Pflegenotstand

Seite 3: Abschließende Bemerkungen zum politischen Versagen

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Noch einmal: Die o.g. Missstände sind in erster Linie nicht dem Krankenhauspersonal, sondern der Politik zuzurechnen. So bleibt es bei der Eingangsthese: Der Wirkungsgrad von Politik ist negativ. In der Mehrzahl der Fälle jedenfalls und bei genauer Betrachtung. Zurzeit gibt es – mutmaßlich scheinbar – ein Gegenbeispiel: Die Politik erhält gute Noten, nicht beim Thema "Pflegenotstand", wohl aber mit Blick auf die "Coronakrise". Und nicht nur im Wege des Selbstlobs. Auch die Massenmedien bescheinigen insbesondere der Kanzlerin, sie habe die Krise "gut gemanagt".

Spätestens bei einem Blick in die Zukunft darf man Zweifel anmelden. Denn was war das "gute Management" des Coronaproblems, z.B. hinsichtlich Bewahrung der Lufthansa vor der Pleite mit neun Milliarden Euro staatlicher Stützung? Löcher aufreißen, um andere Löcher zu stopfen! M.a.W.: Hunderte Milliarden neue Schulden. So wird die Lösung für den Moment mit der Erzeugung eines neuen, in die Zukunft verlagerten Problems erkauft.

Das wiederum wird sich nur dann lösen lassen, wenn die Wirtschaft schon bald und in einem überdurchschnittlich langen Konjunkturzyklus "brummt", was – so die Konjunktur tatsächlich boomt – wiederum ein neues, anders geartetes Problem erzeugt, eine höhere Belastung der Umwelt nämlich, ein Problem, dessen Größe im Begriff "Umweltkatastrophe" deutlich wird und das die Politik - wiederum via "Tun durch Unterlassen" - selbst herbeigeführt hat.

Damit sind wir am Punkt eines Erklärungsversuchs für die negative Gesamtbilanz und mit Blick über den Moment hinaus. Vorausgeschickt: Selbstverständlich ist Politik kein einfaches Geschäft und selbstverständlich sind Politiker keine Dummköpfe, aber in mindestens zwei folgenreich zusammenhängenden Punkten haben sie ein grundsätzliches Defizit: Sie ignorieren das Komplexitätsproblem und neigen als Folge davon zur fortlaufenden Selbstüberschätzung. Stellvertretend für alle Erscheinungsformen dieses Problems steht das wohl geschichtsträchtige "Wir schaffen das!"

Das Verzwickte: Der Ausgangspunkt des Komplexitätsproblems ist eine menschliche Fähigkeit, über die kein anderes Lebewesen in diesem Ausmaß verfügt. Es ist die Fähigkeit, fortwährend Komplexität zu erzeugen (z.B. die Aufnahme von immer mehr und politisch und kulturell unterschiedlich verfassten Ländern in die EU), bei gleichzeitiger Unfähigkeit, die selbst erzeugte Komplexität zu beherrschen. Im Ignorieren dieser Doppelseitigkeit entsteht die Illusion von der grenzenlosen politischen Gestaltbarkeit der Welt.

Sei diese Welt der Markt, das Gesundheitsweisen oder welch anderes Subsystem auch immer. Wird als Folge dieser (objektiven!) Unfähigkeit die Grenze zur Erzeugung von Überkomplexität überschritten, spätestens dann wird es kritisch, weil das Mehr an Freiheitsgraden, das mit der Zunahme von Komplexität einhergeht, ins Negative umschlägt und nicht kalkulierbare Nichtlinearitäten, Nebenwirkungen u.Ä. entstehen lässt – bis der Systemverlauf am Ende "chaotisch", also unbeherrschbar wird. Der demographische Wandel (mit dem "kleinen" Folgeproblem "Pflegenotstand") wie auch der Klimawandel scheinen diesen Verlauf hin zu einem chaotischen und nicht mehr steuerbaren Zustand zu nehmen.

Verstärkt wird dieses Problem der zunehmenden Nichtbeherrschbarkeit von selbst produzierter Komplexität durch einen Systemfehler: Die politische Klasse besteht – geschätzt – zu 80% aus Kommunikatoren und nur zu 20% aus fachlich getragenen Problemlösern. Eine Umkehrung dieses Verhältnisses wäre dringend nötig und würde Missstände und Katastrophen der o.g. Art zumindest unwahrscheinlicher machen. Bislang ist die typische Bewegungsform immer wieder die: Es muss zuerst was passieren, am "besten" ganz Schlimmes (z.B. terroristische Anschläge mit Toten, in größerer Anzahl vorzeitig sterbende Alte, bedrohlich steigende Meeresspiegel etc.), bis die Politik reagiert.

Echte Problemlöser dagegen werden gelenkt durch das Zusammenspiel von prospektischem Denken und prophylaktischem Handeln, das einen Verzicht auf Steigerung der Komplexität ausdrücklich einschließt. Leider ist ein Umbau der Politik hin zu diesen Kompetenzen nicht in Sicht. Stattdessen reihen sich immer mehr bestandkritische Probleme mit Zukunftspotenzial aneinander, die alle Folge der Begehungsform "Tun durch Unterlassen" sind. Hier nur eine kleine Auswahl: "Umweltkatastrophe" / "Altersarmut" / "Bildungsnotstand" / "Clankriminalität" / "Flüchtlingskrise" / "bedingte Einsatzfähigkeit der Bundeswehr" / "Wohnungsnot" / "Überforderung der Polizei" etc. etc.

Bei Berücksichtigung der Kombination von prospektischem Denken und prophylaktischem Handeln gäbe es diese Miss- und Notstände nicht. Der übliche Hinweis auf unzureichende finanzielle Mittel ist eine Ausrede, weil bis Ende 2019 aufgrund einer überdurchschnittlich langen wirtschaftlichen Boomphase die Steuereinnahmen 10 Jahre in Folge sprudelten.

Bleibt am Schluss noch die Frage, warum der von mir monierte negative Wirkungsgrad der Politik bislang nicht zu einem desolaten Gesamtzustand von Wirtschaft und Gesellschaft geführt hat. Die Antwort ist einfach: Weil es außerhalb der Politik - von Wiederwahltheater unbeeinflusst und von Logik geführt - Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker, Facharbeiter etc. als Problemlöser gibt, welche die laufenden Fehler der Politik durch gute tägliche Arbeit und auf dem Weltmarkt anerkannte Produkte kompensieren, in ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschrittszeiten sogar überkompensieren.

Wie mutmaßlich oder hoffentlich auch hinsichtlich Coronakrise: Nicht in erster Linie die Managementaktivitäten und ständigen und sich widersprechenden Verlautbarungen der Politiker, sondern die harte und fachlich hochqualifizierte Arbeit der Virologen und Epidemologen wird letztendlich das Problem lösen. Hoffen wir es auch deshalb, weil die Problemlösung nicht zuletzt den sträflich vernachlässigten Alten und Altenpflegern zugutekäme.

Prof. em. Dr. Winfried D’Avis forschte und lehrte an verschiedenen Universitäten (Frankfurt, Klagenfurt, Perugia, Changsha) zu den Themen Logik der Forschung, Cognitive Science und Informationsgesellschaft. 2020 erschien sein Buch "Zu Hause… bis zum letzten Atemzug - Betreuung und Pflege in der Familie"

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