Ritalin & Co.: Niederländische Regierung will gegen Gehirndoping vorgehen

Seite 2: Warnung vor Nebenwirkungen

Der Staatssekretär fürchtet, dass ein Studium "mit Pille" normal werden könnte. Das sei nicht nur gesellschaftlich unerwünscht, sondern der Medikamentenkonsum könne auch zu körperlichen Nebenwirkungen führen.

So könnten Studierende, die Ritalin nehmen, Herzrasen, Schlafstörungen oder verminderten Appetit haben. (Hinweis: Wegen Letzterem werden Methylphenidat und Amphetamin auch zum Abnehmen verwendet, insbesondere von Frauen.)

Auch könne man davon ruhelos werden, Stimmungsschwankungen haben, Übelkeit oder gar Panikanfälle erfahren. Langfristiger Gebrauch könne zu einem Burnout führen, da die Konsumenten permanent aktiv blieben und der Körper dann zu wenig Ruhe bekomme.

Das stimmt im Grunde. Menschen unterscheiden sich aber darin, welche Nebenwirkungen sie beim Substanzkonsum in Kauf nehmen. Ich persönlich bin sehr zurückhaltend. Andere weniger. Insbesondere bei bestimmten Vorerkrankungen wie Herz-Kreislauf- und Lebererkrankungen oder der Neigung zu Psychosen sollte man mit den Stimulanzien aufpassen.

Ärztinnen und Ärzte würden diese Mittel aber nicht massenweise zur Behandlung von ADHS Verschreiben, wenn man dadurch gleich tot umfiele. In den Niederlanden lag die Verschreibungsquote von Ritalin & Co. für Kinder und Jugendliche zeitweise sogar über der von den USA, die absolut gesehen mehr Methylphenidat und Amphetamin verbrauchen als der ganze Rest der Welt zusammen.

ADHS-Diagnose in der Kritik

Interessanterweise kritisiert der Staatssekretär nun auch die zu häufige Diagnose von ADHS sowie deren "Überbehandlung". Die Weltgesundheitsorganisation warnte schon in den 1990er-Jahren (!) vor dem dramatischen Anstieg der Medikamentenverschreibungen.

Klinische Psychologen und Psychiater verteidigten sich jahrelang damit, sie würden nun endlich all die vorher unentdeckten Fälle richtig diagnostizieren (Siehe: Die größten Missverständnisse über die Aufmerksamkeitsstörung ADHS.) Dabei liegt es im Auge des Betrachters, welches kindliche und jugendliche Verhalten man als normal oder gestört ansieht. (Nein, Ihr Kind ist nicht krank!)

Wäre ich zehn Jahre später geboren worden, hätte man mir wohl auch diesen Stempel aufgedrückt. ADHS war in Deutschland in den 1980ern/1990ern aber noch nicht so populär. Die "Generation Ritalin" kam erst danach.

So blieb es in meinem Fall bei einer unschuldigeren "Anpassungsstörung". Und ja – an diese Gesellschaftsform will ich mich gar nicht anpassen!

Der Staatssekretär Paul Blokhuis (führendes Mitglied der ChristenUnie) verweist noch auf den zunehmenden Leistungsdruck und psychischen Stress für junge Menschen. Vor Kurzem schrieb ich hier noch darüber, wie das in seiner Regierungszeit aufrechterhaltene Kreditsystem die Studierenden stresst. Manche sitzen nämlich beim Einstieg in die Arbeitswelt schon auf einem Schuldenberg von 20.000 bis 30.000 Euro und haben dann auch noch eine schlechtere Chance auf eine gute Wohnung.

Das realistischere Bild

Es ist natürlich eine interessante Erfolgsstrategie für Politiker, ein Problem erst zu schaffen, um sich anschließend als Problemlöser zu inszenieren. Anstatt das Gehirndoping-Gespenst alle Jahre wieder austreiben zu wollen, könnte man doch einfach mal den Leistungsdruck und Stress anpacken; dieser hat natürlich soziale Ursachen.

In den letzten Jahren habe ich immer wieder übers Gehirndoping – oder "Neuro-Enhancement", wie es die Mehrheit meiner Kollegen nun lieber nennt – geschrieben. Dabei habe ich auch immer wieder Übertreibungen in den Medien thematisiert.

Nach dem Medientheoretiker Marshall McLuhan "is the medium the message". Das könnte hier bedeuten, dass (jedenfalls die meisten) Medien immer nur übers Gehirndoping schreiben, wenn der Verbrauch als dramatisch hoch und/oder steigend dargestellt wird. Andere Meldungen sind einfach nicht interessant genug.

So hat auch unsere Uni-Zeitung über Jahre hinweg immer wieder meine Vorschläge abgewiesen, einmal neutraler über das Phänomen Gehirndoping zu schreiben. Die Fehler mit den 16 Prozent wollte sie auch nicht korrigieren. Es lebe die redaktionelle Freiheit!

Mit einem Züricher Kollegen aus der Pharmakopsychologie, Boris Quednow, habe ich schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass es für diese Behauptungen – die massenhafte Verbreitung oder den Anstieg – keine wissenschaftliche Basis gibt. Zudem sind die Medikamente sowieso keine Wunderpillen: Sie steigern zwar subjektiv den Eindruck, bessere Leistung zu erbringen; im Experiment ließ sich eine tatsächliche Leistungssteigerung bisher aber nicht überzeugend nachweisen – jedenfalls bei gesunden Versuchspersonen, um die es beim Gehirndoping ja primär geht.

