Russland finanziert Atommeiler in Ungarn: Europas neue Energie-Abhängigkeit?

Flaggen EU, Russland

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Die neuen Reaktoren sind ein Politikum. Denn sie zeigen die Widersprüchlichkeit der EU-Atomkraftstrategie. Über Lücken im europäischen Sanktionsregime.

Als der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán am 5. Juli Moskau besuchte, um mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin die Aussichten für eine friedliche Lösung des Konflikts in der Ukraine zu erörtern, war die Aufregung in Brüssel groß. Auch Kiew verurteilte die Reise – insbesondere, da Ungarn seit Anfang des Monats den rotierenden EU-Vorsitz übernommen hat.

Wenn Orbáns Sonderweg okay ist

Es ging bei dem Besuch aber nicht nur um einen möglichen Waffenstillstand. Orbán und Putin sprachen auch über einen Atom-Deal – genauer gesagt über Paks II. Dabei handelt es sich um zwei neue Nuklearreaktoren in Ungarn, die mit russischen Krediten und der Hilfe des russischen Atomkonzerns Rosatom gebaut werden sollen. Putin erklärte nach den Gesprächen:

Die Arbeiten an dem gemeinsamen Vorzeigeprojekt, dem Ausbau des Kernkraftwerks Paks, gehen weiter. Die Inbetriebnahme des fünften und sechsten Blocks wird es ermöglichen, die Kapazität dieses Kraftwerks um mehr als das Doppelte zu erhöhen. Die Stromversorgung der ungarischen Wirtschaft und die Versorgung von Industrieanlagen und Haushalten mit preiswerter und sauberer Energie werden dadurch verbessert.

In Bezug auf diese ökonomische Kooperation zwischen Moskau und Budapest gab es vonseiten der EU in diesem Fall jedoch keine Zurechtweisung. Dabei sparen EU-Kommission und führende EU-Mitgliedstaaten ansonsten ja nicht mit Kritik und Opposition, wenn es um Orbáns "Sonderweg" geht.

Ausnahmeregelung für Reaktoren

So hat der ungarische Ministerpräsident seit über zwei Jahren die Bemühungen der EU, Kiew zu unterstützen und Sanktionen gegen Moskau wegen seines Vorgehens in der Ukraine zu verhängen, regelmäßig blockiert, verzögert oder abgeschwächt – und damit immer wieder den Unmut Brüssels auf sich gezogen.

Doch während beim EU-Außenministertreffen am 24. Juni gegen den Willen Ungarns entschieden wurde, die Zinsgewinne eingefrorener russischer Vermögen für Militärhilfen an die Ukraine zu nutzen, und man zugleich das 14. Sanktionspaket gegen Russland verabschiedete, ließ man Orbán beim Nukleardeal mit Russland nicht nur gewähren, sondern gab grünes Licht.

Ungarn erhielt eine Ausnahmeregelung von der EU für das Zwölf-Milliarden-Euro-Projekt des russischen Atomkonzerns zur Erweiterung des ungarischen Kernkraftwerks mit einer Gesamtkapazität von 2.000 Megawatt um zwei Blöcke mit jeweils 1.200 Megawatt – womit dann in Zukunft 80 Prozent des ungarischen Stroms von dem Atomkraftwerk Paks bereitgestellt werden können.

Russland als Kreditgeber

Der Bau der beiden Blöcke wird zugleich mit einem Kredit über zehn Milliarden Euro größtenteils von Russland finanziert. Ungarn wurde dafür vollständig von den EU-Sanktionen gegen Russland befreit.

Das bedeutet auch, dass sich europäische Unternehmen, darunter deutsche, französische und österreichische Firmen, an dem Paks-II-Projekt beteiligen können, ohne die Genehmigung ihrer nationalen Behörden einholen zu müssen. Die Vorbereitungen für den Bau laufen bereits, die Atomreaktoren sollen dann ab 2032 Strom liefern.

Einem Greenpeace-Bericht zufolge haben europäische Unternehmen wie Siemens Energy in Deutschland und das französische Unternehmen Framatome Verträge im Wert von Hunderten Millionen Euro für die Atomprojekte von Rosatom außerhalb Russlands abgeschlossen. Ohne diese Technologie- und Wissenstransfers würden viele der neuen Projekte des Staatsriesen zum Stillstand kommen.

Die Rolle von Siemens und Co.

Die unausgesetzte Zusammenarbeit ist möglich, weil die EU wie die USA Nukleartechnologie und den russischen Energieriesen Rosatom bisher nicht auf die Sanktionsliste gesetzt haben. Dabei zeigen Untersuchungen, dass Rosatom eine aktive Rolle bei der russischen Invasion in die Ukraine gespielt hat und spielt, vorwiegend im Zuge der Besetzung des ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja – und die Geschäfte mit dem Konzern indirekt die russische Aggression unterstützen, wie Kritiker betonen.

Außerdem ist der Technologie- und Wissenstransfers von europäischen Unternehmen an Rosatom geeignet, Russlands militärisches Nuklearprogramm zu befördern, für das Rosatom ebenfalls verantwortlich ist. Das ist umso brisanter, da hochrangige russische Staatsvertreter den USA, der EU und Nato immer wieder mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht haben.

Europäische Unternehmen wie Siemens haben jedoch darauf gedrängt, weiter mit Rosatom Geschäfte machen zu können. Dabei verweist man auf drohende Vertragsstrafen von EU-Staaten und die "schlechtere Alternative", dass dann "die Chinesen einspringen und die Steuerung für das Kernkraftwerk [Paks II] liefern" würden, "das viel näher an Deutschland liegt als damals Tschernobyl", so der Aufsichtsratsvorsitzende der Siemens Energy AG, Joe Kaeser, im Oktober 2023.

