Russland ringt um seine Machtrolle

Seite 2: Russland vollzieht eine Wende

1. Der Kreml zieht Bilanz

Die russische Regierung präsentiert die Resultate der gesamten postsowjetischen Etappe der schönen neuen Weltordnung und erhebt schwere Vorwürfe: In 30 Jahren sind mit dem Vorrücken der Nato alle diesbezüglichen Zusicherungen im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen gebrochen worden.3

Es ist allgemein bekannt, dass uns versprochen wurde, dass sich die Infrastruktur des Nato-Blocks nicht einen Zentimeter nach Osten ausdehnen würde. Jeder weiß das. Heute sehen wir, wo die Nato steht: in Polen, in Rumänien und in den baltischen Staaten. Sie haben das eine gesagt, aber das andere getan. Sie haben uns einfach betrogen.

Wladimir Putin, 1.2.22

Ob das Versprechen überhaupt vorgelegen hat, ob schriftlich, mündlich oder gar nicht, der Streit, für den man in die Archive abtaucht und Protokollnotizen sowie das Erinnerungsvermögen der damals Beteiligten mobilisiert, mag für die völkerrechtlichen Rechtfertigungsarien der Nato-Staaten erheblich sein – was die unübersehbare strategische Sachlage betrifft, erfüllen die westlichen Widerlegungen den Tatbestand eines Ablenkungsmanövers.

Tatsache ist jedenfalls, dass sich das westliche Kriegsbündnis nicht nur mit den Staaten des Warschauer Pakts das komplette ehemalige Glacis der Sowjetunion inkorporiert hat, sondern diese sowie ehemalige Sowjetrepubliken wie Georgien und die Ukraine inzwischen auch als integrale Bestandteile seiner Front gegen den Kreml behandelt und mit seiner militärischen Infrastruktur unmittelbar an die russischen Grenzen heranrückt.

Früher hat die Nato mit Begriffen wie "vorübergehende Stationierung" gespielt. Jetzt spricht sie von einer vollständig nachhaltigen und turnusmäßigen Präsenz. Das bedeutet in Wirklichkeit eine ständige Präsenz... Liest man die Berichte der führenden westlichen politikwissenschaftlichen Zentren, so geben sie freimütig zu, dass sich die Nato durch die Verlegung ihrer Grenzen in die Vororte von St. Petersburg eigene Schwachstellen geschaffen hat. Gleichzeitig kann die Strecke von Tallinn nach St. Petersburg mit dem Fahrrad zurückgelegt werden; Nato-Kampfflugzeuge können St. Petersburg in weniger als zehn Minuten erreichen.

Vize-Außenminister Alexander Gruschko, Rossijskaja Gaseta, 20.12.21

Die russische Bilanz im Einzelnen:

a) Insbesondere die Verwandlung der Ukraine in einen dezidiert antirussischen Frontstaat verleiht der militärischen Bedrohung für Russland eine neue, kriegsentscheidende Qualität.

Was sie in der Ukraine tun, versuchen oder planen, findet nicht Tausende von Kilometern von unserer Landesgrenze entfernt statt. Es geschieht direkt vor unserer Haustür. Sie müssen verstehen, dass wir uns einfach nirgendwo mehr hin zurückziehen können.

Wladimir Putin, 21.12.21
  • Das ukrainische Heer, seit 2016 im Rahmen des Comprehensive Assistance Package for Ukraine in allen seinen Abteilungen von verschiedensten Nato-Staaten mit Hundertschaften von Ausbildern arbeitsteilig gedrillt, in mehr oder minder ununterbrochenem Manöverbetrieb an Nato-Standards in Sachen Bewaffnung, Organisation, Kampftechnik herangeführt, hat enorm an Schlagkraft gewonnen. Aus einer depravierten Truppe mit ein paar Tausend noch einsatzfähigen Soldaten, im Donbass-Krieg vernichtend geschlagen, ist ein ernstzunehmender Kriegsgegner mit eigenen militärischen Fähigkeiten geworden.4

