Nur-etabliert-Leser, Misch-Konsumenten und Nur-Alternativmedien-Rezipienten?
  • Welche Wissens- und damit Orientierungsunterschiede gibt es zwischen den "Maßnahmen-Kritikern" und "Maßnahmen-Befürwortern"? (Bitte nicht nur die Definition des R0-Werts abfragen, sondern so umfassend und breit aufgestellt, wie es eben für eine verantwortungsvolle Orientierung in der Welt nötig ist. Bspw.: "Warum ist es gelungen, die Pocken auszurotten?")

Gesellschaftsfragen

  • Global: Wie sehr korrespondieren Politik und Journalismus in den einzelnen Ländern der Welt?
  • Kann es sein, dass intensive Twitter-Nutzung Journalisten schadet? (Hypothese: Wer sich in diesem völlig auf Polarisierung, Meutenbildung und Fantum basierende Netzwerk aufhält und wohl fühlt, schleppt diese extreme Weltvereinfachung und Agro-Tonalität vielleicht in die klassischen Medien? Es ist schwer vorstellbar, dass Journalisten, die sich zu jedem aktuellen Thema sofort auf Twitter Fahne schwingend positionieren, noch das nötige Rechercheinteresse mitbringen, um Fakten und Meinungen in Erfahrung zu bringen, die zur Veränderung des eigenen, bereits protokollierten Standpunktes führen können.)
  • Lassen sich die negativen Auswirkungen defizitären Corona-Journalismus auf die Wissenschaft bestimmen? (Beispiel: Im Rahmen des "Spitzenforschungsclusters Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung (MOTRA)" haben Berliner Soziologen die Corona-Proteste in Deutschland erforscht, indem sie die Berichterstattung über solche Corona-Proteste aus den Zeitungen Welt und Süddeutsche ausgewertet haben, siehe: "Alles Covidioten? Politische Potenziale des Corona-Protests in Deutschland".)
  • Auch für auf waghalsige Konstruktion von Kausalitäten Spezialisierte gäbe es (unterhaltsame) Fragen: Ist in der inflationären Veröffentlichung von Symbolfotos zu Impfungen ein System zu erkennen? Wählen Männer andere Fotos aus als Frauen, unterscheiden sich politisch rechte und politische linke Medien in ihrer Auswahl und Präsentation, u.a. im Hinblick auf Diversität bei Piksenden, Impflingen und verwendetem Appliziergerät? Gibt es bei Online-Medien tageszeitliche Schwankungen und korrelieren die evtl. signifikant mit der abgebildeten Nadellänge oder dem Inzidenzwert?

Schließen wir die Serie zum Corona-Journalismus mit einem ernsthaften Fallbeispiel, einer Meldung der Deutschen Presseagentur (dpa), an der auf den ersten Blick alles richtig ist, und die doch unter dem Gesichtspunkt der Orientierungsleistung ungenügend ist. Sie finden sich in zig Medien, einige haben sie in ihre "Ticker" oder längere Berichte eingebaut - nach kursorischer Prüfung allerdings im Kern unverändert. Die Meldung basiert auf einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes (Destatis). Die Kernbotschaften lauten:

Vier von hundert Todesfällen in Deutschland im vergangenen Jahr gehen direkt auf das Coronavirus zurück [...] Demnach sind 39.758 Menschen 2020, im ersten Jahr der Pandemie, an Covid-19 als sogenanntes Grundleiden gestorben [...] Insgesamt starben im vergangenen Jahr 985.572 Menschen in Deutschland, davon 492.797 Männer und 492.775 Frauen. Die Zahl der Todesfälle ist damit im Vergleich zu 2019 um 4,9 Prozent gestiegen. Der Anstieg ist laut dem Statistischen Bundesamt auch auf die Sterbefälle durch Covid-19 zurückzuführen.

Das Problem dieser Meldung macht die Süddeutsche Zeitung unfreiwillig mit der von ihr gewählten Überschrift deutlich: "Corona-Opfer 2020: Fast 40 000 mehr Tote als im Jahr zuvor". 4,9 Prozent mehr Tote als im Vorjahr und 4 Prozent Corona-Todesopfer, konkret 39.758 am "Grundleiden Corona" Verstorbene - die Sache ist doch eindeutig, oder? Sie ist vielleicht nicht ganz so eindeutig, wie sich das manche Apokalyptiker gewünscht haben, aber doch deutlich genug: wenn ich 100 Bekannte habe und davon in einem Jahr vier oder fünf sterben, die statistisch noch gar nicht an der Reihe wären, dann kann das erschreckend sein. Dank Corona-Narrativ müssen wir nicht lange denken.

Nur leider ist es allen Treueschwüren auf die Wissenschaft mit der Wissenschaftlichkeit im Journalismus noch nicht allzu weit her. Wenn man auch alles miteinander vergleichen kann - gleichsetzen kann man es noch lange nicht.

War denn zu erwarten, dass 2020 genauso viele Menschen sterben wie 2019? Ungeachtet der Wetterlage, der Weltereignisse (abgesehen von Corona) - oder beispielsweise der Demographie?

Natürlich nicht. Für die Suche nach einer Kausalität müssten die beiden Grundgesamtheiten (Vollerhebung 2019 vs. Vollerhebung 2020) identisch sein bzw. zumindest dieselben Bedingungen erfüllen. Schon dies zu erwarten, grenzt an Wissenschaftsleugnung. Was sagt uns also ein Statistiker dazu: Aufgrund der Altersentwicklung der deutschen Bevölkerung war eine Zunahme von etwa 40.000 Toten zu erwarten, rein statistisch (nicht jeder hält sich freilich beim Sterben an die Statistik, Details im Fachaufsatz).

Also sollten bei sonst unveränderten Einflüssen wie Sommerhitze, Grippe-Epidemien etc. im Jahr 2020 etwa 45.000 Menschen mehr sterben als im Vorjahr. (Täten sie es nicht, wäre zumindest der Presse-Statistiker vermutlich nicht beunruhigt.) Korrekt berichtet sind also je nach Berechnungsmodell nur 6.317 mehr gestorben, als statistisch anzunehmen war. Über diese Übersterblichkeit kann man dann streiten, oder besser: forschen, wenn es denn Sinn macht. Natürlich ist es auch möglich, dass aufgrund der Gesamtsituation bei genauer Betrachtung statistisch weniger Menschen hätten sterben sollen (gutes Wetter, Verbesserung in der Altenpflege, was auch immer).

Aber darum geht es hier nicht, ein letztes Mal sei es gesagt: Es geht nicht darum, die Corona-Politik gut oder schlecht zu heißen, die Pandemie als mehr oder weniger bedrohlich einzuordnen. Es ging in dieser Kritik des Corona-Journalismus ausschließlich um die Orientierungsleistung der Berichterstattung. Und diese ist auch in diesem letzten Beispiel mangelhaft.