Prozesse gegen kurdische Oppositionelle in Deutschland

PKK-Flagge in Brüssel. Foto: Eoghan OLionnain/CC BY-SA 2.0

Dilettantisch geführte Ermittlungen - die Aufhebung des PKK-Verbotes ist erneut Thema

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Seit Oktober 2016 findet vor dem Berliner Kammergericht der Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Ali Hidir Dogan (52) statt. Ihm wird vorgeworfen, im Zeitraum der Jahre 2014 und 2015 in der BRD als sogenannter Gebietsleiter für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) tätig gewesen zu sein. In Deutschland laufen derzeit mehrere Prozesse gegen türkische Kommunisten und kurdische Aktivisten.

Nachdem Außenminister Steinmeier bei seinem Türkeibesuch die PKK mit dem IS auf die gleiche Stufe stellte, macht es ganz den Anschein, als ob die Bundesregierung beim Generalverdacht gegen die Kurden in Deutschland Erdogan entgegenkommen will. Dieser Eindruck entsteht, wenn man sich näher mit den Prozessen beschäftigt.

Kurden unter Generalverdacht - Kulturvereine bespitzelt

Im Fall Ali Hidir Dogan, wie auch bei den anderen §129b-Verfahren (Unterstützung einer terroristischen Vereinigung), weisen die Ermittlungsergebnisse keine kriminellen Handlungen auf. Dogan organisierte Ende 2014 Demonstrationen anlässlich des Kampfes um die nordsyrische Stadt Kobani, bereitete Busreisen zu kurdischen Kulturfestivals mit vor, nahm an Trauerfeiern teil und warb vor den türkischen Parlamentswahlen 2015 für die in der Türkei (noch) legale Oppositionspartei HDP.

Selbst Letzteres wird ihm als PKK-Unterstützung ausgelegt. Zu diesen Erkenntnissen kam das Berliner Landeskriminalamt (LKA) mittels Telekommunikationsüberwachung, Observationen und anderer "operativer Maßnahmen", die der LKA-Ermittler Kevin Rattke bei seiner Vernehmung am fünften Prozesstag bestätigte.

Der Ermittler sagte aus, dass ein kurdisches Vereinshaus seit geraumer Zeit durch eine versteckte Kamera observiert werde, die jeden Besucher aufnimmt. Bei dem Verein handelt es sich um einen eingetragenen kurdischen Kulturverein, in dessen Räumen auch andere eingetragene Vereine wie z.B. das Demokratische Gesellschaftszentrum der Kurden in Deutschland (Nav-Dem) Veranstaltungen und Treffen abhalten.

Auch die Rojava-Vertretung in Deutschland hat dort ihren Sitz. Ansonsten ist der Verein ein ganz normaler Treffpunkt für Männer und Frauen jeglichen Alters, man trifft sich zum Teetrinken und plaudern, Musik machen, eine Theatergruppe für Jugendliche und ein Kinderchor sind dort ansässig.

Dilettantisch geführte Ermittlungen

Keiner der Ermittler, weder die Beamten des Bundeskriminalamtes (BKA), noch der LKA-Beamte ist der türkischen oder kurdischen Sprache mächtig. Alle sind auf Übersetzer angewiesen. Die Art und Weise, wie "Beweise" ermittelt werden, um Ali Hidir Dogan als "'Terroristen" zu überführen, grenzt schon an Tragikomik, würde davon nicht das Schicksal des Angeklagten abhängen. Die BKA-Sachbearbeiterin Michaela Müller gab beispielsweise zu Protokoll, dass sie ihre Listen zu Anschlägen mit Hilfe des Google-Übersetzungsprogramms aus dem Internet erstelle.

Diese Listen sollen dokumentieren, dass die PKK in der Türkei eine Terror-Organisation ist, um eine Legitimation zu haben, vermeintliche Funktionäre auch in Deutschland nach dem Terrorparagraphen 129b zu verfolgen. Ihre Vorgehensweise erklärt Frau Müller dem Gericht:

"Ich mache das so: Ich rufe die Seite hezenparastin.com (eine Webpräsenz der kurdischen Guerilla, Anm. d.A.) auf. Dann kopiere ich die ganze Seite in den google-Translator und suche nach Wörtern wie 'Anschlag' oder 'Aktion'."Wird Müller bei ihrer Investigativ-Recherche fündig, schickt sie die betreffenden Absätze an eine Dolmetscherin, denn sie selbst spricht - trotz 8-jähriger Beschäftigung mit der PKK - weder türkisch noch kurdisch. Kriegt sie das nun verdeutschte Bekennerschreiben zurück, trägt sie den Anschlag in eine Liste ein - und fertig. Fertig? Nicht ganz. Es weiß ja jeder, dass die Angaben von Kriegsparteien manchmal eben nicht stimmen, deshalb führt die Kriminalistin nun ihre "Zweitrecherche" durch. Sie nimmt das Datum der Aktion und googelt erneut. Die erstbeste Webseite, die irgendwas ausspuckt - oft nationalistische Blätter von aktifhaber über Sabah bis Milliyet -, trägt Müller nun auch noch in die Liste ein. Damit enden die Ermittlungen.