Etwa die Hälfte der ukrainischen Armee steht an der Kontaktlinie im Osten; dazu kommen die bewaffneten Formationen der ukrainischen Rechten. Die Truppe ist ausgestattet mit gebrauchten Waffen in größeren Mengen und zunehmend auch modernem US-Gerät, das inzwischen nicht mehr frontfern gelagert – wie noch von der Trump-Administration gefordert –, sondern eingesetzt wird, ebenso wie neuerdings türkische Kampfdrohnen – so viel zur Einhaltung des sogenannten Waffenstillstands vonseiten der Ukraine. Die amerikanische Luftwaffe liefert die für eine Invasion in die Separatistenrepubliken nötigen Daten.5

Die Kriegsfähigkeit der Ukraine hat entsprechend zugenommen, und an ihrem Kriegswillen lässt die aktuelle Regierung auch keine Zweifel aufkommen, abzulesen an ihrem Aufmarsch im Frühjahr 2021 und den einschlägigen strategischen Planungen, auf die Russland verweist6:

Im März 2021 wurde in der Ukraine eine neue Militärstrategie verabschiedet. Dieses Dokument ist fast ausschließlich der Konfrontation mit Russland gewidmet und hat zum Ziel, ausländische Staaten in einen Konflikt mit unserem Land zu verwickeln. Die Strategie sieht die Organisation einer sogenannten terroristischen Untergrundbewegung auf der russischen Krim und im Donbass vor. Außerdem werden die Konturen eines möglichen Krieges skizziert, der nach Ansicht der Kiewer Strategen "mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft zu günstigen Bedingungen für die Ukraine" sowie – hören Sie bitte gut zu – "mit ausländischer militärischer Unterstützung in der geopolitischen Konfrontation mit der Russischen Föderation" enden soll.

Wladimir Putin, 21.2.22

Im Frühjahr ist die Ukraine zwar noch von ihren Schutzmächten ausgebremst worden, 7 davon verblieben ist aber eine dauerhafte Kriegsdrohung für die zwei Volksrepubliken und deren Schutzmacht Russland.

  • Mit der Inbesitznahme der Ukraine durch das Bündnis verliert Russland sein wichtigstes strategisches Vorfeld in Europa; oder, dasselbe umgekehrt ausgedrückt, die Nato steht unmittelbar an der mehr als 2.000 km langen Grenze zu Russland; sie beherrscht das einstige russische Vorfeld fast lückenlos, bestückt es zügig mit immer mehr Kriegsmitteln (Ausbau von Flughäfen, Radarstationen, Marinebasen), darunter schweres Gerät wie Raketen-Artillerie mit einer Reichweite von um die 1.000 Kilometer. Die für Russland bedrohlichste Aufrüstung in der Ukraine ist freilich die nach dem Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag wieder erlaubte Dislozierung von nuklearen Kurz- und Mittelstreckenraketen.8
  • Die derzeit noch bescheidenen Fähigkeiten der ukrainischen Kriegsmarine, die genutzt werden, um im Verbund mit Nato-Kräften die Manövrierfähigkeit der russischen Schwarzmeerflotte, deren Zugang zum Mittelmeer zu beschränken, werden vor allem mit britischer Hilfe zügig ausgebaut. Es entsteht eine moderne, an Nato-Standards orientierte militärische Infrastruktur am Schwarzen Meer, die Ukraine erhält neue Fregatten und Landungsschiffe – eine wertvolle Ergänzung der regelmäßig im Schwarzen Meer kreuzenden und übenden Nato-Zerstörer und -Fregatten (mit je ein paar Dutzend Marschflugkörpern und/oder mit Atomsprengköpfen bestückbaren Raketen an Bord), die Russland jetzt schon eine ständig bedrohlichere, eigenständige strategische Front an der südrussischen Peripherie eröffnen.9
  • Die Nato übt am Standort Ukraine den Krieg in Dauermanövern10 in so gut wie jedem Format und jeder Aufgabenstellung, von der nächtlichen Landungsoperation bis zum Raketenabschuss auf die russischen Machtzentren und Übungen zur Abschreckung auch mit Atomwaffen, alles ganz ohne formellen Beitritt der Ukraine zum Bündnis. Der Umfang dieser Manöver mit den Teilnehmern Georgien und Ukraine und zuweilen auch mit Provokationen, die einem Übergang zum offenen Krieg nahekommen – im letzten Frühjahr nimmt ein britischer Zerstörer in voller Gefechtsbereitschaft Kurs auf den Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte und lässt sich erst durch Bombenabwürfe der russischen Luftwaffe stoppen –, verlangt dem Gegner permanente Kriegsbereitschaft ab. Und das nicht nur in der Ukraine; an allen russischen Grenzen finden rund ums Jahr Nato-Manöver mit schweren Waffen statt, die eine dauerhafte Invasionsgefahr darstellen und das auch sollen. Angekündigt ist die nächste Übung in der Arktis, wobei mit der größten Selbstverständlichkeit auch neutrale Staaten wie Finnland und Schweden mit einbezogen und nachdrücklichst darauf aufmerksam gemacht werden, dass ihre Sicherheit letztlich nur in der Nato zu garantieren ist.11

