Russland: Lockdown-Lockerung trotz Infektionsanstieg

Grafik: TP

Auch Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow hat sich nun angesteckt

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Wladimir Putin verkündete gestern das Ende des im März eingeführten Corona-Sonderurlaubs. Der sollte eigentlich nur eine Woche lang dauern, wurde dann aber auf insgesamt sechs verlängert. Gleichzeitig legte der russische Staatspräsident die Entscheidungsgewalt über solche und andere Anti-Corona-Maßnahmen in die Hände der Politiker in den russischen Regionen, die sehr unterschiedlich stark von der Seuche betroffen sind.

Während es im dünn besiedelten ländlichen Sibirien nur relativ wenige Fälle gibt, sind es in der Metropolregion Moskau verhältnismäßig viele. Dort hat Bürgermeister Sergej Sobjanin die Ausgangsbeschränkungen bis Ende des Monats verlängert und lediglich Industriebetriebe und Bauunternehmen ausgenommen. Außerdem verpflichtete er seine Bürger nicht nur zum Tragen von Masken, sondern auch von Handschuhen. Die Strafe, die bei Verstößen im öffentlichen Nahverkehr droht, ist mit umgerechnet 60 Euro für russische Verhältnisse drakonisch hoch.

Zahl der Infektionen in der Föderation deutlich gestiegen

Putin hatte die Lockerung des Lockdowns zum 12. Mai bereits letzte Woche in Aussicht gestellt. Für manche Beobachter kam sie trotzdem überraschend, weil die Zahl der Infektionen in der Föderation gerade deutlich steigt. Mit 232,243 nachgewiesenen Fällen gibt es inzwischen nur in den USA mehr. Unter den russischen Covid-19-Patienten befindet sich seit heute auch Dmitrij Peskow, der Sprecher des Kreml. In den vergangenen Tagen und Wochen waren bereits der russische Ministerpräsident Michail Mischustin, die russische Kulturministerin Olga Ljubimova und der russische Bauministers Wladimir Jakuschew erkrankt.

Peskow liegt jetzt in einem der russischen Krankenhäuser, in denen es gerade eine merkwürdige Serie von Stürzen aus Fenstern gab. Einige Medien vermuten dahinter Anschläge - andere Selbstmorde wegen völliger Erschöpfung. Der russische Finanzminister Anton Siluanow sieht sich deshalb mit dem Vorwurf einer Überbelastung des russischen Gesundheitssystems konfrontiert, für das derzeit lediglich dreieinhalb Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufgewendet werden. In Osteuropa liegt dieser Anteil bei über fünf, in Westeuropa bei über zehn und in den in diesem Bereich extrem teuren USA bei 16,9 Prozent.

Wenige Tote: Geschönte Statistik oder besserer Schutz von Älteren?

Trotz der hohen Zahl an Infizierten ist die offizielle Zahl der Covid-19-Toten mit 2.116 im Vergleich zu der in anderen Ländern relativ niedrig. Die Ursache dafür ist umstritten. Westliche Medien mutmaßen anhand des Schlagzeilenfalls der 36-jährigen Permer Journalistin Anastasia P. (bei der als Todesursache trotz eines zwei Tage vorher erfolgten positiven Sars-CoV-2-Tests eine doppelseitige Lungenentzündung als Todesursache eingetragen wurde), dass die offizielle Statistik korrekturbedürftig sein könnte.

Melita Vujnović, die Spitzenvertreterin der Weltgesundheitsorganisation WHO in Russland, hält es dagegen für möglich, dass Senioren und andere Risikogruppen durch die dort angeordnete und unter anderem durch Nationalgardisten, Drohnen und Hubschrauber überwachte "Selbstisolation" besser vor einer Ansteckung geschützt worden sein könnten als anderswo. Dieser Meinung ist man auch in der russischen Staatsführung, wo man die Erwartung hegt, dass die russische Sterberate auch nach Korrekturen wie der im Fall Anastasia P. "ein Drittel unterhalb der europäischen" liegen wird.

Allerdings ist die Zustimmung zur Selbstisolierung, die Anfang des letzten Monats noch bei 62 Prozent lag, inzwischen auf 47 Prozent gesunken. Das dürfte mit einer der Gründe sein, warum Putin die Entscheidung über Anti-Corona-Maßnahmen an die Regionen weitergab.

Helikopter-Kindergeld

Ein weiterer naheliegender Grund für die Nichtverlängerung des zentralen Lockdowns ist der Schaden, den die russische Wirtschaft dadurch erlitt. Sie will Putin nun mit Steuerbefreiungen für kleinere Unternehmen in besonders betroffenen Branchen wiederbeleben. Darüber hinaus soll ein staatliches Helikopter-Kindergeld in Höhe von umgerechnet 125 Euro den Konsum ankurbeln.

Das Volumen der gigantischen amerikanischen oder deutschen Corona-Rettungspakete wird damit bei weitem nicht erreicht. Das könnte damit zusammenhängen, dass Moskau wegen des aktuellen Ölpreiskrieges gerade wesentliche Staatseinnahmen fehlen. Und damit, dass der Kreml mehr als der Westen eine Inflation fürchtet, die einer so umfangreichen Erhöhung der Geldmenge folgen könnte. Sie erwartet unter anderem der gerade vom Portal SputnikNews interviewte ehemalige Deutsche-Bank-Chefvolkswirt Thomas Mayer.

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