Riskantes Manöver: Armeniens Schwenk von Russland zum Westen

US-Außenminister Antony Blinken, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Außenamtschef Josep Borrell und der armenische Premierminister Nikol Pashinjan in Brüssel bei einem Treffen am 5. April 2024.

US-Außenminister Antony Blinken, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Außenamtschef Josep Borrell und der armenische Premierminister Nikol Pashinjan in Brüssel bei einem Treffen am 5. April 2024. Bild: Alexandros Michailidis / Shutterstock.com

Jerewan löste sich von Moskau. Militärmanöver mit den USA fanden statt. Wie das u.a. den Verlust von Bergkarabach an Aserbaidschan ermöglichte. Gastbeitrag.

Durch die sukzessive Lösung des engen Verhältnisses zu Russland seit 2018 und seine Annäherungsversuche an den Westen hat Armenien unter Ministerpräsident Nikol Paschinjan die bisherige armenische Lebensversicherung gekündigt, ohne zuvor eine neue Lebensversicherung abgeschlossen zu haben.

Mittellage verzeiht keine Fehler

Aus Sicht der armenischen Opposition hat er damit Karabach verspielt und seine Landsleute verraten. Inzwischen gefährdet er auch die Republik Armenien selbst in ihrer Existenz.

Empören sich in Deutschland die Gemüter über die mangelnden Kenntnisse des Wirtschaftsministers von Physik, Wirtschaft und Energie und der Außenministerin vom Völkerrecht und über ihren sprachlichen Ausdruck, so mussten die Armenier die Unerfahrenheit ihres Premierministers auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik bereits mit einem höheren Preis bezahlen: mit Land und Menschenleben.

Die Mittellage verzeiht keine Fehler. Sie bestraft sie vernichtend. Glücklich sind Völker in Randlage.

Die samtene Revolution

Der 1975 in Armenien geborene Journalist und Oppositionspolitiker Nikol Paschinjan, der 2018 in einer "samtenen Revolution" unter der Losung der Bekämpfung von Korruption und Armut sowie der Wiedervereinigung ("Miazum") aller Teile Armeniens die Regierung stürzte und am 8. Mai zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, trat bereits früh als Kritiker der Bindung Armeniens an Russland auf.

Bereits als Oppositionspolitiker hatte er 2013 gegen den Beitritt Armeniens zur von Russland gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion und 2016 gegen die Aufstellung einer unter russischem Befehl stehenden Flugabwehr gestimmt: Armenien solle eine eigene Flugabwehr aufbauen.

Nach der samtenen Revolution kühlte sich das Verhältnis zur nördlichen Schutzmacht spürbar ab: Das russische Programm wurde aus dem kostenlosen Senderpaket des armenischen Fernsehens entfernt, bei Demonstrationen wurden russische Flaggen verbrannt.

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Weiter verschlechterte sich das Verhältnis, als die Sonderermittlungsbehörde Armeniens 2019 Anklage gegen mit Russland verbundene Politiker erhob: die karabachstämmigen ehemaligen Präsidenten Robert Kotscharjan (1998-2008) und Sersch Sargsjan (2008-18).

Hehre Versprechen

Als das armenische Verfassungsgericht daraufhin eine Beschwerde der Anwälte Kotscherjans an die Venedig-Kommission und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schickte, leitete Paschinjan mit Unterstützung der Open Society Foundation von George Soros eine Verfassungsreform ein und stellte sich gegen die gesamte ehemalige Regierungselite.

Insgesamt pflegte Paschinjan seit seinem Amtsantritt eine großsprecherische Rhetorik. So erklärte er, er werde dafür sorgen, dass die Bevölkerung Armeniens auf mindestens fünf Millionen Staatsbürger anwachsen würde, die Zahl der jährlichen Touristen auf fünfzehn Millionen.

Die Arbeitslosigkeit und Armut würden beseitigt, das Bruttoinlandsprodukt verfünfzehnfacht, der Durchschnittslohn versiebenfacht, das Bildungsbudget verzwanzigfacht werden. Armenien würde Fußballeuropa- und Weltmeister werden, bei den Olympischen Spielen fünfundzwanzig Medaillen erringen und ein Armenier wieder Schachweltmeister werden.

Ferner würden zehntausend Start-ups und mindestens fünf Technologieunternehmen mit einem Wert von über fünf Milliarden US-Dollar geschaffen und die armenische zu einer der zwanzig schlagkräftigsten Armeen der Welt aufsteigen.