Dies alles summiert sich zu einem militärischen Aufbau, der zur Eröffnung von für den Kreml mit konventionellen Mitteln nicht mehr beherrschbaren Kriegsszenarien an mehreren Frontabschnitten aus dem Stand heraus taugt:

Wenn die Ukraine in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommt, wird sich die Lage in der Welt und in Europa drastisch verändern, insbesondere für uns, für Russland. Wir können nicht anders, als auf diese reale Gefahr zu reagieren, zumal, ich wiederhole es, die westlichen Schirmherren der Ukraine ihr helfen könnten, diese Waffen zu erwerben, um eine weitere Bedrohung für unser Land zu schaffen. Wir sehen, wie hartnäckig das Kiewer Regime mit Waffen gefüttert wird...

In den letzten Monaten sind ständig westliche Waffen in die Ukraine geliefert worden, ostentativ und vor den Augen der ganzen Welt. Ausländische Berater überwachen die Aktivitäten der ukrainischen Streitkräfte und Spezialdienste... In den letzten Jahren waren Militärkontingente der Nato-Länder unter dem Vorwand von Übungen fast ständig auf ukrainischem Gebiet präsent. Das ukrainische Truppenkontrollsystem ist bereits in die Nato integriert worden. Das bedeutet, dass das Nato-Hauptquartier den ukrainischen Streitkräften direkte Befehle erteilen kann, sogar an ihre einzelnen Einheiten und Truppenteile.

Wladimir Putin, 21.2.22

Diese Bestandsaufnahme der realen Gefahr aus russischer Sicht ist keine bloße Sichtweise, wird in Russland beileibe nicht nur so gefühlt, sondern fällt zusammen mit dem real existierenden, gewaltigen militärischen Aufwuchs der Nato-Kräfte im Osten. Was auch Militärfachleute der Nato in ihrer nüchternen Art als Tatsache unterstellen, wenn sie in ihren Planungen davon ausgehen, dass sich das konventionelle Kräfteverhältnis in Mittel- und Osteuropa massiv zuungunsten Russlands verschoben hat. Und das fällt zusammen mit der immer weiter verschärften Nato-offiziellen Einstufung als Feind, die Russland sich mit seinem Beharren auf seinen Rechtsansprüchen als strategische Vormacht in Osteuropa zugezogen hat.12 Und nicht nur das.

b) Als nächsten Posten in seiner Bilanz führt Russland die Raketenstellungen in Polen und Rumänien auf, die, wie bereits erwähnt, demnächst durch weitere in der Ukraine ergänzt werden könnten:

Es ist äußerst besorgniserregend, dass Elemente des globalen US-Verteidigungssystems in der Nähe Russlands stationiert werden. Die MK-41-Abschussrampen, die sich in Rumänien befinden und in Polen stationiert werden sollen, sind für den Abschuss der Tomahawk-Raketen ausgelegt. Wenn diese Infrastruktur weiter ausgebaut wird und die Raketensysteme der USA und der Nato in der Ukraine stationiert werden, beträgt ihre Flugzeit nach Moskau nur 7-10 Minuten, bei Hyperschallsystemen sogar nur fünf Minuten. Dies ist eine große Herausforderung für uns und unsere Sicherheit.