Russlands Marktmacht

Die widersprüchliche Sanktionspolitik der EU beim Thema Atomenergie zeigt sich auch daran, dass eine Reihe von Mitgliedsstaaten weiter nukleare Brennstoffe aus Russland beziehen und man fast zweieinhalb Jahre nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine weiter darauf angewiesen ist.

Rosatom hat einen Marktanteil von 36 Prozent bei der Urananreicherung und ist damit die weltweite Nummer eins. Es liefert Brennstoffe an 78 Atomkraftwerke in 15 Ländern (das sind 17 Prozent des weltweiten Kernbrennstoffmarktes).

Die Europäische Union hat ihre Importe von russischen nuklearen Brennstoffen im Jahr 2023 gegenüber dem Vorjahr sogar verdoppelt, wie die Handelsdaten zeigen. Dabei waren diese schon im Jahr 2022 um 80 Prozent angestiegen. Das betrifft 19 sowjetische Reaktoren in fünf Ländern – der Tschechoslowakei, Slowakei, Bulgarien, Ungarn und Finnland, die im letzten Jahr für fast 700 Millionen Euro russische Kernbrennstoffe bezogen.

Das könnte sich in den nächsten fünf Jahren nach Vorhersagen jedoch ändern. Denn es wird vermutet, dass der starke Anstieg damit zu tun hat, dass die Länder Rücklagen bilden, um den Wechsel auf andere Lieferanten in der Zukunft, mit denen man zum Teil schon Verträge unterzeichnet hat – darunter Westinghouse in den USA oder in Frankreich Framatom –, möglichst störungsfrei zu gestalten.

Bei Nuklearenergie zögert die EU

Doch wann eine solche mögliche Abkopplung abgeschlossen sein könnte, ist bisher nicht abzusehen, auch weil eine Reihe von EU-Ländern von Russlands Monopol für bestimmte Kernbrennstoffe wie NE 404 abhängig sind.

Ungarn hat sich zudem im Vertrag mit Rosatom verpflichtet, dass man in einem Zeitraum von zehn Jahren ausschließlich russische Brennstoffe importiert. Dort sind also keine Anzeichen für einen Schwenk weg von Russland zu erkennen.

Der ukrainische Minister für Energie, Herman Haluschtschenko, glaubt, dass die EU-Länder bei der Verhängung von Sanktionen gegen Rosatom "zögern". Das sei aus einer Reihe von Gründen "verständlich", darunter der Bau neuer Kraftwerke oder die Zusammenarbeit mit Russland auf dem Gebiet der Uran- und Kernbrennstoffversorgung.

Europas Energiepolitik

So wollen osteuropäische Ländern laut Bloomberg trotz der Sicherheitsrisiken (siehe Fukushima und Tschernobyl), der hohen Bau- und Betriebskosten, der Umwelt- und Gesundheitsbelastung (mögliche Strahlung, Erwärmung von Flüssen durch Kühlwasserableitungen) und der nicht gesicherten Endlagerung für atomaren Müll zukünftig ein Dutzend neue Atomkraftwerke bauen, mit einem Investitionsvolumen von 130 Milliarden Euro. Auch das könnte ein Grund sein, warum die EU im Hinblick auf Atomenergie beide Augen zudrückt.

Die deutsche Europaabgeordnete Viola von Cramon sagte gegenüber openDemocracy:

Rosatom ist der größte Lieferant für Atomkraftwerke, sogar in den USA. Das gilt für Frankreich, Ungarn, die Slowakei, für alle anderen mittel- und osteuropäischen Länder. (...) Aber derzeit sind sie stark vom russischen Uran abhängig, und das macht uns sehr schwach.

Die Abhängigkeiten

Nuklear-Experten betonen, dass die EU von russischen Umwandlungs- und Anreicherungsdiensten abhängig ist, Verträge mit Deponien für abgereichertes Uran in Sibirien geschlossen wurden und insbesondere Frankreich stark verstrickt sei mit Russland, wenn es um die enormen Mengen an nicht nutzbarem abgereichertem Uran geht, das ins russische Sewersk exportiert wird. Diese gewachsenen Handelsbeziehungen wirkten als eine Art "Bremsklotz", heißt es, der Sanktionen in diesem Bereich verhindert.

Shaun Burnie, leitender Atomexperte bei Greenpeace Ostasien, geht davon aus, dass "ein Teil der Europäischen Kommission die Ansicht vertritt: Okay, es gibt einen Krieg, aber warum sollten wir einen jahrzehntelangen Atomhandel stoppen, wenn dieser Krieg irgendwann zu Ende ist und wir wieder zur Tagesordnung übergehen können?"

Ein schlechter Deal

In Ungarn ging die Genehmigung für Paks II mit wenig Widerstand durch das Parlament. Doch es gibt auch Kritik. Benedek Jávor, Grünen-Politiker in Ungarn, hält das Paks-Reaktor-Projekt für viel zu teuer und eine finanzielle Katastrophe.

So liege die Zinsrate des russischen Kredits weit über dem, was sich der ungarische Staat auf den Finanzmärkten besorgen könnte. Auch sei der Ausbau nicht notwendig, um die Stromversorgung Ungarns zu gewährleisten, sagt Jávor. Es gäbe bessere Alternativen, die aber unterdrückt würden.

Das Problem ist, dass die Regierung die Entwicklung der erneuerbaren Energien behindert, indem sie seit 2010 die Installation neuer Windenergiekapazitäten durch administrative Maßnahmen verbietet und ganz auf Paks setzt.

Es ginge, so vermutet Jávor, bei dem Orbán-Putin-Deal auch gar nicht so sehr um Energieinteressen, sondern darum, die politische Allianz zwischen Ungarn und Russland zu vertiefen.