Schlag in die Magengrube

Nach einem Anschlag im Süden Israels droht in der Region eine weitere Eskalation

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Das Attentat ereignete sich in der Stadt Dimona, als verschlafenes Nest in der Negev-Wüste, der nur schwer zu schützende „Magengrube“ des jüdischen Staates: Kein Zaun, keine Mauer, wenige Grenzschützer schützen die hunderte Kilometer lange Grenze nach Ägypten und ins Westjordanland. Die beiden Attentäter, von denen es einer nicht schaffte, sein tödliches Gepäck zu detonieren, kamen aus des Westjordanland, töteten eine Frau und sich selbst und verletzten mehrere Dutzend Passanten. Dass etwas passieren würde, damit hatte Israels Sicherheitsapparat gerechnet, nachdem das Militär wochenlang im Gazastreifen operiert hatte, der zudem rund zwei Wochen lang nahezu vollständig abgeriegelt war, bis Kämpfer der Hamas die Grenze nach Ägypten sprengten. Als es dann passierte, reagierte Israels Politik ratlos. Man hat keine Antwort, immer noch nicht, und baut deshalb auf eine gesteuerte Eskalation im Gazastreifen: Das Militär soll die Abriegelung fortsetzen, zudem Luft- und Bodeneinsätze verstärken und, wenn das nicht funktioniert, mit „chirurgischen Schlägen“, also gezielten Tötungen aus der Luft, die Führungsspitze der Hamas angreifen. Kritiker sagen vorher, dass dies kurzfristig zu einer unkontrollierbaren Eskalation führen könnte. Allerdings könnte dies am Ende das Aus für das Experiment „Hamastan“ bedeuten, falls Israel wieder dauerhaft in den Gazastreifen einmarschieren sollte. Die politische Führung der Hamas will das vermeiden, hat aber nur begrenzte Möglichkeiten. Denn der Druck des militärischen Flügels der radikalislamischen Organisation ist stärker denn je.

Es begann, wie es immer beginnt. Das Telefon klingelt, eine Email geht ein, jemand ruft: „Anschlag“ und schon wird das Programm unterbrochen oder ein schwarzer Schriftzug auf die Webseite gesetzt, während ein Dutzend Redakteure, Praktikanten und Producer damit beginnen, jeden anzurufen, der auch nur im Entferntesten etwas dazu sagen wollen könnte. So dauert es normalerweise Minuten, bis Israels Nachrichtenportale, Radio- und Fernsehsender jene Nachrichten-Routine anwerfen, die in seit Jahren immer gleicher Weise die seit Jahren immer gleichen Nachrichtenhäppchen und Stellungnahmen verbreiten. Sie werden wohl nie anders sein, weil es eigentlich nicht mehr zu sagen gibt, außer dass eine Bombe hoch gegangen ist und dass Menschen gestorben sind. Man wird sich dann auch noch von zu Bürgerjournalisten gewordenen Augenzeugen erzählen lassen, wie das war, dabei zu sein, und ein paar Experten voraus sagen lassen, was wohl als Nächstes passieren wird,

Wie gesagt, es begann, wie es immer beginnt. Auch am Montag. Das Telefon klingelte, Programme wurden unterbrochen. Nur damit die Produzenten in den Studios von Tel Aviv und Jerusalem feststellen mussten, dass es eigentlich nichts zu sagen gibt: Opferzahlen, Augenzeugen, Pressesprecher - all' das, was diese alt eingespielte Routine am Laufen hält, war dieses Mal fast eine Stunde lang nicht verfügbar. Denn dieser Anschlag ereignete sich in Dimona, einem verschlafenen Örtchen am Rande der Negev-Wüste, in das nur selten ein Journalist seinen Fuß setzt, weil es selbst zur Haupt-Attraktion eines jeden Verschwörungstouristen, der nahen Atomanlage, in der Israel vermutlich seine Atomsprengköpfe herstellt, nichts zu sagen gibt – der Militärzensor würde den Bericht ohnehin in Nullzeit in den Giftschrank befördern.

