Prestigeprojekt in Tübingen: Wird das Cyber Valley zur "Amazon City"?

Seite 3: Amazon und Cyber Valley: Volle Unterstützung der Wissenschaftsministerin

Direkt im Anschluss wird Wissenschaftsministerin Theresia Bauer mit der Angabe zitiert, das "Land investiert in den kommenden Jahren rund 76 Millionen Euro in Infrastruktur und Köpfe". Den offenen Brief unterzeichnet haben u.a. Michael Black und Bernhard Schölkopf vom MPI für intelligente Systeme, die zu diesem Zeitpunkt noch als Amazon Scholars "nebenberuflich" bei Amazon beschäftigt waren. Auch MPG-Präsident Martin Stratmann unterstützte den Aufruf:

Wenn Europa in dieser Situation nicht den Anschluss verlieren wolle, müsse es seine Aktivitäten in diesem Forschungsfeld verstärken und bündeln.

Im Dezember 2018 war es dann so weit und Ellis wurde nach eigener Darstellung als "Graswurzelinitiative" gegründet und umfasst mittlerweile 34 "Units" (Arbeitsgruppen) in 14 Ländern – davon vier in Baden-Württemberg.

Die Finanzierung der Tübinger Unit, die als "Knotenpunkt im gesamten Ellis-Netzwerk" fungieren soll, erfolgt mit 100 Mio. Euro größtenteils durch die Hector-Stiftung, war jedoch an Bedingungen für öffentliche Investitionen – u.a. den Bau eines entsprechenden Instituts im Tübinger Technologiepark – geknüpft.

Die Gründung dieses Instituts im Januar dieses Jahres erklärte Wissenschaftsministerin Bauer zur Zündung der "nächsten Stufe im Cyber Valley" und unterstrich, dass "das Land Baden-Württemberg nun insgesamt rund 372 Millionen Euro für Cyber Valley bereitgestellt" habe.

Gründungsdirektor des Tübinger Instituts ist natürlich Bernhard Schölkopf, der auch im vierköpfigen Vorstand der "Ellis Society" sitzt. Nach wie vor betont diese allerdings:

"Europe is not keeping up: many of the top labs and top places to do a PhD are located in North America; moreover, AI investments in China and North America are significantly larger than in Europe.

Unterstützt wird Ellis von zahlreichen Unternehmen aus Deutschland (darunter Audi, Bayer, Bosch, Porsche und Siemens) – aber auch aus den USA (darunter Amazon, Facebook, Google und NVIDIA).

Sowohl in der o.g. Pressemitteilung zum Rahmenabkommen zwischen Max-Planck-Gesellschaft und Amazon, wie auch im (teilweise gleichlautenden, aber namentlich vom stellvertretenden Redaktionsleiter gezeichneten) Artikel hierzu im Schwäbischen Tagblatt wird wiederum Michael Black zitiert, der sich freut, "dass unser Cyber-Valley-Partner Amazon sein Engagement für die Grundlagenforschung in Tübingen und in der Max-Planck-Gesellschaft insgesamt deutlich erhöht".

Seine (ehemalige) Finanzierung durch Amazon wird in beiden Quellen nicht erwähnt – obwohl sie dem Autor vom Schwäbischen Tagblatt bekannt ist. Diese lokale Tageszeitung hatte sich schon zuvor immer wieder parteiisch bemüht, das "Cyber Valley" als "europäische Antwort" der KI-Forschung "zwischen dem marktgetriebenen US-Modell und dem autoritären Modell Chinas" darzustellen und zu bewerben.

Die Linken-Fraktion im Tübinger Gemeinderat, die auch gegen den Verkauf des Amazon-Geländes gestimmt hatte, veröffentlichte demgegenüber eine Stellungnahme, in der sie kritisiert, dass Amazon hiermit einen "privilegierten Zugriff auf Tübinger KI-Forschung" erhalte und dabei "gegenüber den mehr als 300 Mio. Euro, die alleine die Landesregierung bisher für den Ausbau des Cyber-Valley bereitgestellt hat [...] dabei mit 700.000 Euro recht günstig davon" käme:

Damit kann Amazon auch die Fragestellungen und Lösungsansätze der öffentlich finanzierten Forschung und Ausbildung prägen und erhält privilegierten Zugang zu den dort erarbeiteten Ergebnissen. […] Statt einer "Alternative" zum "marktgetriebenen US-Modell" zeigt sich erneut, dass es sich beim Cyber Valley nur um eine billige Kopie davon handelt, nämlich mit öffentlichen Investitionen private Profite zu schaffen.

