Russland ringt um seine Machtrolle

Seite 3: 2. Russland zieht dem Westen eine rote Linie: Keine Aufnahme der Ukraine in die Nato

Die Perspektive, dass die Ukraine nicht nur de facto, sondern auch de jure der Nato einverleibt wird, stellt für Russland eine essentielle strategische Bedrohung dar. Lawrow weist darauf hin, dass die Nato-Staaten die Ukraine zu militärischen Unternehmungen befähigen, sodass diese nach einem Eintritt ins westliche Bündnis dazu in der Lage wäre, Russland unmittelbar in einen Krieg mit der Nato hineinzuziehen:

Unter den Bedingungen, dass das Kiewer Regime hysterisch nach Wegen sucht, die Aufmerksamkeit von seiner Unfähigkeit abzulenken, die wirtschaftlichen, sozialen Probleme der Bevölkerung zu lösen, den Konflikt im Donezbecken gemäß Minsker Vereinbarungen zu regeln, ermutigt der Westen die Kiewer Behörden auf jede erdenkliche Weise, im Donbass militärische Gewalt anzuwenden. Das ist es, was Washington und andere westliche Hauptstädte sowie die Nato-Führung tun...

Wir dürfen die Wahrscheinlichkeit nicht ausschließen, dass das Kiewer Regime zu einem militärischen Abenteuer greifen wird. Das alles schafft eine direkte Sicherheitsbedrohung für die Russische Föderation.

Sergej Lawrow, 30.11.21

Der russische Präsident redet Klartext darüber, welche weiteren politischen Absichten die große Schutzmacht der Ukraine damit verfolgt, wenn sie die an die Macht gebrachte antirussische Staatsräson bekräftigt und anfeuert, und sie dafür mit den nötigen Mitteln ausrüstet19:

Nehmen wir an, die Ukraine ist Mitglied der Nato. Sie wird mit Waffen vollgestopft, moderne Angriffswaffen werden auf ihrem Territorium stationiert, genau wie in Polen und Rumänien – wer wird das verhindern? Nehmen wir an, sie beginnt mit Operationen auf der Krim, vom Donbass ganz zu schweigen... Stellen Sie sich vor, die Ukraine ist ein Nato-Land und beginnt mit diesen militärischen Operationen. Was sollen wir dann tun? Gegen den Nato-Block kämpfen? ... Ich glaube immer noch, dass die Vereinigten Staaten nicht so sehr um die Sicherheit der Ukraine besorgt sind... Ihr Hauptziel ist es, die Entwicklung Russlands einzudämmen. Das ist der springende Punkt. In diesem Sinne ist die Ukraine lediglich ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen.

Wladimir Putin, 1.2.22

3. Russland stellt dem Westen ein Ultimatum

Die russische Führung identifiziert die Erfolge der Nato im Osten als das, was sie sind: Schritte zur Herstellung einer überlegenen Kriegsfähigkeit. Sie legt diesen Befund in aller diplomatischen Förmlichkeit den USA und der Nato vor, um sie hinsichtlich ihres Kriegswillens zu befragen.

Es ist unerlässlich, auf ernsthafte und langfristige Garantien zu drängen, die Russlands Sicherheit in diesem Gebiet [Russlands westliche Grenzen] gewährleisten, denn Russland kann nicht ständig darüber nachdenken, was dort morgen passieren könnte.

Wladimir Putin, 18.11.21

Russland besteht hier auf seinem Recht, es beruft sich auf Zusagen, die ihm gemacht worden sind, nämlich auf die Formel der "Unteilbarkeit der Sicherheit" in den OSZE-Verträgen, darauf, dass die "eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer" gestärkt werden darf,20 um seinerseits den Rechtsverstoß aufseiten der Nato-Staaten anzuklagen.

2010 in Astana und davor 1999 in Istanbul haben alle Präsidenten und Premierminister der OSZE-Länder ein Paket unterzeichnet, das miteinander verknüpfte Prinzipien zur Gewährleistung der Unteilbarkeit der Sicherheit enthält. Der Westen hat nur einen Slogan aus diesem Paket "herausgerissen": Jedes Land hat das Recht, seine Verbündeten und Militärbündnisse selbst zu wählen. Aber in diesem Paket ist dieses Recht mit einer Bedingung und einer Verpflichtung für jedes Land verbunden, die der Westen unterschrieben hat: die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer zu stärken...

Ich möchte betonen, dass die Präsidenten, einschließlich des US-Präsidenten, diese Verpflichtungen unterschrieben haben, in denen sie versprachen, dass niemand versuchen würde, die eigene Sicherheit auf Kosten eines anderen zu erhöhen. Die Vereinigten Staaten behaupten, dass das Recht, Allianzen zu wählen, unantastbar ist. Aber wir sagen, vorausgesetzt, es verschlechtert nicht die Sicherheitslage für ein anderes Land. Das ist es, was Sie unterschrieben haben, meine lieben Herren.

