Panzer und Kopfgeldprämien – Wie die Ukraine weiter zerrüttet wird

Kann man Panzer gegen die eigene Bevölkerung losschicken und Kopfgeldprämien gegen die Opposition ausschreiben? In der Ukraine, wo Oligarchen die Politik bestimmen und der schnelle Gewinn zählt, geht das

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"Kinder, wollt ihr Piroggen?", fragte eine Frau in rosa Jacke Soldaten einer ukrainischen Luftlandeeinheit, die letzten Mittwoch in der ostukrainischen Stadt Kramatorsk einrückte (Was ist los in der Ostukraine?). Die Frau brauchte nicht lange warten. Sogleich kam ein junger Soldat angestratzt und nahm die Tüte mit den Piroggen mit einem herzlich "Spasibo" entgegen. Wenn man sich die Berge mit den von der Bevölkerung geschenkten Lebensmitteln auf den Schützenpanzern so anguckte, konnte man glauben, dass in Kramatorsk Volkshelden eingerückt waren. Doch mit ihren Essensspenden an die hungrigen Männer wollten die Anwohner nicht mehr erreichen, als dass die Soldaten möglichst schnell wieder aus der Stadt verschwinden. Als Geiseln von "Terroristen", die befreit werden müssen, fühlen sich die Einwohner der Stadt Kramatorsk mit ihren 165.000 Einwohnern nicht.

Der Kommandeur der Luftlande-Panzereinheit musste sich den Fragen der empörten Anwohner stellen. Das Bombardement an Fragen aufgebrachter Bürger ("Was wollt ihr hier?", "Auf wen wollt ihr schießen?", "Wer gab den Befehl?", "Wie heißen Sie?") und die Essensspenden führten dazu, dass die Einheit schließlich aufgab und abrückte.

Sechs der ukrainischen Schützenpanzer wurden jedoch unter lautem Hurra von Vertretern der "Donezk-Armee" übernommen. Die Männer dieser inoffiziellen Armee sind leicht an ihrer guten Ausrüstung und dem orange-schwarzen Georgi-Bändchen an den Uniform-Jacken zu erkennen. Erstaunlich war, dass bei der Auseinandersetzung kein Schuss fiel.

Russische Waffen und Uniformen sind noch kein Beweis

Die von westlichen Medien aufgestellte Behauptung, unter den Aufständischen in der Ost-Ukraine seien viele russische Staatsbürger und Instrukteure russischer Sicherheitsstrukturen, wurde bisher von Niemand wirklich belegt. Die russisch-ukrainische Grenze ist für Männer in wehrfähigem Alter seit Wochen so gut wie dicht. Sicher kann man nicht ausschließen, dass der ein oder andere Russe unter den Männern der sogenannten Donezk-Armee ist. Aber die Anwesenheit von Russen unter den Aufständischen allein an russischen Waffen oder Uniformteilen zu beweisen, wie es viele westliche Medien tun, ist nicht seriös.

Viele Waffen und Uniformen in der Ukraine und Russland sind ähnlich oder gleich. Und es gibt viele Mitglieder ukrainischer Spezialeinheiten, die unter Präsident Viktor Janukowitsch gedient haben und nun auf Seiten der Aufständischen stehen. Dazu gehören unter anderem die Mitglieder der Polizei-Spezialeinheit Berkut, deren Mitglieder von den neuen Machthabern in Kiew Ende Februar pauschal als "Mörder" bezeichnet wurden. Die Einheit wurde aufgelöst.

Nun ist plötzlich Not am Mann. In den ukrainischen Sicherheitsstrukturen herrscht ein Mangel an erfahrenen Kämpfern. Und so veröffentlichte das ukrainische Innenministerium letzte Woche einen Aufruf an die ehemaligen Berkut-Polizisten, sich doch bitte wieder in die die offiziellen Sicherheitsstrukturen einzugliedern, denn "Mutter Heimat" sei in Gefahr. Doch der Aufruf kam zu spät. Es wurde nicht bekannt, dass sich Jemand meldete.

