Rücktrittsforderungen als Massenbewegung
... und Ablenkung von Verantwortung
Früher kamen Rücktrittsforderungen vor allem aus Parteien und nur manchmal auch von Verbänden und Gewerkschaften. Dass einzelne Bürger so etwas formulierten, kam - wenn überhaupt - wahrscheinlich nur an Stammtischen vor und wurde von den damals existierenden Medien in jedem Fall geflissentlich ignoriert. Doch auch nach der Massenverbreitung von Internetzugängen dauerte es noch lange, bis sich die erste Rücktrittsforderungswelle bildete.
Sie begann am Samstagabend und betrifft einen Mann, dessen Name fast ein wenig erfunden klingt: Adolf Sauerland, den Duisburger Oberbürgermeister. Nicht nur in Blogs wie Ruhrbarone.de forderte man ihn zum Abdanken auf - es scheint auch kaum ein größeres deutsches Forum zu geben, wo nicht erstens über das Love-Parade-Unglück diskutiert und zweitens Sauerlands Rücktritt verlangt wurde. In Facebook widmen sich gleich mehrere Gruppen schon im Namen einer Amtsbeendigung des CDU-Politikers und auf Twitter fühlen sich ebenfalls massenhaft Nutzer bemüßigt, seinen Abschied zu verlangen. Nur ein "Fräulein Schuh", das regelmäßig ihren Ekel an der Welt kundtut, scheint sich dort von solchen Forderungen zu distanzieren - was möglicherweise auch mit Stellungnahmen wie "Ich hasse Idioten, die auf die Love Parade gehen" und "Ich hasse Idioten, die da hingehen und sich wundern, dass sie platt gemacht werden" zusammenhängt.
Sauerland reagierte auf all das bisher mit einer seltsam unentschlossen wirkenden Mischung aus Nachgeben und Aussitzen: Er könne, so der Oberbürgermeister auf seiner Website, die Forderungen nach seinem Rücktritt zwar "nachvollziehen", aber trotzdem müsse man sich "die Zeit nehmen dürfen, zunächst die schrecklichen Geschehnisse aufzuarbeiten".
Politiker sind nicht, wie man in den 1970er Jahren glaubte, reine "Charaktermasken" - aber es ist auch nicht alles falsch an den Theorien von damals. Die Wahrheit (und mit ihr der Nutzen eines Rücktritts) liegt irgendwo dazwischen. Um ihn zu bemessen, müsste man tatsächlich vorher ermitteln, ob eine strukturelle oder eine persönliche Unfähigkeit überwiegt.
Im Falle Sauerlands deutet einiges auf persönliche Unfähigkeit hin: Bereits im Vorfeld hatte es, wie nach und nach bekannt wurde, Warnungen gegeben, dass seine Veranstaltungspläne in die Katastrophe führen würden - nicht nur von Internetnutzern, die das Gelände kannten, sondern auch von Polizei und Feuerwehr. Pressefragen zu diesen Warnungen weicht der Oberbürgermeister bisher aus. Ihm unterstand in jedem Fall die Ordnungsbehörde, die das mit zahlreichen Ausnahmen bestückte Sicherheitskonzept genehmigte.
Zumindest rätselhaft ist auch, warum Sauerland noch kurz vor dem Unglück öffentlich von 1,4 Millionen erwarteten Besuchern sprach, obwohl das Gelände angeblich nur für 250.000 Menschen zugelassen war. Will man diese Diskrepanz mit einer sehr hohen Fluktuation und einer sehr kurz veranschlagten Durchschnittverweildauer erklären, dann stößt man schnell auf das Problem des Tunnels und seiner Durchlasskapazitäten, das schließlich auch die Katastrophe verursachte.
Ein Rücktritt hat allerdings die Nebenwirkung, dass er die Verantwortung anderer Personen potenziell vergessen macht - möglicherweise auch ein Grund, warum inzwischen nicht nur CDU-Politiker wie Wolfgang Bosbach, sondern auch die Grünen, die den Oberbürgermeister bei der Wahl unterstützten, seinen Abgang fordern.
Eine Figur, die bisher noch nicht ins Licht der Öffentlichkeit geriet, sich aber im Vorfeld als besonders lautstarker Mahner und Droher gegen eine Absage positionierte, ist Dieter Gorny, der Chef des Bundesverbandes Musikindustrie. Der ausgesprochen einflussreiche Funktionär, den die CDU erst unlängst in die Internet-Enquête-Kommission berief, hatte sich am 9. Februar in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) "bestürzt und erschrocken" über eine mögliche Ablehnung des Veranstaltungsansinnens gezeigt. Diese wäre eine "internationale Blamage", "peinlich" und eine "schallende Ohrfeige für das gesamte Ruhrgebiet", weshalb die Duisburger Stadtverwaltung "anpacken und nicht aufgeben" solle. Eine "richtige Metropole", so Deutschlands oberster Musiklobbyist damals, könne die Love Parade "stemmen".
In seiner öffentlichen Aufforderung kitzelte er nicht nur den (angesichts zahlreicher teurer Projekte wie der Wasserwelt Wedau und einer vom Promi-Architekten Hadi Teherani entworfenen "lebenden Brücke" offenbar nicht gerade unterentwickelten) Prestigesinn Sauerlands und lockte damit, dass "absolute Weltstars" nach Duisburg kommen und das Image der Stadt "weit über Europa hinaus" verbessern würden, sondern drohte auch mit negativen wirtschaftlichen Folgen einer Nichtzulassung.
Auch andere Personen machten sich im Vorfeld möglicherweise schwererer Verfehlungen schuldig als Sauerland: Weil der ehemalige Polizeipräsident Rolf Cebin die Love Parade verhindern wollte, wandte sich der Duisburger CDU-Kreisvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Thomas Mahlberg nach Informationen der Süddeutschen Zeitung an den damaligen nordrhein-westfälischen Innenminister Ingo Wolf und forderte Cebins Absetzung. Wörtlich schrieb der Parlamentarier, der nicht für eine Stellungnahme erreichbar war:
Die Duisburger Polizei ließ erklären, eklatante Sicherheitsmängel stünden der Durchführung der Love Parade entgegen. Eine Negativberichterstattung in der gesamten Republik ist die Folge. [...] Der Eklat veranlasst mich zu der Bitte, Duisburg von einer schweren Bürde zu befreien und den personellen Neuanfang im Polizeipräsidium Duisburg zu wagen.
Kurz darauf ging Cebin in Pension. Auch der ehemalige Bochumer Polizeipräsident Thomas Wenner, der die Durchführung der Love Parade in seiner Heimatstadt unter anderem mit Hinweisen auf die "Enge des Veranstaltungsraums und die Dysfunktionalität der Zu- und Abfahrtsströme" verhinderte, wurde im Oktober 2009 angeblich auf Wolfs Betreiben hin "in den Ruhestand versetzt". Mittlerweile ist Ingo Wolf zwar als Innenminister abgewählt, aber immer noch Landtagsabgeordneter, Vorsitzender des FDP-Bezirksverbandes Aachen und Vorstandsmitglied der Vereinigung liberaler Kommunalpolitiker.