Rassistischer Sozialprotest?

Seite 3: Bunkermentalität als Krisenreaktion

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Der Rechtsextremismus ist eine "reaktionäre Reaktion" der verängstigten Bevölkerungsgruppen auf diese unverstandene Krisendynamik. Dabei ist der ideologische Mechanismus der Personifizierung von Krisenursachen ausschlaggebend, der die Krisenopfer zu den Verursachern der Krise imaginiert. Die Flüchtlinge sind schuld an der Krise, wie es zuvor die Griechen oder die Südeuropäer waren.

In vielen abstiegsbedrohten Bevölkerungsgruppen greift somit eine Art "Bunkermentalität" um sich, bei der die eigene materielle Stellung dadurch behauptet werden soll, dass die Krisenopfer für die Krise verantwortlich gemacht werden, um vermittels dieser Personifizierung der Krisenursachen die daraus folgenden Maßnahmen der Marginalisierung und Abstrafung der Krisenverlierer zu legitimieren. Das ist ein klassenübergreifendes Phänomen, das Menschen von der Unter- bis zur Oberschicht erfasst. Den Endpunkt dieser Logik bildet das Lager, in dem die ökonomisch Überflüssigen konzentriert werden. Und dies ist keine ferne Dystopie, sondern - nach dem Abschluss des Abkommens zwischen der EU und der Türkei - barbarische Krisenrealität.

Die sozialdemokratische Idee, dieser offen eskalierenden systemischen Krisendynamik mittels der paternalistischen Sozialpolitik aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnen zu wollen, um so der rassistischen Barbarisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken, kann bestenfalls als anachronistisch bezeichnet werden. Der Abbau der Sozialsysteme in nahezu allen kapitalistischen Kernländern in den vergangenen Jahrzehnten ist ja nicht auf den bösen Willen einer internationalen Bankerverschwörung zurückzuführen, sondern auf die Systemkrise, die zu einer systemischen Überproduktion und Überakkumulation, zu eskalierender Konkurrenz zwischen Unternehmen, Wirtschaftsstandorten und auch Lohnabhängigen führt - und somit den Sozialstaat zu reinem Ballast macht.

Das gilt auch für Deutschland. Das ganze "Wirtschaftsmodell" der BRD beruht auf den extremen deutschen Handelsüberschüssen, die hierzulande vermittels Schuldenexports noch die Illusion einer heilen Arbeitsgesellschaft aufrechterhalten. Deswegen kann in Deutschland ein umfassender Sozialstaat gar nicht mehr wiederaufgebaut werden, da hierdurch die deutschen Exportvorteile auf dem Weltmarkt aufgrund - mittelbar oder unmittelbar - steigender Kosten erodieren würden und das Land sehr schnell in Stagnation verfiele.

Ergo: Die "soziale Frage" ist gar nicht innerhalb der kapitalistischen Dauerkrise lösbar. Hierzu müsste die Systemfrage gestellt werden, die Frage nach einer humanen Alternative zu einer kollabierenden Gesellschaftsform, deren irrationaler Selbstzweck, dem wirklich alles untergeordnet ist, sich in der endlosen Anhäufung abstrakten Reichtums erschöpft. Gewissermaßen stellt das System die Frage nach einer Alternative in dem gegenwärtig um sich greifenden Chaos schon selbst - es würde schon reichen, sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Hierzu ist innerhalb der veröffentlichten Meinung der Bundesrepublik trotz offensichtlicher Kriseneskalation keine Bereitschaft zu sehen. Stattdessen redet die Sozialdemokratie den verängstigten und autoritär fixierten Menschen blanke Hirngespinste einer etwaigen Rückkehr zum Sozialstaat des 20. Jahrhunderts ein, die sich an der Krisendynamik nur blamieren können.