LowerClassMagazin

Wer einmal versucht hat, einen türkischen Text mit dem Google-Übersetzer zu übersetzen, der weiß, wie brauchbar das Kauderwelsch ist, das da erscheint.

Ähnlich dilettantisch scheint der LKA-Beamte Rattke vorzugehen: Als Indiz für Dogans Führungsrolle wertet er die 'höfliche Anrede', mit der er oft angesprochen werde. Dass im Türkischen Plural und höfliche Anrede identisch sind, hörte der Beamte bei seiner Vernehmung zum ersten Mal. Auch dass in der kurdischen Kultur prinzipiell der Jüngere den Älteren mit Respekt begrüßt, scheint ihm unbekannt zu sein.

Das kurdische Wort 'Heval' bedeutet im Alltagsgebrauch 'Freund' und wird häufig dem Vornamen vorangesetzt, wenn man jemanden anspricht. Rattke übersetzt 'Heval' grundsätzlich mit 'Genosse', was es zwar auch heißen kann, was aber wenig gebräuchlich ist.

Im Oktober 2010 hatte der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, den §129b StGB auch auf die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzuwenden, da es sich um eine terroristische Vereinigung handele. Da es sich aber bei der PKK um eine Vereinigung außerhalb der EU handelt, ist das Vorliegen einer Ermächtigung zur Strafverfolgung von exilpolitisch aktiven Kurdinnen und Kurden in Deutschland durch das Bundesjustizministerium erforderlich.

Der Verteidiger von Ali Hidir Dogan, Lukas Theune, spricht in einem Interview von Gesinnungsstrafrecht. Bislang würden zwar nur sogenannte 'Gebiets- und Sektorleiter' der PKK verfolgt werden. Allerdings habe der Bundesgerichtshof in einem Urteil aus dem Jahre 2010 festgestellt, es gäbe keinen Grund dafür, diese Differenzierung zu machen. Man könne alle Mitglieder verfolgen, also alle politisch aktiven Kurdinnen und Kurden. Seine Sorge ist, dass es massenhaft zu verstärkten Repressionen gegen die kurdische Bewegung kommt.

Am 17. November 2016 hat Lukas Theune beim Kammergericht Berlin eine gerichtliche Entscheidung beantragt, wonach das Bundesjustizministerium dazu verpflichtet werden soll, die politisch motivierte und mit erheblichen Grundrechtseingriffen verbundene Verfolgungsermächtigung zurückzunehmen. In der 80-seitigen Begründung heißt es u.a.:

Das Bundesjustizministerium dürfe sich bei der Frage, ob es eine Verfolgungsermächtigung erteilt, nicht an außenpolitischen Opportunitätserwägungen orientieren und dabei hinnehmen, "dass die Würde der Menschen insbesondere im Südosten der Türkei" missachtet werde. Nicht zuletzt sollte die jüngste unmissverständliche Kritik des UN-Sonderberichterstatters, David Kaye, am Vorgehen der türkischen Regierung, bei einer Neubewertung berücksichtigt werden. Nach Rückkehr von einem einwöchigen Besuch bezeichnete er die Lage in der Türkei als katastrophal und die Maßnahmen unter dem Ausnahmezustand als drastisch und unverhältnismäßig.

Nadir.org

Der Druck aus Ankara auf die deutsche Politik nimmt zu, und der deutsche Schlingerkurs geht weiter. Einerseits kritisiert Steinmeier in Ankara die türkische Regierung für ihr Vorgehen gegen Presse und Opposition. Andererseits setzt er den IS und die PKK gleich. Auf Ankaras Anschuldigungen, Deutschland beherberge Tausende von PKK-Mitgliedern und weigere sich, diese auszuliefern, beeilte sich Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) zu versichern, er sei "offen und bereit" für Kooperationen mit der Türkei.

Aufhebung des PKK-Verbotes gefordert

Bisher fordert nur die Linke die Aufhebung des PKK-Verbotes. Aber auch innerhalb der SPD mehren sich die Stimmen, man müsse die Arbeiterpartei Kurdistans neu bewerten.