Sie versuchen jetzt, unsere Vorschläge als Ultimatum darzustellen, aber wir sind da, um ihr Gedächtnis aufzufrischen und dafür zu sorgen, dass sie, anstatt zu schwafeln, ehrlich ihre Interpretation dessen darlegen, was ihr Präsident unterschrieben hat. Wenn er diese Dokumente in der Gewissheit unterschrieben hat, dass Russland niemals bekommen würde, was er versprochen hat, dann müssen sie das anerkennen. Dies wird ein weiteres Eingeständnis von ihrer Seite sein.

Sergej Lawrow, 28.1.22

Russland besteht auf seinem Recht in der Form, dass es den USA und der Nato ausformulierte Verträge vorlegt mit der Forderung, die Antworten mit schriftlichen Begründungen zu versehen – aufgrund der schlechten Erfahrungen mit westlichen Zusagen:

Unsere Initiativen sind eine komprimierte Darstellung der 30-jährigen Erfahrung unserer Beziehungen zum Westen.

Sergej Lawrow, 26.1.22

Die Militärinfrastruktur der Nato nähert sich direkt unseren Grenzen an. Wir wurden regelmäßig betrogen, von mündlichen Versprechen bis zu politischen Verpflichtungen, die in der Russland-Nato-Grundakte festgeschrieben waren. Diesmal beharren wir ausschließlich auf rechtlich verpflichtenden Garantien.

Sergej Lawrow, 22.12.21

Desgleichen verlangt man schriftliche Antworten darauf, wie der Westen die Formel von der Unteilbarkeit der Sicherheit einzuhalten gedenkt:

Wir möchten eine klare Antwort auf die Frage erhalten, wie unsere Partner ihre Verpflichtung verstehen, ihre eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten zu stärken, und zwar auf der Grundlage des Bekenntnisses zum Grundsatz der unteilbaren Sicherheit. Wie gedenkt Ihre Regierung diese Verpflichtung unter den gegenwärtigen Umständen konkret zu erfüllen? Sollten Sie sich dieser Verpflichtung entziehen, bitten wir Sie, dies deutlich zu erklären.

Sergej Lawrow, 1.2.22

Indem sie sich den ersten Teil dieses untrennbaren Pakets (das Recht jedes Staates, sich für ein Bündnis zu entscheiden) aneignen, versuchen unsere US- und Nato-Kollegen, alle anderen Teile zu streichen, ohne die der erste Teil ungültig ist. Wir sind nicht an diese Norm (Achtung des Rechts auf freie Wahl der Bündnisse) gebunden, wenn sie unter eklatanter Verletzung der anderen Teile dieses untrennbaren Pakets angewendet wird. Wir haben dies hinreichend ausführlich erläutert. Jetzt warten wir auf die schriftlichen Antworten.

Sergej Lawrow, 14.12.21

Im Einzelnen verlangen die russischen Vertragsentwürfe, dass sich USA und Nato einer weiteren Ausdehnung auf Kosten Russlands enthalten, insbesondere keine weitere Beschlagnahmung von Ex-Sowjetrepubliken mehr unternehmen und ihre militärische Infrastruktur und Truppen auf den Stand von 1997 vor der ersten Nato-Osterweiterung zurückführen.

Die Weltmacht soll auf weitere nukleare Aufrüstung rund um die Russische Föderation verzichten, die schon dislozierten nuklearen Kurz- und Mittelstreckenraketen abbauen – inklusive der Infrastruktur, die es für die Nutzung dieser Waffen braucht –, die Ausbildung von militärischem Personal für die Anwendung dieser Geschosse in allen non-nuclear countries einstellen und auch die Aufstellung neuer Atomraketen kürzerer und mittlerer Reichweite auf ihrem eigenen Territorium unterlassen, die Russland bedrohen können.

Russland bietet einen Deal auf Augenhöhe an, verpflichtet sich dazu, im Gegenzug ebenfalls keine neue atomare Bedrohung durch Kurz- und Mittelstreckenraketen aufzubauen, schlägt also eine Rückführung der nuklearen Abschreckung auf das Potenzial der USA und der RF vor.21

In dem der Nato vorgelegten Vertragsentwurf werden zudem der Verzicht auf die Aufnahme neuer Mitglieder sowie Beschränkungen der invasionsträchtigen Dauermanöver in den notorischen Krisenregionen Baltikum und Schwarzes Meer verlangt.

In Gestalt dieses Forderungskatalogs wird die Gegenseite vor die Alternative gestellt: Lassen sich die USA auf Verhandlungen über die von Putin gezogenen roten Linien ein, auf Verhandlungen über so etwas wie eine Abgrenzung der Einflusssphären in Osteuropa, die Einrichtung einer "entnatofizierten" Pufferzone in Mittel- und Osteuropa?

