Paschtunen: Umfassende Ablehnung westlicher Werte und Ideen
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Seit fast 200 Jahren versuchten westliche Mächte, wie auch Russland, Afghanistan in ihre Einflusssphäre zu integrieren und die Paschtunen gefügig zu machen – erfolglos. Dabei wird es wohl bleiben.
Die Paschtunen siedeln in der Region zwischen Hindukusch und Indus. Sie unterteilen sich in eine Vielzahl verschiedener Stämme und sind mit mehr als 50 Millionen die weltweit größte Stammesgemeinschaft.
Das Ministerium für Höhere Bildung in Afghanistan hat laut einer Meldung der Tagesschau von diesem Wochenende private wie öffentliche Hochschulen angewiesen, Frauen von Aufnahmeprüfungen für das kommende Studienjahr auszuschließen: "Die Taliban dämpfen damit die Hoffnung, das im Dezember verhängte Hochschulverbot für Frauen könnte wieder aufgehoben werden."
Unter "Stamm" darf man sich in diesem Fall kein Naturvolk wie im Amazonas oder Papua-Neuguinea vorstellen, im Gegenteil: In Afghanistan sind sie das staatstragende Volk (lang waren "Afghane" und "Paschtune" synonym) und mit mehr als doppelt so vielen Menschen das zweitgrößte Volk Pakistans. Durch die britische Kolonisation Indiens haben vor allem die östlichen Stämme schon lange ausgiebig Kontakt mit westlicher Kultur und Macht, Werten und Ideen.
Trotzdem hat kein Volk Asiens, vor allem keines in dieser Größe, sich so dauerhaft und erfolgreich fast jeglicher europäischer Einflussnahme – und das bedeutet in diesem Fall auch russischer – widersetzt. Es gibt in Asien nirgendwo so viele Menschen, die westliche Werte und Ideen so umfassend ablehnen wie bei den Paschtunen.
Dennoch wurde wiederholt und zumeist mit brutaler Gewalt versucht, sie in westliche Systeme zu integrieren. Doch so kommt man ihnen nicht bei, wie die lange Reihe gescheiterter Unternehmen beweist.
Die Briten in Afghanistan
Nachhaltige Erfahrungen mit Europäern machten die Paschtunen Afghanistans mit der East Indian Company. Diese expandierte in Indien und machte sich, noch bevor sie den Indus überschritt, Sorgen vor russischem Einfluss viel weiter im Westen. Das sollte durch die Inthronisierung eines loyalen Königs verhindert werden, der gleichzeitig das von endlosen Stammesfehden zerrissene Land befrieden würde.
Der Erste Anglo-Afghanische Krieg endete 1842 zwar nicht mit einer totalen Niederlage der Briten, doch verloren sie eine komplette Armee, bevor sie sich mit einem zweiten Feldzug rächten und zumindest strategisch den Zustand vor dem Krieg herstellten.
Finanziell allerdings war der Krieg eine Katastrophe, was die Company als Aktiengesellschaft umso stärker schmerzte, da ihr Zweck eine positive Handelsbilanz und nicht territoriale Ausdehnung war. Und ausgerechnet der Duke von Wellington, Sieger über Napoleon bei Waterloo und das Militärgenie seiner Zeit, hatte im Vorfeld vor den geringen Siegesaussichten einer direkten Intervention gewarnt.
Nach der Schlappe verlegten sich die Briten auf indirekte Maßnahmen und dirigierten erfolgreich die Außenpolitik des Emirs in ihrem Sinne. Ihn zu kaufen war vielfach günstiger, als ihn zu zwingen. Trotzdem kam es vierzig Jahre später aus praktisch den gleichen Gründen zum Zweiten Anglo-Afghanischen Krieg.
"Gelöst" war das Afghanistan-Problem auch danach nicht. Doch nach Erreichen der Ziele (direkte Übernahme der Außenpolitik, Abwehr der Russen) erfolgte nach zwei Jahren der Abzug ohne große Verluste. Emir wurde Abdur Rahman Khan, der "Eiserne Amir", der mit britischer Hilfe, darunter große Mengen von Waffen, und größter Brutalität versuchte, sein Land in die Moderne zu katapultieren.
Sein Enkel Amanullah zettelte 1919 noch einen dritten Anglo-Afghanischen Krieg an, doch dieser blieb folgenlos und wurde bald beendet.
Die Briten in Indien
Prägender für die Paschtunen, weil von viel längerer Dauer, war die Kolonisierung Indiens. 1849 unterlagen die Sikhs den Briten, die darauf bis zum Khyberpass und Balochistan vordrangen. Für fast hundert Jahre lebte der Großteil der Paschtunen unter britischer Herrschaft, zuerst unter der Company und ab 1857 unter der Krone.