Der Standortnationalismus, die vermeintliche Konkurrenz u.a. zu den USA und die vielgepriesenen europäischen Werte entlarven sich durch die privilegierte Zusammenarbeit mit Amazon erneut als reine Nebelkerzen, um Zustimmung zu einer zutiefst neoliberalen Forschungspolitik zu generieren, von der zunächst diejenigen profitieren, die ohnehin schon den meisten Reichtum angehäuft haben – im Falle Amazons ganz eindeutig auch auf Kosten der Umwelt, der Arbeitsrechte und des Datenschutzes.

Die Stellungnahme verweist dabei u.a. auf eine konkret auch in der Pressemitteilung formulierte Fragestellung, "wie maschinelles Sehen genutzt werden kann, um das Einkaufserlebnis der Kunden von Amazon Fashion zu verbessern" wäre, aber auch auf die Stellung des Unternehmens als "Dienstleister von Militär- und Geheimdiensten der USA und von Polizeibehörden weltweit".

In Tübingen entwickelte Fortschritte u.a. bei der Gesichtserkennung und dem maschinellen Sehen können so auch rasch und nahezu unkontrolliert von Amazon in profitable, aber wenig ökologische oder gar militärische Anwendungen übersetzt werden. Der viel gepriesene "Ethik-Beirat" des Cyber Valleys ist natürlich auch für diese Form des Wissenstransfers nicht zuständig.

Die Linke-Fraktion im Tübinger Gemeinderat

Der hier angesprochene "Ethik-Beirat" des Cyber Valley war vermutlich eine Reaktion auf den unerwarteten Protest aus der Stadtgesellschaft und ein zentrales Argument bei der Zustimmung des Gemeinderates zum Verkauf des Geländes für ein Amazon-Entwicklungszentrum. Er ist jedoch nur für die Begleitung eines minimalen Teils des "Ökosystems" Cyber Valley zuständig, nämlich Projekte, die aus dem Cyber Valley Research Fund finanziert durch die entsprechenden Cyber Valley Forschungsgruppen durchgeführt wurden – und sich gerüchteweise überwiegend um Teilaspekte des "autonomen Fahrens" drehen.

Dass mehrere dieser Forschungsgruppen zugleich eingebunden waren in ein Forschungsprojekt zum "maschinellen Sehen" der Iarpa, also der gemeinsamen Forschungsagentur der US-Geheimdienste, war ihm lange gar nicht bekannt und fiel auch nicht in dessen Zuständigkeitsbereich.

Bei diesem Forschungsprojekt "MICrONs" ging es tatsächlich um Grundlagenforschung, und beteiligt waren mehrere Wissenschaftler, die früher am MPI für biologische Kybernetik geforscht hatten, zwischenzeitlich (bei einem ehemaligen Doktoranden von Schölkopf) in den USA waren und dann im Kontext des Cyber Valley wieder für Tübingen "gewonnen" werden konnten, um hier weiterhin in enger Kooperation mit Amazon – und teilweise finanziert von den US-Geheimdiensten – an der (über-)nächsten Generation "Künstlicher Neuronaler Netzwerke" zu forschen.

Wenn es das Ziel war, das Cyber Valley als "Alternative" zum "marktgetriebenen US-Modell" zu etablieren, so ist dieser vermutlich gescheitert. Vielleicht sollte man besser von einem "Ableger" sprechen.

Disclaimer

Der Autor dieses Beitrages war selbst im "Bündnis gegen das Cyber Valley" aktiv, hat hierzu ein Buch veröffentlicht und berät heute gelegentlich die zitierte Gemeinderatsfraktion in Fragen der "Digitalisierung" (er verzichtet deshalb auch auf sein Autorenhonorar hier). Der Beitrag ist parteiisch und skandalisiert Strukturen, die für die Forschung und Entwicklung grundsätzlich, insbesondere aber im Bereich der KI, typisch, für Viele vielleicht auch unproblematisch oder notwendig erscheinen.

Dennoch ist es dem Autor wichtig darzustellen, welche Strukturen eine vermeintlich unabhängige Wissenschaft in Form anerkannter Institutionen wie der Max-Planck-Gesellschaft und der Universität Tübingen dazu verleiten, die Darstellung und Interessen von Unternehmen wie Amazon zu übernehmen und zu vertreten und damit politische Entscheidungen beeinflussen.