Wladimir Putin, 21.1.22

Damit können sich die USA die Option verschaffen, Großstädte, Kommandozentren, Raketensilos, kriegsentscheidende Infrastruktur aller Art im europäischen Teil Russlands binnen Minuten zu zerstören, dem Feind also militärisch nicht abzuwendende katastrophale Schäden zuzufügen und ihm zugleich die Fähigkeit zu einem wirksamen Gegenschlag zu nehmen; also die Option für den "Enthauptungsschlag", von dem US-Strategen schon lange träumen.13

c) Die russischen Besorgnisse (eine herablassende Sprachregelung, mit der man im Westen die russische Lagebestimmung diplomatisch zurückweist) werden dadurch bekräftigt, dass Amerika seit dem Ende der Sowjetunion Zug um Zug sämtliche Rüstungskontrollverträge, gerade einmal mit Ausnahme von New START, gekündigt hat und Russland damit eine Neuauflage des Reagan’schen Totrüstens serviert.14

Gruschko [Vize-Außenminister] wies auf den völligen Verfall des Rüstungskontrollsystems hin: "Es begann damit, dass die Vereinigten Staaten aus dem Vertrag zur Bekämpfung ballistischer Raketen ausstiegen. Dann haben sie die Nato-Länder daran gehindert, das Abkommen über die Anpassung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) zu ratifizieren, das als Eckpfeiler der europäischen Sicherheit dienen könnte. Dann ließ die US-Regierung den INF-Vertrag (über die Abschaffung von Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite) fallen. Und letztes Jahr wurde der Vertrag über den Offenen Himmel ernsthaft ausgehöhlt...

In ihrer Militärpolitik haben die USA und ihre Verbündeten versucht, die Überlegenheit in allen Räumen zu erlangen: zu Lande, in der Luft und auf See. Jetzt kommen noch der Weltraum und der Cyberspace hinzu. Sowie alle möglichen Schauplätze von Kampfeinsätzen. Konzeptionell, operativ und technisch wird die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen gesenkt. Wir stellen fest, dass die Szenarien verschiedener Übungen eine nukleare Komponente enthalten, was uns größte Sorgen bereitet."

Tass, 12.1.22

d) Des Weiteren musste Russland registrieren, dass alle seine diplomatischen Bemühungen um die Anerkennung russischer Sicherheitsinteressen ins Leere gelaufen sind. Die Angebote im Sinne des gemeinsamen Hauses Europa, der Vorschlag zum Aufbau einer europäischen Friedensarchitektur sind ebenso unbeantwortet geblieben wie die Alternative, die Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 vorgelegt hat.15

Im Jahr 2009 legten wir unseren westlichen Kollegen den Entwurf eines Europäischen Sicherheitsvertrags zur Prüfung vor. Wir wurden missverstanden und ziemlich unhöflich behandelt. Man sagte uns, dass dieser Entwurf niemals auf den Tisch kommen würde. Wir verwiesen auf die Dokumente, darunter die Europäische Sicherheitscharta und andere Dokumente, in denen die Notwendigkeit der Einhaltung des Grundsatzes der Unteilbarkeit der Sicherheit hervorgehoben wird. Wir haben deutlich gemacht, dass wir die politischen Verpflichtungen, die wir alle eingegangen sind, in eine rechtsverbindliche Form bringen wollen. Ihre Antwort hat alles gesagt: Rechtsverbindliche Sicherheitsgarantien können nur den Bündnismitgliedern gewährt werden.

Außenminister Sergej Lawrow, 14.1.22

Vor über zwei Jahren, nachdem die Amerikaner den INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces) zerstört hatten, schickten wir eine Initiative des russischen Präsidenten Wladimir Putin praktisch an alle OSZE-Länder. Er lud sie ein, sich einem einseitigen Moratorium anzuschließen, das wir für die Stationierung von landgestützten Mittelstreckenraketen und Kurzstreckenraketen verhängten. Voraussetzung dafür war, dass die gleichen Raketen US-amerikanischer Bauart nicht stationiert werden. Wir schlugen ein gemeinsames Moratorium vor.