Besserer Unterricht statt Pillen?

Die Details habe ich in meiner Gehirndoping-FAQ zusammengefasst, die immer noch aktuell ist. Wahrscheinlich fühlen sich Menschen unter Einfluss der Stimulanzien vor allem motivierter, um stereotypische oder gar langweilige Aufgaben zu erledigen.

Da könnte man aber auch den Unterricht interessanter gestalten. Wenn jedenfalls meine Studierenden massenweise Medikamente (oder Drogen; die Grenze ist sowieso willkürlich) brauchen, um meine Kurse auszuhalten, sollte ein Anderer besser meinen Job übernehmen.

Natürlich merken die Studierenden selbst, dass Ritalin & Co. sie nicht wirklich schlauer machen – und hören dann nach einem oder allenfalls ein paar Versuchen überwiegend wieder auf. Das zeigen ja auch die Daten meines Kollegen Anselm Fuermaier. Wenn man die inzwischen über 100 Studien zur Verbreitung des Gehirndopings kritisch liest, kommt man auf eine einstellige Prozentzahl der regelmäßigen oder gelegentlichen Konsumenten.

Und genau das berichtet auch eine großangelegte neue niederländische Studie, die in etwa zeitgleich mit dem Brandbrief des Staatssekretärs erschien: Das angesehene Trimbos-Institut hat dafür fast 30.000 repräsentativ ausgewählte Studierende zu ihrem Substanzkonsum während der Corona-Lockdowns befragt. Ein Schwerpunkt war dabei die Zweckentfremdung stimulierender Medikamente.

Demnach haben 1.139 von 28.442 Studierenden – das sind vier Prozent – innerhalb der letzten zwölf Monate mindestens einmal konzentrationserhöhende Mittel ohne Rezept verwendet: junge Männer etwas häufiger als junge Frauen; außer Haus wohnende in etwa doppelt so häufig wie die, die noch bei den Eltern lebten; und Studierende mit Konzentrations-, Lese- oder Rechenproblemen mehr als doppelt so häufig wie der Rest.

Letzteres ist wieder im Zusammenhang mit der Diagnose psychischer Störungen interessant, deren Grenzen sowieso fließend sind. Nicht jeder will zum Psychologen oder Psychiater gehen, wo er einen Stempel aufgedrückt bekommt, der bei Krediten, Versicherungen oder bestimmten Berufslaufbahnen negative Auswirkungen haben kann.

Manche besorgen sich die Mittel dann lieber auf eigenes Risiko (und eigene Kosten). Bei anderen ist das Problem schlicht leicht unter der klinisch relevanten Schwelle.

Instrumenteller Substanzkonsum

Allen dürfte aber gemein sein, die Mittel zu einem bestimmten Zweck zu verwenden. Manche wollen Stress reduzieren, andere aufmerksamer sein, wieder andere gut gelaunt – und wir alle gut funktionieren? Das hat der Psychiater und Erlanger Professor für Suchtmedizin Christian P. Müller in einer lesenswerten Serie über instrumentellen Substanzkonsum genauer ausgeführt.

Insbesondere junge Menschen experimentieren eben auch mal mit unterschiedlichen Mitteln. Bei den Meisten ist das eine vorübergehende Phase. Diejenigen, die wirklich abhängig werden und bei denen der Konsum problematisch wird, haben hierfür meist individuelle Risikofaktoren (wie traumatische Erlebnisse, genetische Veranlagung).

Das kann sich nicht nur in Substanzkonsum, sondern auch in einer salopp so genannten Arbeits-, Ess-, Internet-, Sex- oder Spielsucht äußern. In der Psychologie spricht man von "Bewältigungsstrategien" – die meist aber nur eine Zeit lang gut gehen, wenn man an den zugrundeliegenden Problemen nichts tut.

Dass unter Studierenden keine außergewöhnliche Pillenkultur herrscht, sieht man auch an einem anderen Aspekt der ausführlichen Studie des Trimbos-Instituts: Rund 74 Prozent der Befragten gaben nämlich an, dass der Gebrauch konzentrationserhöhender Mittel im Zusammenhang mit Klausuren in ihrem Umfeld eher nicht toleriert würde. Rund 16 Prozent waren demgegenüber neutral eingestellt und nur 10 Prozent meinten, das wäre in ihrem Freundeskreis okay.

Also, lieber Politikerinnen und Politiker: Erzeugt nicht so viel Stress, dann müssen die Bürgerinnen und Bürger auch nicht so viel zur Stresskompensation tun. In der Coronapandemie haben sich die Muster des Substanzkonsums tatsächlich verändert – dazu aber beim nächsten Mal mehr.

Was das Gehirndoping betrifft, wäre auch ein Blick in die Geschichte hilfreich: Schon in den 1930er Jahren gab es Berichte zum Konsum stimulierender Mittel unter Studierenden in den USA und den Niederlanden. Da ging es um Amphetamin; Ritalin wurde erst etwas später entdeckt.

Wie schon Kokain zuvor, wurden diese und ähnliche Mittel in verschiedensten gesellschaftlichen Kreisen, vom Fernfahrer zum Regierungsbeamten, vom Soldaten zum Arzt oder Wissenschaftler, für ihre Zwecke verwendet. Demnach ist es gut möglich, dass Gehirndoping in den 1950ern bis 1970ern sogar häufiger vorkam als heute.

Dann dämonisierte man die Mittel drogenpolitisch im "War on Drugs" – um sie etwas später mit einem medizinischen Anstrich wieder einzuführen.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.

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