Paschtunen: Umfassende Ablehnung westlicher Werte und Ideen

Seite 3: USA: Kapitale Fehlentscheidungen

Die Amerikaner waren ab den 1950er-Jahren entwicklungspolitisch engagiert. Sie bemerkten das Abdriften in den sowjetischen Orbit, unternahmen aber wenig, um Moskau vor seiner Haustür nicht übermäßig zu provozieren. Außerdem konnte man sich auf Pakistan und damals noch den Iran verlassen.

Die Möglichkeiten, die sich nach der verkorksten Revolution der PDPA boten, wurden jedoch sofort oder sogar vorhersehend wahrgenommen. Es gab einige warnende Stimmen, die aber mehr eine überharte Reaktion der Sowjets befürchteten als die Gefahren der Aufrüstung religiöser Fanatiker. Die Chance, dem Erzfeind die Schmach von Vietnam zurückzuzahlen, ließ man sich nicht entgehen.

Zur gleichen Zeit wurde islamistischer Terror ein weltweites Phänomen und ab Mitte der 1980er-Jahre immer lauter gefragt, ob den Amerikanern bewusst sei, dass sie im Kampf gegen die Sowjets die gleichen Kräfte unterstützten, die sie in der arabischen Welt bekämpften. Wiederum war für die afghanischen Mudschahidin, die zu Zweidritteln aus Paschtunen bestanden, der Sieg über die Sowjets nur der erste Schritt.

Für die aus der ganzen muslimischen Welt stammenden Sympathisanten, von denen sich manche ab 1988 zu einer Organisation namens al-Qaida vereinten, war das von Anbeginn klar – Dschihad bedeutete Kampf gegen alle Feinde des Islam.

Die beste Gelegenheit, dieser Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen oder sie zumindest um die territoriale Basis zu bringen, wurde verpasst, als man nach Abzug der Sowjets Afghanistan sich und seinen erschöpften Nachbarn überließ.

Natürlich ist es reine Annahme zu behaupten, es hätte die Möglichkeit zur Befriedung bestanden und man kann manchen verstehen, der in den 1990ern kein Interesse an einem Engagement hatte. Auch veränderte sich nach dem Kollaps der Sowjetunion das Weltgefüge und Afghanistan war nur noch ein Detail auf dem amerikanischen Bildschirm.

Doch es wurde nicht einmal versucht, dem Land nach dem Krieg eine Bruchlandung zu ersparen, was sich als kapitale Fehlentscheidung entpuppte. Pakistan, selbst zerrissen, ergriff die Initiative und förderte die Taliban, um Stabilität zu schaffen. Jedoch versanken beide im Chaos und wurden zum Tummelplatz von Extremisten und Fanatikern, zum idealen Brutkasten für globalen Terrorismus. Der 11. September 2001 war die logische Folge amerikanischer Politik und ihrer Versäumnisse.

Die US-Amerikaner gaben offen zu, dass sie sich getrieben von Vergeltungsgelüsten nicht den Kopf darüber zerbrachen, was geschehen soll, nachdem die Taliban gestürzt und al-Qaida zerschlagen waren. Und nicht nur Planlosigkeit war schuld; von Anfang an, seit 9/11, war das wirkliche Ziel Irak, dafür wurden die meisten Ressourcen zurückgehalten.

Es fehlten die Mittel, um beide Kriege konsequent zu führen. Das wurde bald bemerkt und nach wenigen Jahren war aus den Überresten der Taliban eine neue Bewegung geworden. Das war das zweite kapitale amerikanische Versäumnis, denn spätestens ab der schweren Dürre 2000 waren alle Afghanen erschöpft und kriegsmüde und hätten sich wohl jedem gebeugt, der eine auch nur leichte Verbesserung versprach.

Die ersten zwei, drei Jahre nach der Invasion waren die seit 1978 beste Chance für einen Neuanfang, doch aus Arroganz und Ahnungslosigkeit ließen die Amerikaner diese Chance verstreichen. Unter der unfähigen Bush W. Regierung entwickelte sich der Irakkrieg zu einem noch größeren Desaster als Afghanistan, wo das Wiedererstarken der Taliban die Konsequenz einer verfehlten Strategie war.

Der neue Präsident Obama versuchte zwar ab 2009 mit Aufstockung der Truppen das Ruder herumzureißen, doch da war schon aller Kredit verspielt – und Gewalt führt in Afghanistan ohnehin nie zu etwas. So kam es durch Inkompetenz, Betriebsblindheit, Tunnelblick und reines Chaos zum längsten Krieg der US-amerikanischen Geschichte – obwohl seit 2005 keine Chance auf einen wie auch immer gearteten Sieg bestand. Die Szenen vom Flughafen Kabul von Mitte August 2021, die an die Flucht aus Saigon erinnerten, waren das passende Ende eines Blindflugs ohne Strategie.

Den älteren Taliban waren wohl qualitative Unterschiede zwischen Sowjets und Amerikaner aufgefallen. Nicht aber, dass die einen im Namen eines totalitären Regimes agierten und die anderen im Namen von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten.