Aserbaidschan und Geopolitik

Die innere Auseinandersetzung in Armenien und die Zeichen der Abkühlung zwischen Moskau und Jerewan wurden in Baku sehr aufmerksam verfolgt. Im Vorfeld des Rückeroberungsfeldzuges von 2020 wurden russische Politologen im aserbaidschanischen Fernsehen wiederholt gefragt, ob Russland Armenien im Kriegsfall unterstützen würde.

Gleichzeitig modernisierte Aserbaidschan mit den Einnahmen aus dem Gas-Boom seine Armee und rüstete sie mit türkischen und israelischen Drohnen auf. Über vergleichbare Einnahmequellen verfügt Armenien nicht: "Hajastan – Karastan", Armenien ist Steinland, weiß das Sprichwort: Aus einem Stein kann man kein Wasser pressen.

Die Spjurk-Armenier, die in Frankreich und Amerika starke armenische Diaspora, konnten zwar in den vergangenen Jahren die internationale Anerkennung des Mords an den Armeniern von 1915 als Genozid erreichen, nicht jedoch ausreichende Mittel zum militärischen Schutz der Kaukasusarmenier bereitstellen.

Für Israel dagegen ist Baku von zentraler strategischer Bedeutung. Von Aserbaidschan aus lässt sich der Iran abhören, von dessen Luftwaffenstützpunkt Sitalcay lassen sich ggf. Angriffe auf die Islamische Republik fliegen.

Die Niederlage

Vom 27. September bis zum 10. November 2020 eroberte Aserbaidschan im ersten Drohnenkrieg der Weltgeschichte den Großteil Bergkarabachs (Arzachs) und die umliegenden Gebiete zurück. Auch der von Russland vermittelte Waffenstillstand, bei dem russische Truppen die Waffenstillstandslinie zum armenischen Restgebiet Bergkarabachs kontrollieren sollten und der die Statusfrage Bergkarabachs noch offenhielt, wurde schon bald brüchig.

Im Mai 2021 drangen aserbaidschanische Truppen sogar auf das Territorium der Republik Armenien selbst vor.

Nochmals verbesserte sich die strategische Position Aserbaidschans durch den Ukrainekrieg, der russische Kräfte in der Ukraine bindet und so ein Eingreifen der Russen im Kaukasus erschwerte. Die EU wiederum schloss 2022 ein Gasabkommen mit Aserbaidschan ab, um russische Gaslieferungen zu ersetzen.

Im Januar 2023 sagte Paschinjan das mit den Russen geplante Manöver "Unzerstörbare Bruderschaft – 2023" ab; dafür kündigte das armenische Verteidigungsministerium im September im Rahmen der "Nato-Partnerschaft für den Frieden" ein armenisch-amerikanisches Militärmanöver an, das die Armenier auf internationale Friedensmissionen vorbereiten sollte.

Blitzkrieg 2023

Ohne dem gleichzeitig in der Republik Armenien stattfindenden armenisch-amerikanischen Militärmanöver "Eagle Partner 2023" überhaupt Beachtung zu schenken, eroberte Aserbaidschan in einem Blitzkrieg vom 19. auf den 20. September 2023 das armenische Restgebiet Bergkarabachs, dessen Regierung kapitulierte.

Der Großteil der armenischen Bevölkerung floh aus der Enklave, Nachrichten von Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung laden die Flüchtlinge ebenso wenig zur Rückkehr ein wie die Umbenennung einer Straße in Stepanakert nach Enver Pascha (1881 bis 1922), einem der Hauptverantwortlichen für den Mord an den Armeniern von 1915. Das konterkariert die Beteuerungen des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew, er werde für die Armenier in Karabach ein Paradies schaffen.

Durch ihren Exodus aus Bergkarabach sind die Armenier um einen Phantomschmerz, ihre Geschichte um eine Tragödie reicher geworden. Er reiht sich ein in die Geschichte der ethnischen Homogenisierungen des 20. Jahrhunderts.

Paschinjan, der eine Annäherung an den Westen suchte, hatte sich im Vorfeld der jüngsten Karabach-Kriege von der traditionellen armenischen Schutzmacht Russland entfernt, ohne sich zuvor des militärischen Schutzes einer anderen Macht zu versichern.