Die Mitte April von der Regierung in Kiew gestartet "Anti-Terror-Operation" hat bisher fast keine Erfolge gebracht. Über zehn ostukrainische Städte sind faktisch in der Hand der Aufständischen. In Slawjansk kontrollieren die Aufständischen nicht nur Verwaltungsgebäude, sondern auch die Kommunalversorgung.

Unbewaffnete stoppen Panzer

Was in Kramatorsk passierte, ist kein Einzelfall. Im Süden und Osten ist die Kriegsgefahr mit Händen zu greifen und die Anwohner bleiben nicht untätig. Hunderte von unbewaffneten Bürgern in Städten des Donezk-Gebietes haben ukrainische Militärkolonnen zum Umdrehen gezwungen wie in Wolnowacha.

Sie haben nach Verhandlungen Soldaten entwaffnet wie in Artjomowsk, Panzer zu Fuß über Felder verfolgt und gestoppt wie in Rodinskoje oder versucht, wild um sich schießende ukrainische Soldaten mit den bloßen Händen zu stoppen wie letzte Woche in Nowoselowka, während ein Kampfhubschrauber in der Luft kreiste.

Aufständische bereiten Referendum vor

Unklar ist, wie unter den derzeitigen Bedingungen in der Ost-Ukraine die für den 25. Mai geplanten Präsidentschaftswahlen durchgeführt werden sollen. Der Stellungskampf zwischen den ukrainischen Eliteeinheiten, die versuchen, besetzte Gebäude zurückzuerobern, kann sich noch Wochen hinziehen.

Soviel steht fest: Am 11. Mai – also zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen – wollen die Separatisten der am 7. April gegründeten "Donezk-Republik" in der Ost-Ukraine ein Referendum durchführen. Drei Fragen stehen zur Abstimmung: der Erhalt der Ukraine in seiner jetzigen Form, die Föderalisierung der Ukraine und die Vereinigung der ostukrainischen Regionen mit Russland. Nach der Stimmung in der Bevölkerung zu urteilen, werden für alle drei Fragen etwa gleich viele Menschen stimmen.

Dass Russland der Erklärung von Genf zustimmte, welche die Entwaffnung aller bewaffneten Einheiten vorsieht, und dass Moskau immer wieder betont, man werde nicht in die Ukraine einmarschieren, könnte darauf hindeuten, dass dem Kreml die Aufstandsbewegung in der Ost-Ukraine auch ein bisschen unheimlich ist. Denn auch in den Industriegebieten in der russischen Provinz gibt es soziale Brennpunkte. Nachahmer beim sozialen Protest kann der Kreml in Russland nicht gebrauchen.

Egal ob Maidan oder Donezk - Ukrainer wollen vor allem soziale Sicherheit

Wer verstehen will, was in der Ost-Ukraine passiert, kann die soziale Realität im Industriezentrum Donbass nicht außen vor lassen. Selbst für den westlichen Fernsehzuschauer ist offensichtlich, dass die Aufständischen in der Ost-Ukraine vor allem aus dem einfachen Volk kommen. Vor den besetzten Gebäuden in den Städten des Donezk- und Lugansk-Gebietes sieht man vor allem Arbeiter, Angestellte, Rentner und Arbeitslose. Das unterscheidet die Bewegung in der Ost-Ukraine stark von dem Maidan in Kiew, wo die städtische Mittelschicht eine führende Rolle spielte.

Beide Bewegungen, die auf dem Maidan und die in der Ost-Ukraine, haben trotz unterschiedlicher politischer Zielsetzung soziale Ursachen. Beide Bewegungen hoffen auf die Sicherung sozialer Leistungen und auf neue Arbeitsplätze. Die Maidan-Bewegung erhoffte sich soziale Verbesserungen durch den Schutz der EU, die Bewegung in der Ost-Ukraine erhofft sich den sozialen Schutz durch Russland.