Sobald wir dies ankündigten, nannten uns die Amerikaner und Europäer, die Nato-Mitglieder, hinterhältig. Sie sagten, wir hätten bereits Iskander-Raketen im Kaliningrader Gebiet stationiert und wollten ihnen nun eine solche Gelegenheit vorenthalten. Als der russische Präsident Wladimir Putin vor zwei Jahren diese Initiative vorschlug, schlug er vor, Überprüfungsmaßnahmen zu vereinbaren, die später vom Verteidigungsministerium erläutert wurden. Wir wollten sie einladen, Kaliningrad zu besuchen, die dort stationierten Iskander-Systeme in Augenschein zu nehmen und sich selbst davon zu überzeugen (wie wir es ihnen mehrfach vorgeschlagen hatten), dass sie nicht unter die Beschränkungen des INF-Vertrags fallen.

Im Gegenzug wollten wir US-Raketenabwehrbasen in Rumänien und Polen besuchen, um MK-41-Abschussgeräte zu besichtigen. Lockheed Martin stellt diese Raketen her und bewirbt sie auf seiner Website mit einer doppelten Zweckbestimmung: für die Raketenabwehr und den Abschuss von offensiven Marschflugkörpern... Die Nato-Vertreter sagten, dass ihnen das nicht passe... Der stets misstrauische Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte erneut, dies sei ein hinterhältiger Vorschlag.

Sergej Lawrow, 13.1.22

e) Im Fall der Ukraine-Diplomatie im Normandie-Format macht sich Russland keine Illusionen mehr über die deutsch-französischen Vermittlungsbemühungen: Frankreich und Deutschland agieren nicht als ehrliche Mittler, sondern decken die ukrainische Weigerung, ihre im Minsker Abkommen fixierten Pflichten zu erfüllen, 16 den Versuch, das, was die Ukraine damals aufgrund der militärischen Übermacht Russlands unterschreiben musste, am Verhandlungstisch wieder auszuhebeln – was ukrainische Politiker inzwischen auch offiziell zu Protokoll geben.17

Was unsere westlichen Kollegen tun müssen, anstatt Spielchen zu spielen, ist, Wladimir Selenskyj zur Umsetzung der Resolution 2202 des UN-Sicherheitsrates zu zwingen, mit der die Minsker Vereinbarungen angenommen wurden...

Sie [die Vertreter der Ukraine] haben vorgeschlagen, die Reihenfolge jetzt umzukehren und zu sagen: "Gebt uns unsere Grenze zurück, und danach werden wir entscheiden, ob es einen Sonderstatus geben wird oder nicht." Nehmen Sie den ukrainischen Gesetzentwurf über die Grundsätze der Staatspolitik in der Übergangszeit... Dieser Gesetzentwurf verbietet ukrainischen Beamten die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen. Er sieht Lustration [Entfernung von politisch belasteten Mitarbeitern aus dem Staatsdienst] statt Amnestie, eine militärisch-zivile Verwaltung statt eines Sonderstatus und keine mit diesem Teil der Ukraine abgestimmten Wahlen vor. Er sieht lediglich die "Wiedererlangung der Kontrolle über die besetzten Gebiete" vor.

Obwohl Frankreich und Deutschland versprochen haben, Selenskyj davon abzubringen, diesen Gesetzentwurf voranzutreiben, werden energische Anstrengungen unternommen, ihn in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Sie haben ihn dem Europarat vorgelegt. Die Venedig-Kommission des Europarats hat gesagt, dass der Entwurf ihrer Meinung nach in Ordnung ist. Sie äußerte sich zu den Rechtstechniken, erwähnte aber nicht, dass dieser Gesetzentwurf in direktem Widerspruch zur einschlägigen Resolution des UN-Sicherheitsrates steht.