Vielleicht erinnert man sich daran, dass führende SPDler, wie z.B. der spätere Kanzleramtsminister Wischnewski, in den 60er Jahren gegen den Bündnispartner Frankreich die algerische "Terrororganisation" FLN unterstützt haben. Wischnewski hatte damals sogar die Kriegskasse der FLN verwaltet. Heute würde er dafür wahrscheinlich als Unterstützer einer terroristischen Vereinigung verurteilt werden.

Will man verhindern, dass massenhaft politisch aktive Kurden und Kurdinnen dem sicheren Tod in der Türkei ausgeliefert werden, muss die Aufhebung des PKK-Verbotes auf die Agenda. Das Brüsseler Gericht hat die Vorlage dafür geliefert. Die Richter stellten dort ein Verfahren ein mit dem Hinweis, in der Türkei herrsche Krieg und beide Seiten würden zur Waffe greifen.

Die PKK sollte als Befreiungsbewegung anerkannt werden, die sich wie viele andere Befreiungsbewegungen in der Welt für eine Anerkennung als ethnische Minderheit und für Autonomiestatute in den jeweiligen Nationalstaaten einsetzt. Sie hält sich an die Regelungen der Genfer Konvention, keine Kindersoldaten zuzulassen, und im Gegensatz zum türkischen Militär auch an die Verpflichtung, Kriegsgefangene menschenwürdig zu behandeln.

Erst letzte Woche haben türkische Soldaten in Van eine Frau bei lebendigem Leib verbrannt. Sie griffen ohne Grund ein Wohnhaus an und brannten es nieder. Nachbarn, die der im Haus befindlichen Frau zu Hilfe kommen wollten, wurden von den Sicherheitskräften daran gehindert.

"Ich bin stolz ein Türke zu sein", diesen Satz meißelten in den 1980er Jahren die türkischen Militärs in die kurdischen Berge. Heute wiederholt sich das Spiel, gepaart mit islamistischen Parolen. Europa muss Paroli bieten. Viele Migranten aus der Türkei, die in den 1980er und 1990er Jahren politisches Asyl bekommen haben, oder einfach aufgrund wirtschaftlicher Not migriert sind, sind Kurden.

Auch heute stammen die meisten Asylanträge, die von türkischen Staatsbürgern gestellt werden, von Kurden. Nur ein Bruchteil der Anträge wird positiv beschieden. Mittlerweile haben auch 43 türkische Staatsbürger mit Diplomatenpass um politisches Asyl gebeten.

Dabei handelt es sich um Diplomaten und deren Familien, sowie um Soldaten. Anders als bei den Kurden wird hier überlegt:

Man kann sie eigentlich nicht zurückschicken, weil man genau weiß, was ihnen dann droht. Aber wenn wir sie bei uns aufnehmen, wird das die ohnehin schon belasteten Beziehungen mit der Türkei vermutlich weiter schwer belasten.

Behörden-Insider im Focus

Die Mainstream-Medien mögen noch so oft das Gespenst der terroristischen PKK beschwören, Fakt ist, ob man das gut findet oder nicht, dass sich große Teile der kurdischen Bevölkerung mit Öcalan und seinen Ideen identifizieren. Zwar sind die Menschen kriegsmüde und wollen Frieden. Aber sie wissen, dass eine Kapitulation vor Erdogan keinen Frieden bringt. Sie setzten bisher auf den parlamentarischen Weg mit der HDP - aber der ist durch das Regime außer Kraft gesetzt. Auf wen können sie denn noch setzen? Wer außer der PKK setzt sich in der Türkei noch für die Kurden ein?

Erdogan bereitet Präsidialsystem vor

Am vergangenen Dienstag, während des Besuchs von Außenminister Steinmeier, hat die konservative Regierungspartei AKP einen Entwurf für die Einführung eines Präsidialsystems an die ultranationalistische rechte Partei MHP übergeben Zuvor hatte sich die MHP bei einem Treffen mit der AKP-Führung auf die Grundlagen einer Verfassungsänderung verständigt.

Das Referendum ist für das Frühjahr 2017 geplant. Wahrscheinlich wird es einen nahtlosen Übergang vom Ausnahmezustand zur Präsidialdiktatur geben. Für den Antrag benötigt die AKP eine Mehrheit von 60 Prozent. Die Stimmen der MHP werden dies besorgen. Deren Parteivorsitzender Devlet Bahçeli kündigte an, einer Verfassungsänderung nach Prüfung der Gesetzesentwürfe zuzustimmen, sollte die Regierungspartei seine Änderungswünsche berücksichtigen.