Prestigeprojekt in Tübingen: Wird das Cyber Valley zur "Amazon City"?

Seite 2: Amazon in Tübingen: Kommune gerät unter Druck

Plötzlich wurde in der ganzen Stadt über "KI" diskutiert – meist eher abstrakt als konkret, obwohl sich in der überschaubaren Stadt eigentlich gut die konkreten Bedingungen, Interessen und Konstellationen zeigen, unter denen entsprechende Technologien entwickelt werden bzw. die hierfür als notwendig erachtet werden. Dazu gehört offenbar ein sog. "Ökosystem" aus Start-ups und Risikokapital sowie eine gewisse "Anziehungskraft", die von weltbekannten Unternehmen wie Amazon ausgehe.

Auch von aktivistischer Seite spitzte sich die Auseinandersetzung auf die Ansiedelung des Amazon-Entwicklungszentrums zu. Während die dem Cyber Valley zugrunde liegenden Verträge zwischen Unternehmen, Landesregierung, Universitäten und Max-Planck-Gesellschaft ja längst unterzeichnet waren, hatte hier nämlich auch die Kommunalpolitik ein Wörtchen mitzureden.

Denn das von Amazon präferierte Grundstück – direkt zwischen Max-Planck-Instituten und öffentlich finanzierten Gebäuden der Uni und des Cyber Valleys befand sich noch im Besitz der Kommune – die dessen Verkauf also zustimmen musste.

Das Bündnis gegen das Cyber Valley startete entsprechend eine Kampagne unter dem Slogan "Amazon ist kein guter Nachbar für ..." und wies in Flyern und Plakaten auf den Umgang des Unternehmen mit Arbeitnehmer:innenrechten und Datenschutz, auf seine Verbindungen zu Militär und Geheimdiensten, sein Verhältnis zum Feminismus und seine Folgen für Einzelhandel und Klima hin.

Während viele Mitglieder des Gemeinderates dieser Kritik grundsätzlich zustimmten, votierte am Schluss doch eine deutliche Mehrheit – nach einem Polizeieinsatz, bei dem Protestierende aus dem Saal gezerrt wurden – für den Verkauf des Geländes (für 500.000 Euro). Eine entscheidende Rolle dürfte dabei gespielt haben, dass Wissenschaftler:innen wie Schölkopf und Black immer wieder den Stellenwert betonten, der eine unmittelbare Präsenz von Amazon für den Erfolg des Cyber Valley habe.

Auch die Pressestellung der Universität schloss sich dieser Darstellung an und veröffentlichte kurz vor der Abstimmung im Gemeinderat eine Stellungnahme unter dem Titel "Entscheidung für den Forschungsstandort notwendig":

In der Debatte um die Ansiedlung von Amazon hat die Universität an alle politisch Verantwortlichen in der Stadt Tübingen appelliert, sich für eine Stärkung des Forschungsstandortes zu entscheiden. "Der KI-Standort Tübingen ist in den vergangenen zwei Jahren kontinuierlich gewachsen", sagte der Rektor der Universität, Professor Bernd Engler, am Dienstag: "Dennoch sind wir immer noch ein gutes Stück davon entfernt, zu den Top-Standorten in der Welt aufschließen zu können."

Vor diesem Hintergrund seien die Folgen einer ablehnenden Entscheidung gegenüber Amazon derzeit unübersehbar. "Die im Oktober 2017 von Amazon verkündete Entscheidung, dem Cyber Valley Verbund beizutreten und zusätzlich ein eigenes Forschungszentrum in Tübingen aufzubauen, hat seither entscheidend zur Sichtbarkeit des Cyber Valley beigetragen", sagte Engler. Werde dem US-Konzern die Ansiedlung eines Forschungszentrums nun verwehrt, wäre dies ein verheerendes Signal an KI-Forscherinnen und -Forscher weit über Deutschland hinaus.

Wie auch im Gemeinderat, so wurde auch von der Universitätsleitung die Standortentscheidung für Amazon als Notwendigkeit dargestellt, während man sich von der grundsätzlichen Kritik am "Industriepartner" nicht gänzlich distanzieren wollte:

[Rektor] Engler warnte davor, die Entscheidung über die Ansiedlung des Amazon-Forschungszentrums mit sachfremden Erwägungen zu verknüpfen. "Die Auseinandersetzung um die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung in Amazon-Logistikzentren wird nicht in Tübingen entschieden. Gleiches gilt für die Frage der Besteuerung von multinationalen Internetkonzernen."

Die Entscheidung des Gemeinderats werde aber einen erheblichen Einfluss auf die Frage haben, wie sich der KI-Standort Tübingen in der weiteren Zukunft entwickele: "Die Universität tritt dafür ein, dass wir künftig mehr und nicht weniger KI-Forschung in Tübingen haben." Engler sagte, Stadt und Universität hätten eine gemeinsame Verantwortung für Wohlstand und Beschäftigung in der Region […].

Wer Amazon nicht den roten Teppich ausrollt, hat sich demnach als Forschungsstandort – zumindest in Sachen KI – delegitimiert und wird scheitern. In der Debatte um das Cyber Valley wurde dabei auch immer wieder auf die Konkurrenz zu China und den USA verwiesen.

So findet sich auf der Homepage des Cyber Valleys bis heute eine Mitteilung vom April 2018 zu einem offenen Brief, in dem sich "Spitzenforscher" für mehr europäische Förderung der KI-Forschung, konkret den "Aufbau eines Europäischen Labors für Lernende und Intelligente Systeme (Ellis)" starkmachen.

Das Kernargument hierfür findet sich bereits im Untertitel der Mitteilung als "Warnung vor der Konkurrenz aus den USA und China". Zitiert wird in der Mitteilung u.a. der grüne Ministerpräsident des Landes, Kretschmann:

Um mit den USA und China mithalten zu können, bedarf es einer europäischen [sic] Anstrengung.