Parlaments- und Volksrechte

Während die Regierungskoalition über die genau Ausgestaltung der Beteiligung von Bundestag und Bundesrat an EU-Richtlinien debattiert, fordern immer mehr Verfassungsrichter Volksabstimmungen bei wichtigen Entscheidungen

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In der Koalition ist ein Streit darüber entbrannt, wie die vom Bundesverfassungsgericht geforderten "Leitplanken" zum Lissabon-Vertrag umgesetzt werden sollen. Während SPD und CDU auf eine Minimalumsetzung vor der Wahl hinarbeiten, fordern führende CSU-Politiker dass der Wahlslogan, Europa müsse "transparenter, demokratischer und bürgernäher" werden, nun auch umgesetzt und in Deutschland - ebenso wie in Dänemark oder Österreich - ein grundsätzlicher Parlamentsvorbehalt vor EU-Entscheidungen eingeführt werden müsse.

Mit der entschiedenste Vertreter dieser Position ist Generalsekretär Alexander Dobrindt, der bei der Abstimmung als einer von sehr wenigen Bundestagsabgeordneten gegen die nun als verfassungswidrige erkannte Umsetzung des Lissabon-Vertrages votiert hatte. Er ist der Auffassung, dass das Karlsruher Urteil vom 30. Juni genutzt werden sollte, um "offensichtliche Fehlentwicklungen" zu korrigieren und Bundestag wie Bundesrat in der Begleitgesetzgebung zum Lissabon-Vertrag ein Überprüfungsrecht an allen EU-Richtlinien zuzubilligen - nicht nur an den vom Bundesverfassungsgericht explizit genannten.

Dieser Forderung widersprachen mehrere CSU-Europaparlamentarier um Markus Ferber, die nicht nur stärker in EU-Strukturen eingebunden sind, sondern auch einen Bedeutungsverlust für die Straßburger Versammlung fürchten. Sie argumentieren damit, dass ein erweiterter nationaler Parlamentsvorbehalt die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung behindern könnte, was ihrer Ansicht nach zu einem Machtverlust innerhalb Europas führen würde, wie das angeblich in Dänemark der Fall war. Eine Sichtweise, die von den dortigen Politikern jedoch nicht unbedingt geteilt wird. Hinsichtlich des österreichischen Beispiels argumentiert der Schwabe Ferber, dass die Abgeordneten der Alpenrepublik ihre Rechte in der Praxis bisher nicht wahrnehmen würden. Allerdings hält theoretisch auch die deutschen Parlamentarier nichts davon ab, es genauso zu handhaben.

Mittlerweile liefert man sich innerhalb der CSU deutlich heftigere Auseinandersetzungen als sie zwischen CDU und SPD stattfinden: Nachdem Ferber die Forderungen nach einem umfassenden parlamentarischen Kontrollrecht öffentlich als "Unsinn" kritisierte, kommentierte Dobrindt das im Münchner Merkur mit der Aussage, dass der Schwabe offenbar unter einer "Brüsseler Käseglocke" lebt. Ferber meinte darauf hin, dass nicht er, sondern die Berliner Landesgruppe der CSU unter eben solch einer Käseglocke sitze, weil sie sich bislang "nicht darum gekümmert [habe], was in der europäischen Gesetzgebung läuft". Allerdings - so muss man anmerken - warum sollte sie das auch, wenn sie sowieso keinen Einfluss darauf nehmen kann? Tatsächlich lieferte Ferber gerade mit dieser Äußerung seinen Gegnern eine, wie man in der CSU gerne sagt, "Steilvorlage": Gibt es künftig ein Überprüfungsrecht für alle EU-Vorschriften, dann können diese in Zukunft nicht mehr so leicht erst verheimlicht und dann als nicht mehr abwendbares Überraschungsei präsentiert werden.

Nachdem Parteichef Seehofer die von Dobrindt vertretenen Positionen als "klare Linie" bezeichnet und im Hinblick auf die Europaabgeordneten seiner Partei geäußert hatte, dass man "alles andere [...] vergessen" könne, meinte Ferber in einem pädagogischen Tonfall, der bei Teilen der Basis nicht gut ankam, er habe geglaubt, seine Partei sei schon "ein bisschen weiter" und mit einem "Verhinderungstrip" würde man keine "Probleme lösen", sondern nur "das Land isolieren".