Die Menschen in der Ost-Ukraine haben allen Grund, sich um ihre soziale Zukunft zu sorgen. Hunderte von Bergwerken sind in den letzten zwanzig Jahren geschlossen worden. Die neue Regierung in Kiew hat drastische Sparprogramme beschlossen. Der Gaspreis für Normalverbraucher soll verdoppelt, Prämien für Neugeborene und Gehaltszuschläge für Lehrer sowie Ermäßigungen bei den Wohnungsnebenkosten sollen gestrichen werden - und das bei Einkommen von durchschnittlich 250 Euro im Monat. Zehntausende von Bergarbeitern müssen sich – mangels Alternative – ihr Geld in den sogenannten Kopanki verdienen, dass sind illegale Kohlegruben, wo zwölf Meter unter der Erde Kohle abgebaut wird. Anwohner in dem Bergarbeiterstädtchen Schachtjorsk berichteten dem Autor dieser Zeilen, dass immer wieder frischgewaschene Leichen auf den Feldern gefunden werden. Auf diese Weise würden sich die Betreiber der schlecht gesicherten "Kopanki" von Menschen entledigen, die bei der Arbeit umgekommen sind.

In den offiziellen Kohleschächten sieht es mit der Arbeitssicherheit nicht viel besser aus. Pro Monat sterben sechs bis sieben Menschen bei Arbeitsunfällen in den offiziellen Kohlebergwerken, erzählt die Chefredakteurin der Donezker Wirtschaftszeitung Krjasch, Marina Charkowa. Weil die Bergarbeiter praktisch ständig unter Lebensgefahr arbeiten, seien sie besonders entschlossen, meint die Chefredakteurin.

Streiks in fünf Kohlegruben

Eine weitere Herausforderung für die Macht in Kiew könnte nun ein Streik der Bergarbeiter sein, der am Mittwoch in fünf Kohlegruben im ost-ukrainischen Lugansk-Gebiet ausbrach. Die Gruben gehören zum Unternehmen Krasnodonugol. Das Unternehmen gehört dem reichsten Mann der Ukraine, dem Oligarchen Rinat Achmetow, der früher die prorussische Partei der Regionen sponserte, in letzter Zeit aber für Kompromisse mit der neuen Macht in Kiew warb.

Vor dem Gebäude von Krasnodonugol versammelten sich am Mittwoch 2.000 Bergarbeiter. Sie forderten, die Löhne von 6.000 auf 10.000 Grivna (660 Euro) zu erhöhen. Politische Forderungen wurden angeblich nicht gestellt.

Ulk-Clip: "Mein Papa hat zwei Separatisten abgeliefert"

Weil die militärische Offensive gegen die Separatisten nicht vorankommt, hat die Gebietsverwaltung des westlich von Donezk gelegenen Dnjepropetrowsk-Gebietes ein Kopfgeld für Separatisten ausgeschrieben. Die Gebietsverwaltung bietet 10.000 Dollar Kopfgeld für einen prorussischen Separatisten. 200.000 Dollar gibt es für die Befreiung eines besetzten Gebäudes.

Ein Video-Clip, der sich über die Kopfgeld-Aktion lustig machte, sorgte im Internet mit 370.000 Clicks für Furore. "Mein Papa hat zwei Separatisten abgeliefert und ich habe ich jetzt ein neues Planschet", ruft ein Mädchen in dem Clip.

Besonders aufs Korn genommen wird in dem Video der Besitzer der "Privatbank", Oligarch Igor Kolomoisko, der die Kopfgeld-Aktion finanziert haben soll. Kolomoiski wurde Anfang März von der neuen Macht in Kiew als neuer Gouverneur von Dnjepropetrowsk eingesetzt.

Ethisch habe man mit dem Kopfgeld keine Probleme, wie der stellvertretende Gouverneur von Dnjepropetrowsk, Boris Filatow, ein ehemaliger Unternehmer und Journalist, gegenüber dem russischen Dienst des BBC erklärte: "Das ist ein Krieg, und einen Krieg muss man mit allen möglichen Mitteln führen."

Wie der Leiter des Stabs für nationalen Schutz, Michail Lysenko, gegenüber Radio Swoboda mitteilte, wurden bereits je 10.000 Dollar für die Ergreifung von acht Separatisten ausgezahlt. Einige Bürger sollen aber auch versucht haben, auf krumme Weise Geld zu verdienen, indem sie einen russischen Bekannten, der mit den Separatisten nichts zu tun hat, ablieferten, berichtet das Internet-Portal newsru.com.