Lassen sich die USA also dazu bewegen, die mit ihrer erfolgreichen Einkreisungsstrategie für Russland eingetretene existentielle Bedrohung anzuerkennen und sich zur Rücknahme dieser Drohung und einer friedlichen Koexistenz mit der Großmacht im Osten zu verpflichten? Oder wollen sie sich zu diesem Vorrücken als ihrem politischen Vorhaben bekennen und damit definitiv beschlossen haben, dass Amerika mit der russischen Macht nicht leben kann und will, sodass folglich die Frage von Krieg und Frieden auf der Tagesordnung steht?

Das sollen sie dann aber auch schriftlich zu Protokoll geben und sich damit weltöffentlich dazu bekennen, dass ihre regelbasierte Weltordnung für nichts anderes steht als für die Legitimation ihrer Gewalt.22

4. Das diplomatische Ultimatum wird mit einer Kriegsdrohung unterstrichen

Die Warnung vor der "kategorisch unannehmbaren" (Lawrow) weiteren Missachtung der "roten Linien" Russlands ist eine Kriegsdrohung, und sie wird auch militärisch substanziiert.

Niemand sollte an unserer Entschlossenheit zweifeln, unsere Sicherheit zu verteidigen. Alles hat seine Grenzen. Wenn unsere Partner weiterhin militärisch-strategische Realitäten konstruieren, die die Existenz unseres Landes gefährden, werden wir gezwungen sein, ähnliche Schwachstellen für sie zu schaffen. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem es für uns keinen Rückzug mehr gibt. Die militärische Erkundung der Ukraine durch die Nato-Mitgliedstaaten stellt für Russland eine existentielle Bedrohung dar.

Anatoli Antonow, Russlands Botschafter in den Vereinigten Staaten. Foreign Policy, 30.12.21

Deswegen hat die russische Führung nach dem ukrainischen Kriegsgetöse vom Winter 21 einen Truppenaufmarsch an der Grenze der Ukraine organisiert und diesen militärischen Schritt um die explizite Drohung ergänzt, im Falle eines Angriffs auf den Donbass die ukrainische Staatlichkeit zu zerstören.

Unsere jüngsten Warnungen haben eine gewisse Wirkung gezeigt: Es sind dort ohnehin Spannungen aufgetreten... Es ist wichtig, dass sie so lange wie möglich in diesem Zustand bleiben, damit sie nicht auf die Idee kommen, irgendeinen Konflikt an unseren westlichen Grenzen zu inszenieren, den wir nicht brauchen, wir brauchen keinen neuen Konflikt.

Wladimir Putin, 18.11.21

In dem den USA vorgelegten Vertrag erinnert die russische Seite ihren Feind auch gleich eingangs daran, mit wem er es zu tun hat – "in Bekräftigung der Tatsache, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf, und in der Erkenntnis, dass alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Gefahr des Ausbruchs eines solchen Krieges zwischen Staaten, die über Atomwaffen verfügen, zu verhindern".

Damit sich in Washington keiner über den Ernst der Lage täuscht, d.h. über die Entschlossenheit des Kreml, sich ihr militärisch zu stellen, wird die Erinnerung an die Kuba-Krise aufgewärmt. Einige militärische Gegenmittel werden demonstriert,23 der Einsatz anderer wird angedeutet, dann ordnet Putin schließlich auch noch eine Übung der strategischen Abschreckungskräfte an, die die Erprobung von ballistischen Raketen und Marschflugkörpern umfasst – zur Klarstellung, was Russland alles im Zweifelsfall zur Verfügung steht.

Russland droht seinerseits damit, sich unberechenbar zu machen, um den Gegner zu beeindrucken und abzuschrecken. Parallel zu der diplomatischen Offensive, die die USA und die Nato auf die Entscheidung zwischen Respektierung oder Missachtung des russischen Sicherheitsbedarfs festlegen soll, verstärkt die russische Führung ihre an den Grenzen der Ukraine aufgestellten Militärkontingente, bis hin zu einem jederzeit aus dem Stand an diversen Fronten mobilisierbaren invasionstauglichen Ausmaß, immer noch versehen mit der Erklärung, dass an eine Invasion nicht gedacht wird – sofern sich USA und Nato dazu herbeilassen, über die von Russland geforderten Sicherheitsgarantien zu verhandeln.

USA und Nato sollen begreifen: Wenn sie sich dem Antrag verweigern, die russischen Sicherheitsinteressen förmlich anzuerkennen, dann bekommen sie es mit einem Russland zu tun, das in der Verfolgung seiner Sicherheitsinteressen für die amerikanische Weltmacht und ihr Kriegsbündnis auch nicht mehr berechenbar ist.

Peter Decker ist Redakteur der politischen Vierteljahreszeitschrift GegenStandpunkt, in deren aktueller Ausgabe dieser Artikel ebenfalls erschienen ist.