Pauschale Vorratsspeicherung ist verfassungswidrig
Interview mit dem Kasseler Rechtsprofessor Alexander Roßnagel über die Zukunft des Datenschutzes
Alexander Roßnagel hat im vergangenen Herbst zusammen mit seinem Dresdener Informatikkollegen Andreas Pfitzmann und dem Berliner Landesdatenschutzbeauftragten Hansjürgen Garstka im Auftrag des Bundesinnenministerium ein Gutachten zur grundlegenden Modernisierung des Datenschutzrechts vorgelegt (Grundpfeiler des Datenschutzes in der vernetzten Welt). Im Gespräch mit Telepolis erläutert er, warum die Pläne des Bundesrats, das gesamte Nutzungsverhalten der Surfer zu überwachen, nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Gleichzeitig fordert er die Politik auf, die Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes nicht weiter auf die lange Bank zu schieben. Seine Thesen wird Roßnagel am 7. und 8. Juni auf dem Kongress Safe Privacy in Berlin erläutern, zu dem die Heinrich Böll Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Neue Medien und zahlreichen weiteren Netzorganisationen einlädt.
Nach dem 11. September ist der Datenschutz ins Hintertreffen geraten. Anti-Terror-Pakete, Lauschverordnungen und Gesetzesentwürfe, die vor allem Telekommunikationsanbieter und Internet-Provider zur Vorratsdatenspeicherung verpflichten sollen (CDU/CSU beantragt neue Einschnitte ins Telekommunikationsgeheimnis), bestimmen das politische Umfeld. Werden die Freiheitsschutzrechte dem Streben nach Sicherheit geopfert?
Alexander Roßnagel: Es sieht in der Tat so aus. Die Terrorbekämpfung wurde in manchen Bereichen benutzt, um Regelungen gegen den Datenschutz durchzusetzen, die mit Terrorbekämpfung nichts zu tun haben. Zwischen Sicherheitsgewährleistung und Datenschutz muss das Verhältnis immer wieder neu ausbalanciert werden, ohne das eine gegen das andere auszuspielen. Ohne Sicherheit keine Freiheit, aber ebenso: Sicherheit hat der Freiheit zu dienen und darf nicht dazu führen, dass die Bürger die Freiheit gerade durch die Sicherheitsmaßnahmen verlieren, die zu ihrem Schutz dienen sollen.
Lassen sich die beiden Pole Datenschutz und innere Sicherheit beziehungsweise Strafverfolgung zusammen denken?
Alexander Roßnagel: Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Ausnahme- und Normalfall. Soweit Überwachungsmaßnahmen für den Ausnahmefall einer öffentlichen Gefahr gegenüber einer verdächtigen Person zugelassen werden, kann dies gerechtfertigt, vor allem aber kontrolliert und nach Beendigung der Gefahr wieder zurückgenommen werden. Werden dagegen Überwachungsinfrastrukturen aufgebaut, die eine alltägliche Kontrolle aller Bürger unabhängig von Verdachtsmomenten ermöglichen, ist dies mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nicht zu vereinbaren. Dies ist insbesondere der Fall, wenn unterschiedslos jede Internetkommunikation für eine gewisse Dauer gespeichert bleiben soll.
Wo genau liegt das Problem?
Alexander Roßnagel: Kommunikationsinfrastrukturen vorrangig nach Überwachungsinteressen zu gestalten, ist nicht freiheitsverträglich. Vielmehr muss gelten, dass die Überwachungsbehörden im begründeten Ausnahmefall auf die Daten zugreifen können, die vorhanden sind. Eine Vorratsspeicherung aller Daten ohne eine solche Begründung ist nach dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrig. Die Pole innere Sicherheit und Datenschutz lassen sich noch in einer weiteren Hinsicht zusammen denken. Wenn in dem Bereich staatlicher Überwachung von Bürgeraktivitäten der Datenschutz eingeschränkt wird, muss er zum Ausgleich in anderen Bereichen, in denen er der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung hinterher hinkt, verstärkt werden.
Die ubiquitäre Informationsverarbeitung durch die Technik verführt geradezu zum Datenspeichern, was sich vor allem auch die Marketingabteilungen zur Durchleuchtung der Interessen der Kunden zunutze machen wollen. Gibt es Gegenmittel und sind diese praktikabel?
