Reformulierung einer linken Position jenseits von links und rechts
Zuvor: Pierre Bourdieu: Gegen die Brüsseler Technokraten
Ulrich Beck: Demokratische Re-Regulierung
Joschka Fischer: Der Euro als Chance für eine europäische Diskussion
Ulrich Beck:: Die Bedeutung von transnationalen Institutionen
Pierre Bourdieu: Der Beitrag der Intellektuellen
Joschka Fischer: Der Neoliberalismus ist eine Werteentscheidung
Pierre Bourdieu: Gegen das Maastricht-Europa
Heute gibt es im Zeichen der Globalisierung keine fertigen Antworten mehr. Man kann sie weder in der einen noch in der anderen Ideologie einfach abrufen. Man kann eher Elemente im linken kosmopolitischen Denken, im Internationalismus, als etwa im Rückzug auf den Nationalstaat oder den Nationalismus finden. Aber es gibt auch im Neoliberalismus eine unfreiwillige Konsequenz kosmopolitischen Denkens und Handelns, weil der Weltmarkt eine Realität darstellt, die die einzelnen herausfordert. Wir haben es in vielen Bereichen mit Fragen zu tun, auf die wir antworten müssen und für die wir aus den bisherigen politischen Ideologien nicht ohne weiteres Antworten finden.
Ein Gesichtspunkt, der bisher nur untergründig eine Rolle gespielt hat, aber doch wesentlich unsere Diskussion bestimmt, ist die Frage der Arbeitslosigkeit, die Europa sehr bedrückt und die sicherlich nicht auf die Globalisierung zurückzuführen ist, sondern vielfältige Ursachen hat. Eine wesentliche Ursache sind die Rationalisierungsmaßnahmen in der Strategie, die natürlich auch die transnationalen Unternehmen zur Freisetzung von Arbeit verfolgen. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig zu erkennen, daß wir in einer Phase sind, in der die Entwicklung der Produktivkräfte so groß ist, daß wir mit sehr viel weniger Arbeitskräften sehr viel mehr Güter und Dienste erzeugen können, so daß wir tatsächlich eine Entwicklung haben, bei der wir nicht mehr davon ausgehen können, daß sich die Arbeitsgesellschaft in alle Zukunft hinein verlängern läßt.
In allen europäischen Staaten haben wir mit einer Umverteilung von Arbeitslosigkeit zu tun. Es werden immer mehr bunte Beschäftigungsformen für Vollbeschäftigung ausgegeben. In Deutschland ist schon ein Drittel der Menschen nicht mehr nach dem alten Muster voll beschäftigt, sondern sie arbeiten teilweise unterhalb der Versicherungsgrenze in vielfältig flexiblen Formen. In Großbritannien arbeitet so bereits über die Hälfte der Menschen. Das ist auch in den USA so, das immer Vorbild dargestellt wird.
Wir müssen uns also Gedanken darüber machen, wie Demokratie und Integration jenseits der Erwerbsarbeit möglich ist. Das ist auch eine der grundlegenden Fragen, auf die es natürlich eine Fülle von Antwortmöglichkeiten gibt, wenn man sich die Diskussionen aus der Vergangenheit ansieht, aber die bisher nicht in der nötigen Dringlichkeit aufgeworfen wurden und für die es im alten Spektrum von rechts und links keine gültigen Antworten gibt. Letztlich geht es hier um das Ringen einer linken Position, die jenseits von traditionellen linken und rechtens Positionen steht. Es geht nicht darum, diesen Dualismus vollständig zu leugnen, sondern die Positionen auf einer neuen Stufe zu reformulieren. Dazu bedarf es Anstrengungen, die auch so etwas wie den Begriff einer zweiten Moderne rechtfertigen.
Herr Fischer fragte, woher die neoliberale Ideologie ihre Dominanz gewonnen hat. Sie glauben aber wohl nicht, daß diese Ideologie neu ist. Die Frage kann nicht sein, woher diese Ideologie kommt, sondern nur, woher sie ihre Durchschlagskraft bezieht. Für mich hat das wesentlich mit der Defensive zu tun, in der linke Positionen nach dem Zusammenbruch des Ost-West-Konfliktes sich befinden, und mit der Schwierigkeit, sich auf diese Situation ein- und umzustellen. In dieser Situation konnte diese Ideologie ihre Macht gewinnen.
Interessant für die aktuelle politische Debatte finde ich, daß nicht hinreichend deutlich geworden ist, daß die letzten Wahlen in Großbritannien und Frankreich anti-neoliberale Züge hatten. Tony Blair wurde zwar oft als jemand dargestellt, der das Erbe von Thatcher angetreten hat. Man sagt sogar, daß er letzten Endes ein Konservativer sei. Das ist, glaube ich, eine falsche Sicht, denn er akzeptiert zwar eine ganze Reihe von Positionen des Thatcherismus in den konkreten Reformen, aber er betreibt eine Politik, die gerade deswegen in Großbritannien einen so großen Nachhall gefunden hat, weil der Thatcherismus als Defizit erlebt wird, weil hier genau studiert werden kann, was es heißt, wenn diese Politik über einen längeren Zeitraum greift. Die Wahl von Tony Blair war wesentlich eine Abwahl der Folgen des Thatcherismus. Inzwischen kann man sagen, daß wir in vielen Bereichen auch politische Wahlen als Reaktion auf diese Art Globalisierungsprozesse erleben können, über die wir hier diskutieren.
Joschka Fischer: Ein Begriff von Solidarität unter den Bedingungen der Globalisierung