Visa für Russen: Warum Ungarns Einreise-Regeln den Streit mit der EU verschärfen
Ungarn erleichtert Russen und Belarussen den Aufenthalt im Schengenraum. Baltische Staaten und EU beunruhigt. Ihre Sorge hat vor allem einen Grund.
Seit Juli dürfen Russen und Belarussen zwei Jahre lang mit einer sogenannten National Card nach Ungarn einreisen. Damit ebnet die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán den Bürgern beider Staaten den Weg in den Schengen-Raum. Voraussetzung ist lediglich, dass sie im Auftrag ihrer Firmen in Ungarn arbeiten oder Geschäfte tätigen wollen.
Die Spezialgenehmigung, die bislang nur Ukrainern und Serben erteilt wurde, kann um drei Jahre verlängert werden und schließlich zu einem unbegrenzten Aufenthalt führen. Familienmitglieder dürfen nachkommen.
Die National Card kann in einem ungarischen Konsulat beantragt werden. Neben einem gültigen Pass müssen Bewerber ein umfangreiches Formular ausfüllen, in denen sie ausführliche Angaben zum Wohnort, Sprachkenntnisse, Familienstand, Staatsangehörigkeit, Krankenversicherung, den Grund des Aufenthalts und weiteres eintragen müssen.
Zudem verlangt die ungarische Ausländerbehörde biometrische Daten. Falls der Beschäftigte schriftlich zustimmt, kann auch seine Firma den Antrag einreichen.
Seit 2015 ist Ungarn für seine harte Migrationspolitik bekannt. Galt damals Orbáns Reaktion auf syrische Flüchtlinge noch als Skandal, erweist er sich mit seiner unerbittlichen Haltung gegen Asylsuchende und Migranten mittlerweile als EU-Trendsetter: Inzwischen haben auch Balten und Polen Zäune errichtet, um unwillkommene Einreisende abzuwehren.
Menschenrechtsorganisationen werfen auch diesen Ländern legalisierte (aber völkerrechtswidrige) Pushbacks vor, bei denen "Grenzverletzer" aus dem eigenen Territorium nicht selten regelrecht zurückgeprügelt werden.
Beobachter wundern sich, weshalb Ungarn ausgerechnet für Russen und Belarussen den Aufenthalt erleichtert. Manche spekulieren, dass die National Card russischen Rosatom-Mitarbeitern helfe, die in der Nähe der ungarischen Kleinstadt Paks das AKW erweitern sollen. Aber der ungarische Russland-Experte András Rácz bezweifelt diese Erklärung.
Rosatom habe bislang der EU keinen genehmigungsfähigen Plan vorgelegt, sodass sich der Bau verzögere und momentan noch keine Arbeiter benötigt würden. Außerdem sei für Rosatom-Beschäftigte eine Aufenthaltsgenehmigung überflüssig, die dazu berechtigt, überall in Ungarn zu arbeiten.
Rácz spekuliert, dass die Schließung der Budapester International Investment Bank (IIB) dem russischen Geheimdienst die Arbeit erschwerte. Das Geldinstitut galt als russische Spionagebank, deren Mitarbeiter die ungarische Regierung viele Freiheiten genehmigt habe, bis schließlich US-Sanktionen das Aus der Bank herbeiführten.
Nun könnten massenhaft Russen und Belarussen einreisen, damit seien ungarische Behörden überfordert. Rács sieht darin ein Risiko für Ungarn und den gesamten Schengen-Raum.
Die EU will Russen die Einreise erschweren
Ungarns Vorgehen widerspricht auch in dieser Frage der EU-Politik, die Russen die Einreise erschweren möchte. Der Europäische Rat der EU hatte im September 2022 das Visa-Erleichterungsabkommen mit Russland gekündigt. Russische Antragssteller müssen fortan mit mehr Bürokratie, höheren Gebühren und längeren Bearbeitungszeiten rechnen.
"Mit seinem grundlosen und ungerechtfertigten Angriffskrieg und seinen wahllosen Angriffen auf die Zivilbevölkerung hat Russland dieses Vertrauen zerstört und die Grundwerte unserer internationalen Gemeinschaft mit Füßen getreten", kommentierte damals der tschechische Innenminister Vit Rakusan den EU-Ratsbeschluss.
In Lettland beispielsweise müssen sich Einreisende aus Russland auf besondere Kontrollen gefasst machen. Der lettische Geheimdienst VDD überprüft an der Grenze zu Russland und Belarus, ob Einreisende aus diesen Ländern ein Sicherheitsrisiko darstellen:
Das Ziel der Überprüfung ist es, Personen zu identifizieren, die die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine unterstützen [...]
Im Überprüfungsverfahren wird besonders auf Ausländer geachtet, die beispielsweise einst in den Machtstrukturen Russlands oder Belarus' gedient haben, öffentlich die russische Aggression rühmende Symbole zeigen oder eine negative Einstellung gegen den lettischen Staat ausdrücken.