Alexander Roßnagel: Zum Schutz der informationellen Selbstbestimmung gegen diese unbemerkten, aber intensiven Datensammlungen und Profilbildungen benötigen wir Mittel des Selbstdatenschutzes. Der Einzelne muss in einem technischen Umfeld wie dem Internet durch eigenbestimmte technische Instrumente in die Lage versetzt werden zu erkennen, wann und zu welchem Zweck Daten über ihn erhoben werden. Nur dann kann er entscheiden, ob er diese Datenverarbeitung zulassen will. Vor allem muss ihm die Möglichkeit eröffnet werden, zu surfen und im Internet zu handeln, ohne dass er personenbezogene Datenspuren hinterlässt. Einmal erhobene Daten sind in einem weltweiten Netz nicht mehr zu kontrollieren. Hier gibt es mit P3P, Anonymitätsdiensten, Pseudonymen, CookieCookern) und ähnlichen technischen Mitteln geeignete Instrumente. Für ihre Nutzbarkeit müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen und vor allem umfassende Aufklärungsaktivitäten ergriffen werden.
Immer häufiger wird von Buchautoren, Managern von IT-Firmen oder Politikern bewusst oder indirekt das "Ende der Privatsphäre" verkündet. Brauchen wir ein ganz neues Verständnis von Datenschutz?
Alexander Roßnagel: Jein. Wenn wir Persönlichkeitsentwicklung und Selbstentfaltung in der Informationsgesellschaft sichern wollen, müssen wir am Recht auf informationelle Selbstbestimmung festhalten. Wir brauchen also kein neues Ziel. Wir müssen aber neue Wege zu diesem Ziel suchen und hierfür auch neue Instrumente benutzen. Der administrative Datenschutz durch für ihn zuständige Behörden muss ergänzt werden durch Datenschutz durch Technik und Datenschutz durch Wettbewerb. Durch entsprechende Rahmenbedingungen muss es wirtschaftlich attraktiv werden, Datenschutz zu betreiben und wirtschaftlich nachteilig, Datenschutz zu ignorieren. Mittel dies zu erreichen, sind zum Beispiel das Datenschutzaudit und die Produktzertifizierung, die Unternehmen und Produkte positiv auszeichnen.
Mit dem Gutachten zur Grundmodernisierung des Bundesdatenschutzgesetzes plädieren Sie für die Festschreibung des Datenschutzes als Kommunikationsgrundrecht. Welche Reaktionen haben Sie damit bislang - auch bei ihrem Auftraggeber - ausgelöst?
Alexander Roßnagel: Zu dieser Forderung ist mir keine Reaktion bekannt. Die Einführung eines neuen Grundrechts in die Verfassung erfordert eine Zweidrittelmehrheit und setzt damit einen Konsens zwischen Regierung und Opposition voraus. Hierfür sind in Wahlkampfzeiten die schlechtesten Bedingungen.
Wie geht es weiter mit der Novellierung des Datenschutzrechts? Nimmt die Politik das Thema noch ernst oder sind die Pläne auf Eis gelegt worden?
Alexander Roßnagel: Da einerseits bis zur Wahl keine parlamentarischen Aktivitäten mehr unternommen werden können und andererseits das Thema zu kompliziert für einfache Wahlkampfslogans ist, ist es in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund gerückt. Allerdings wird das Thema in Fachkreisen weiter diskutiert, ist Gegenstand von Tagungen, Vorträgen und Fachartikeln. Es finden Gespräche zwischen dem Bund und den Ländern statt, um ein einheitliches Vorgehen auszuloten. Der Bundestag hat anlässlich der Diskussion des Tätigkeitsberichts des Bundesdatenschutzbeauftragten über alle Parteien hinweg angemahnt, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Modernisierung des Datenschutzrechts so rechtzeitig in den neuen Bundestag einbringt, dass er bis zur Mitte der kommenden Legislaturperiode verabschiedet werden kann. Insgesamt wurde das Thema nicht vergessen. Eine erfolgreiche Modernisierung des Datenschutzrechts erfordert aber ein erheblich größeres politisches Engagement.