Posselt: "eigenständiges Bayern unter einem starken europäischen Dach" als Konsequenz aus dem Karlsruher Urteil

Ferbers über Blogs auch bundesweit bekannt gewordener Europaparlamentsspezi Bernd Posselt, zog gar eine recht eigenwillige Interpretation des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 30. Juni aus dem Hut und meinte, dass diese Entscheidung eigentlich mehr Machtbefugnisse für das Europaparlament zur Folge haben müsse. Umfassende Kontrollrechte für Bundesrat und Bundestag bezeichnete der Sudetendeutsche dagegen als "Rückfall ins Bismarck-Reich" und verlautbarte, man könne auch provokant fragen, "ob nicht ein eigenständiges Bayern unter einem starken europäischen Dach die Karlsruher Forderung nach einem überschaubaren demokratischen Rahmen besser erfüllen würde als der Berliner Wasserkopf".

Allerdings rebellieren nicht alle Europaabgeordneten: Zwischen den Stühlen, aber nahe an einem möglichen Kompromiss, positionierte sich beispielsweise Manfred Weber, der eingestand, es sei "höchste Zeit, dass der Bundestag der Bundesregierung genauer auf die Finger schaut, was die Minister in den Brüsseler Räten beschließen", aber ein Überprüfungsrecht für ausnahmslos alle EU-Entscheidungen trotzdem für "weder sachdienlich, noch praktikabel" hält.

Neben stärkeren Kontrollrechten für die nationalen Parlamente fordern Dobrindt und Seehofer auch eine explizite Festschreibung, dass der Lissabon-Vertrag nur innerhalb der von Bundesverfassungsgericht festgelegten Maßgaben gilt. Dass sich SPD und CDU dieser Forderung bisher ebenfalls verweigern, weckt bei machen Beobachtern den Verdacht, dass man dort vielleicht vorhat, sich in der Zukunft doch nicht so streng an das öffentlich gelobte aber im Stillen bedauerte Urteil zu halten.

Die beiden großen der drei Koalitionsparteien wollten die geänderten Begleitgesetze eigentlich weitgehend ohne Diskussion in zwei Sitzungsterminen während der Sommerpause durch den Bundestag peitschen. Dobrindt dagegen meinte auf einem Festakt zu Horst Seehofers sechzigstem Geburtstag, dass dieser Zeitplan nicht "die Inhalte bestimmen" dürfe und eine Verabschiedung vor der Wahl "nicht zwingend" sei. Diese Prioritätensetzung wurde nicht nur von Seiten der SPD, sondern auch von Markus Ferber heftig kritisiert. Beide sehen darin eine Stärkung der Position der Lissabon-Kritiker in Tschechien, Polen und Irland, die ihrer Ansicht nach den Vertrag selbst "gefährdet".

Während man in der Koalition über Kontrollrechte für Abgeordnete debattierte, forderten die Verfassungsrichter Andreas Vosskuhle und Johannes Masing am Montag im Rahmen einer Veranstaltung zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes in Freiburg mehr Kontrollrechte für die Bürger. Laut Masing sollten "die Entscheidungen über die politischen Rahmenbedingungen in die Hand des Volkes" gelegt werden. Der im Ruhestand befindliche Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde pflichtete dem Appell bei. In den letzten Monaten hatten sich auch Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier, seine Vorgängerin Jutta Limbach und die Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff für eine stärkere direkte Einbeziehung der Bürger ausgesprochen.

Solch eine Volksbeteiligung scheiterte bisher an den "Volksparteien". Die deutlichsten Worte der Ablehnung kamen dabei aus der CDU. Komplizierter ist die Lage bei der SPD. Sie lehnt Volksentscheide auf Bundesebene zwar nicht kategorisch ab, hält dafür aber eine Klarstellung im Grundgesetz für notwendig, obwohl Artikel 20 bereits regelt, dass das Volk die Staatsgewalt nicht nur in Wahlen, sondern auch in Abstimmungen ausübt. Diese Haltung führte 2002 dazu, dass die Partei im Bundestag zusammen mit den Grünen einen Antrag für eine solche Verfassungsergänzung einbrachte, der jedoch aufgrund der dafür notwendigen Zweidrittelmehrheitsanforderung vorhersehbar an den Abgeordneten der Union scheiterte.

Nachdem die Wahlen von 2005 die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag zu ihren Ungunsten änderten, brachten die Grünen den Gesetzentwurf in leicht veränderter Form erneut zur Abstimmung, in der er erwartungsgemäß wieder scheiterte. Ebenso erging es einem 2006 vorgelegten Entwurf der Linken. Auch ein dritter Vorstoß der FDP scheiterte. Allerdings positionieren sich die einzelnen Abgeordneten in den Parteien teilweise sehr unterschiedlich zu Volksabstimmungen. Die Bürgerinitiative Mehr Demokratie bietet deshalb seit kurzem eine Übersicht. Auf der Website lassen sich Wahlkreise mit der eigenen Postleitzahl suchen und die Standpunkte der dort antretenden Kandidaten nachsehen.