Der größte Teil jener Ausländer, denen die Einreise nach Lettland verweigert wurde, bekundeten offen die Unterstützung für die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine und dessen Einwohner, indem sie die typischen Botschaften der Kriegspropraganda des Kremls benutzten.
… erläuterte der VDD das Vorgehen auf seiner Webseite. Wer versucht, mit einem Fahrzeug ins Baltikum einzureisen, das ein russisches oder belarussisches Nummernschild trägt, muss mit der Beschlagnahmung seines Gefährts rechnen.
Sorge um die Sicherheit
Baltische Politiker reagierten auf Ungarns National Card für Russen scharf. Der estnische Außenminister Margus Tsahkna bezeichnete sie als Vorstoß in die falsche Richtung, die die Sicherheit Europas gefährde. Er sehe darin noch ein viel größeres Problem:
Orban und Ungarn spielen nicht im selben Team wie wir. Er spielt jetzt im Team der Gegenseite, obwohl er ein Mitglied der EU ist.
Der lettische Staatspräsident Edgars Rinkevics hält Ungarn ebenfalls für ein Risiko. Die Journalisten des lettischen ÖRR-Senders LTV interviewten Rinkevics am 1. August 2024, was er vom Beschluss der ungarischen Regierung halte, "Bürgern aus Russland und Belarus die Einreise ohne Sicherheitskontrollen zu ermöglichen" – so fragten die Journalisten wörtlich. Darauf antwortete Rinkevics: "Wir wissen, dass es Versuche gegeben hat, auf dem Territorium der EU Provokationen durchzuführen."
Er erinnerte dabei an den Anschlag auf das Rigaer Okkupationsmuseum Ende Februar, als drei Täter einen Molotow-Cocktail ins Gebäude warfen und Brandschäden entstanden. Zuvor hatten sie sich der Polizei mit Diebstahl und Drogenhandel bekannt gemacht. Die Brandstiftung sei laut LSM wahrscheinlich im "Hass auf den lettischen Staat, die Einwohner, Freiheit und das Museum als Objekt" erfolgt.
Ein Gefängnisinsasse, der verbotenerweise über ein Smartphone verfügte, steht im Verdacht, über einen Telegram-Kanal die Drei gegen Geld angeheuert zu haben. Der VDD mutmaßt, dass es sich um eine Aktion des russischen Geheimdienstes gehandelt habe. Beweise dafür sind der Öffentlichkeit bislang aber nicht bekannt.
EU-Politiker wollen Ungarn maßregeln
Rinkevics und die lettische Außenministerin Baiba Braze fordern von der EU-Kommission, Ungarn zur Rechenschaft zu ziehen. Auch der deutsche EU-Abgeordnete Manfred Weber, Vorsitzender der EVP, verlangte in einem Brief an den Ratsvorsitzenden Charles Michel, dass auf dem nächsten EU-Gipfel Ungarns Visa-Politik auf die Tagesordnung kommt.
Ungarns Regelung könne gravierende Schlupflöcher für Spionageaktivitäten schaffen und einer großen Zahl von Russen die Einreise nach Ungarn mit minimaler Überwachung gestatten, das stelle für die nationale Sicherheit ein ernstes Problem dar.
Ungarns Außenminister wertet die Kritik als "Schmierenkampagne"
Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó bezeichnete die baltischen Vorwürfe als "Propaganda".
Im Gegensatz zu dieser "kindlichen Lüge" benötigten russische und belarussische Staatsbürger weiterhin ein Visa, um in den Schengen-Raum zu gelangen und sie könnten eine Aufenthaltserlaubnis nur durch rechtmäßige Verfahren erlangen. Solche Aufenthaltsgenehmigungen seien Teil der nationalen Kompetenzen, über die auch die baltischen Staaten verfügten.
Es wäre viel besser, wenn meine Kollegen aus den baltischen Ländern ihre Bürger korrekt infomierten, statt neue Schmierenkampagnen zu starten.
Peter Szijjarto
Der Visa-Streit ist nur ein Teil des Risses, der die EU spaltet. Die Mehrheit der Mitgliedsländer bekennt sich zu einer nahezu uneingeschränkten Solidarität mit der Kiewer Regierung, beschließt Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Russland.
Polen und Balten führen diese Gruppe an und finden inzwischen in den neuen Nato-Mitgliedsländern Finnland und Schweden willige Unterstützer.
Auf der anderen Seite befinden sich Ungarn und die Slowakei in einer Minderheitenposition. Orban und Robert Fico sind bestrebt, sich gegenüber Russland und der Ukraine neutral zu verhalten und wünschen sofortige Friedensverhandlungen. In Brüssel sind solche Forderungen unerwünscht.
Der litauische Staatspräsident Gitanas Nauseda findet "die Frage immer akuter", was Ungarn erreichen will und ob es sich noch als EU-Mitglied betrachte. Die jüngsten Ereignisse deuteten seiner Ansicht nach darauf hin, dass Ungarn Mitglied einer Allianz weiter im Osten werden könne.
Faktisch tut Ungarn mit seinem Handeln alles, was für Russland günstig ist, indem es die Situation in der EU destabilisiert.
Gitans Nauseda