Sergej Lawrow, 22.12.21

Auf die russischen Beschwerden reagieren die europäischen Verhandlungspartner mit halb-öffentlichen Erklärungen, nach denen man Selenskyj die Erfüllung der Vertragspflichten im Interesse an der Haltbarkeit seiner Regierung einfach nicht zumuten kann18:

Lawrow beklagte die Äußerungen von Jean-Yves Le Drian und Heiko Maas, dass der russische Entwurf Punkte enthalte, die im Normandie-Format "mit Sicherheit nicht akzeptiert werden", insbesondere "die Organisation eines direkten Dialogs zwischen Kiew, Donezk und Lugansk"." (Russisches Außenministerium veröffentlicht Briefwechsel mit Deutschland und Frankreich zur Ukraine

de.rt.com, 17.11.21

An anderer Stelle loben höchste europäische Repräsentanten die Politik der Ukraine und bestärken damit den revanchistischen Standpunkt der Selenskyj-Regierung:

Nur zwei Tage nach dem Telefongespräch, in dem die Staats- und Regierungschefs Frankreichs und Deutschlands ihr uneingeschränktes Engagement für die Minsker Vereinbarungen bekräftigten, fand in Kiew ein Gipfeltreffen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine statt, auf dem eine ausführliche Erklärung verabschiedet wurde, die von der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen, dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel und dem ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskyj unterzeichnet wurde und in der "der konstruktive Ansatz der Ukraine im Normandie-Format und in der Trilateralen Kontaktgruppe" sowie die Art und Weise, wie sie die Minsker Vereinbarungen umgesetzt hat, gelobt wurden.

Über Donezk und Lugansk und die Notwendigkeit eines direkten Dialogs mit ihnen wurde nichts gesagt. Russland wurde als "Aggressorland" dargestellt und als "Konfliktpartei" im Donbass bezeichnet. All dies steht im Widerspruch zu dem, was Angela Merkel und Emmanuel Macron versprochen haben.

Sergej Lawrow, 22.10.21

Angesichts dieser Konfrontation veröffentlicht das russische Außenministerium in einem demonstrativen Bruch der diplomatischen Gepflogenheiten den Briefwechsel mit Le Drian und Maas, um der Weltöffentlichkeit den Beweis zu unterbreiten, dass und wie die europäischen Verhandlungsführer ihre diplomatischen Zusicherungen Lügen strafen:

Ich bin sicher, dass Sie die Notwendigkeit eines solchen unkonventionellen Schrittes verstehen werden, denn es geht darum, der Weltgemeinschaft die Wahrheit darüber zu vermitteln, wer die auf höchster Ebene eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen erfüllt und wie diese erfüllt werden." (Russisches Außenministerium veröffentlicht Briefwechsel mit Deutschland und Frankreich zur Ukraine

de.rt.com, 17.11.21

Die Franzosen und die Deutschen haben diese Dokumente mitgetragen und sind Vertragsparteien des Normandie-Formats, aber sie beginnen, sich ganz auf die Seite des ukrainischen Regimes zu stellen... Präsident Wladimir Selenskyj traf kürzlich ... mit den Staats- und Regierungschefs Deutschlands und Frankreichs zusammen. Einmal mehr wurden die Maßnahmen Kiews zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen voll unterstützt. Das bedeutet, dass unsere Kollegen entweder ihre Unfähigkeit anerkannt haben, die Umsetzung der von uns gemeinsam festgelegten Bestimmungen zu gewährleisten, oder sie versuchen wissentlich, die Minsker Vereinbarungen zugunsten des Kiewer Regimes zu untergraben.

Sergej Lawrow, 22.12.21

Das ist das Fazit, das der russische Chefdiplomat aus den x Verhandlungsrunden zieht: Die europäischen Partner sind entweder nicht dazu in der Lage, die Ukraine zur Erfüllung ihrer Vertragspflichten zu zwingen, oder nicht willens. Entweder fehlt ihnen die nötige politische Macht oder sie sind Falschspieler; jedenfalls taugen sie nicht als Verhandlungspartner, und Russland verabschiedet sich vom Normandie-Format als einer sinnlosen Veranstaltung.