Ihr bescherten sie wenig Freude. Die Briten waren bestrebt, dass im Imperium Friede, Ruhe und Ordnung herrschten. Den Gefallen taten die Paschtunen ihr nicht. Vom Zeitpunkt, als die Briten über den Indus setzten, bis zu ihrem Abzug herrschte kein einziger Tag Frieden in allen Paschtunengebieten.
Die Briten versuchten es nicht nur mit reiner Gewalt, das hatten sie aus Katastrophe von 1842 gelernt. Stammesälteste und Mullahs wurden durch Stipendien ruhiggestellt, was jedoch nie von Dauer war, weil die Forderungen stetig stiegen. Die meisten Gebiete wurden zu Tribal areas erklärt; zu Stammesgebieten, die nur formal zur Kronkolonie gehörten und wo die staatliche Verwaltung de facto nicht existierte.
Es gab keine Rechtsprechung, eigene Konflikte mussten (und wollten) die Stämme selber lösen. Andererseits galten bei Delikten gegen den Staat und bei Angriffen auf "settled areas" drakonische Strafen und Sippenhaftung. Die Paschtunen haderten trotzdem mit der Unterwerfung und probten regelmäßig den Aufstand, ob unter Mullah Powindah um 1900 oder dem Fakir von Ipi in den 1930er-Jahren.
Winston Churchill war Zeuge der Niederschlagung eines Aufstands der Mohmand 1897 und schrieb darüber sein erstes Buch. Dann kam die Peitsche zum Zug. Verbrannte Erde war die gängige Vergeltungsstrategie und ab 1920 begannen erste Luftangriffe auf zivile Ziele.
Der Großteil der Armee war im äußersten Westen der Kolonie stationiert und doch kehrte niemals Ruhe ein. Besonders provokant empfanden die Stämme 1893 die Teilung ihrer Gebiete durch eine internationale Grenze: die Durand-Linie. Die Briten verließen den Subkontinent, ohne dieser Region wie sonst anderen ihren Stempel aufgedrückt zu haben.
140 Jahre britische Paschtunenpolitik
Die Briten kolonisierten Indien auf raffinierte Weise. Trotz ihrer bis zum Ende geringen Anzahl und anfänglich bescheidenen Ressourcen wurden ein Riesengebiet und noch mehr Menschen unterworfen.
Schlüssel war die genaue Kenntnis aller Aspekte des Landes und zumindest zu Zeiten der Company sprach jeder Brite eine, wenn nicht mehrere indigene Sprachen. Im Westen stießen sie jedoch an ihre Grenzen. Nach dem ruinösen ersten Feldzug war klar: Afghanistan zu besiegen, war leicht, sogar ziemlich leicht, doch zu regieren unmöglich.
Genauer gesagt – es war möglich, doch kein Gewinn rechtfertigte die Kosten, die ins fast Unermessliche stiegen. Es gab in dem Land nichts als Sand, Steine und wilde Stämme, die ihre Art zu leben wie kaum sonst jemand verteidigten – was wollte man dort?
Deshalb: Strafexpedition ja, Besetzung nein. Die beste Lösung war, die Geschicke von außen zu lenken, wie es mit den Königen Dost Mohammad, Abdur Rahman und Amanullah gelang, die unterstützt wurden, ihr Reich zu einer (im weitesten Sinn) modernen und wohlgesinnten Nation zu formen.
Auf deren eigenem Territorium wurde versucht, die Paschtunen so gut wie möglich allein zu lassen, was jedoch fast komplett misslang. Als Nichtmuslimische waren Briten "haram", dem religiösen Gesetz nach verwerflich. Selbst in den settled areas galt als oberste Devise keine Einmischung in religiöse, kulturelle, innerfamiliäre (sogenannte family problems – Fehden) und soziale Angelegenheiten.
Die extrem restriktive Geschlechtertrennung (purdah) war ein besonderes Hindernis, die halbe Bevölkerung grundsätzlich unerreichbar. Die Paschtunen kümmerten sich nicht um koloniales Recht, für sie zählt seit frühester Zeit der Ehrenkodex pashtunwali (der öfter auch der Scharia widerspricht, besonders im Fall der Rechte der Frauen).
Im Nachhinein wurden 100 Jahre britische Herrschaft von beiden Seiten zum Teil erheblich verklärt, doch in Wirklichkeit überwog in dieser Hassliebe beidseitig das Erste.