Den Insassen der Zellen der Hubschrauberbasis Bagram, die von den Sowjets gebaut und den Amerikanern betrieben wurde, war gleich, wer die Wärter und Folterknechte waren. Die Häftlinge im weiter betriebenen Guantánamo haben nichts davon, Gefangene der USA zu sein, weil ihnen die eigene und internationale Gesetze egal waren. Diese Schäden lassen sich für die USA in Geld gar nicht beziffern.

Unruheregion Afpak: Taliban in Pakistan und in Afghanistan

Zu Afghanistan hatte Pakistan von Anfang an ein schwieriges Verhältnis; jenes zu den eigenen Paschtunen war sogar schon davor angespannt, und das aus einem recht ungewöhnlichen Grund: In der Umgebung Peshawars formte sich unter der Führung von Abdul Ghaffar Khan, einem Utmanzai aus Charsadda, Widerstand gegen die Gründung Pakistans.

Ausgerechnet einer der als fanatische Muslime verschrienen Paschtunen wurde zum engen Freund von Gandhi und Nehru, praktizierte gewaltlosen Widerstand und nannte es einen Missbrauch des Islams, ihn als Basis der Teilung Britisch-Indiens zu benutzen.

Als es im Juli 1947 in der Nordwestgrenzprovinz zum Volksentscheid über die Zugehörigkeit zu Indien oder Pakistan kam, wurde er von Khan und seiner Bewegung boykottiert, weil nicht parallel der Anschluss an Afghanistan oder die Gründung eines unabhängigen Staates namens Paschtunistan gewählt werden konnte.

Khan und Pakistan wurden nie zusammen glücklich, begraben wollte er dort nicht werden. Beigesetzt wurde er 1988 in Jalalabad – dafür wurde selbst der Bürgerkrieg kurzfristig ausgesetzt.

Pakistan wurde auch nicht glücklich mit seinen Nachbarn. Mit Indien gab es umgehend Krieg wegen Kaschmir. Afghanistan wiederum stimmte als einziges Land gegen Pakistans Aufnahme in die UNO, Grund dafür war (und ist bis heute) die Ablehnung der 1893 gezogenen Durand-Linie.

Kabul forderte seinerseits ein Paschtunistan – ließ aber immer offen, ob als Teil seines Territoriums oder als unabhängiges Land.

Gegenseitige Destabilisierung war Alltag bis zur russischen Invasion. Diese zog auch Pakistan mit hinab. Für dessen Militärdiktator Zia-ul Haq war sie eher ein Segen, die Amerikaner stützen sein Regime. Nicht für das Land, zu einer Flut an Flüchtlingen kamen Drogen, Waffen, Extremisten und Terroristen. Kein Nachbar Afghanistans wurde so beschädigt wie Pakistan.

Die eigenen Paschtunen hatte man bis zu diesem Zeitpunkt quasi ignoriert. Wenn die stolzen Stämme in ihren FATA unabhängig leben wollten, sollten sie es: Dafür entzog sich der Staat fast völlig seiner Verantwortung.

Ein Beispiel nur: Bis in die 1980er-Jahre waren in Süd Waziristan mehr als 99 Prozent der Frauen Analphabeten. Günstig waren Gesetzlosigkeit und offene Grenze für Schmuggel aller Art – ob Drogen, Autos, Waffen, Kühlschränke, Spielzeug, Nahrungsmittel, einfach alles. Daran verdienten vor allem die Spitzen von Politik, Militär und Bürokratie; von dieser Zeit an begann die Korruption, den Staat und seine Institutionen ernsthaft zu zersetzen.

Bürgerkrieg gab es mit den eigenen Paschtunen ab 2001, als die jahrzehntelang unterstützten Extremisten in Afghanistan, die in Pakistans Madrassahs rekrutiert wurden, die Kehrtwende der Armee boykottierten.

Die Taliban im Stich zu lassen und dafür die Amerikaner zu stützen, stellte alles auf den Kopf. Das zweischneidige Schwert schnitt in die andere Richtung. Gleichzeitig mit den immer stärker auftretenden Taliban in Afghanistan begann die TTP (Tehrik-e Taliban Pakistan) ihren Generalangriff.

Ob das die Einsetzung eines Pro-Pakistan-Regimes und das Streben um Strategische Tiefe rechtfertige, war wohl selbst der Armee nicht mehr klar und sowohl in ihr wie im ISI gab es vermutlich Fraktionen, die an verschiedenen Tauenden zogen.

Vorübergehend "beruhigt" wurde die Situation im Inland mit mehreren Strafoperationen in den FATA, bei denen mehr Soldaten und Hardware zum Einsatz kamen als in den Kriegen gegen Indien 1965 und 1999. Doch scheint nach dem Sieg der Taliban im August 2021 wieder alles zu Asche zu werden: Sie lassen sich von Islamabad nicht kommandieren, im Gegenteil, sie unterbinden nicht die Aktivitäten der TTP auf ihrem Territorium.

Diese wiederum kündigte im November 2022 den Waffenstillstand mit der Regierung in Islamabad. Nun droht neben einem neuen Konflikt mit der TTP ein ernster Streit mit Afghanistan. Zu diesem Engpass führen 30 Jahre Mühen, die Taliban in Kabul in den Sattel zu hieven.