Also fehlte es an allem, und vor allem am Wichtigsten, wenn man Journalist ist, nämlich an Bildern, denn Kamerateams gibt es in Dimona natürlich auch keine. Doch gerade deshalb hat es, darin waren sich die meisten Kommentatoren in den folgenden Stunden einig, die Hamas, deren Angehörige mit großer Wahrscheinlichkeit für das Attentat verantwortlich sind, geschafft, ihre Botschaft an die Empfänger, Israels Regierung und Sicherheitsapparat, zu befördern: „Ihr könnt uns nicht besiegen; wir sind dazu in der Lage, jederzeit und überall zuzuschlagen, selbst wenn das israelische Militär noch so viele Soldaten schickt“, erklärte ein Sprecher der radikalislamischen Organisation am Tag nach dem Attentat.

In der Tat: Der Anschlag von Dimona hat Israel in seiner nahezu ungeschützten Magengrube getroffen, die die vielen Klein- und Kleinststädte in der Wüste bilden. Die Grenzen nach Ägypten und zum Westjordanland sind so gut wie offen; die Ortschaften kaum zu schützen, denn die Polizei ist notorisch unterbesetzt, das Militär an der Nord-Grenze und in den Palästinensischen Gebieten eingebunden. Und für private Sicherheitskräfte fehlen den unter hoher Arbeitslosigkeit leidenden Negev-Städten das Geld. Ein verstärkte Präsenz entlang der Grenze nach Ägypten hatte Israels Militär nur knapp eine Woche aufrecht erhalten können, denn die Truppenverlegungen gingen auf Kosten der Sicherung der Nord-Grenze zum Libanon, wo, so die allgemeine Befürchtung, die Hisbollah bald wieder zuschlagen könnte.

Gefahr einer gleichzeitigen Eskalation in Nord- und Süd-Israel

Und genau dies ist das absolute Angst-Trauma der israelischen Regierung: Eine Eskalation im Norden während Kämpfer der Hamas den Süden Israels infiltrieren, um dort Anschläge zu verüben. Nachdem die Grenze zwischen Gaza und Ägypten nach dem Durchbruch vor drei Wochen lange Zeit nahezu offen war, ist dies zu einem sehr denkbaren Szenario geworden: Waffen und Sprengstoff seien in den Weiten der Sinai-Halbinsel leicht zu beschaffen, sagen ägyptische Sicherheitsexperten, gemeinsam mit der grünen Grenze nach Israel bilde dies eine explosive Mischung, die auch Präsident Hosni Mubarak in Bedrängnis bringen könnte: Hatten er und seine Regierung den vielen Hunderttausend Einwohnern des Gazastreifen, die nach Ägypten strömten, noch lange Zeit relativ tatenlos zugesehen, aus Sorge, dass eine sofortige Schließung die eigene radikalislamische Opposition stärken könnte, arbeitet man nun aus dem gleichen Grund darauf hin, Ordnung zu schaffen: Auf keinen Fall dürfe der Sinai zu einem Zweiten Süd-Libanon, zu einem staatsfreien Raum werden, in dem paramilitärische Gruppen das Sagen haben, und von dem sie aus möglicherweise das diktatorisch geprägte Machtgefüge Ägyptens angreifen.

Kinder Nach der Sprengung des Grenzzaunes nach Ägypten spielen palästinensische Kinder auf den Überresten. Bild: NewsKibbutz

So arbeiten ägyptische Grenzschützer daran, die Löcher im Grenzzaun nach Gaza zu schließen, allerdings mit wechselndem Erfolg: Während die politische Führung der Hamas zugesagt hat, man werde daran mitarbeiten, einen geordneten Grenzverkehr zu organisieren, wenn internationale Beobachter, möglicherweise gestellt von der Europäischen Union, nicht auf israelischem Boden stationiert würden, und Israel darüber hinaus keinen Einfluss habe, räumen Kämpfer des bewaffneten Flügels der Hamas immer wieder die gerade erst aufgebauten Sperren beiseite und bedrohen die ägyptischen Grenzschützer, die den Essedin al Kassam-Brigaden zahlenmäßig und teilweise auch waffentechnisch, unterlegen sind. Denn der israelisch-ägyptisch Friedensvertrag von Camp David regelt bis ins Detail Zahl und Ausstattung der ägyptischen Truppenpräsenz auf der Sinai-Halbinsel. Ägypten und das israelische Außenministerium möchten deshalb den Vertrag ändern, scheitern aber bislang am Widerstand des israelischen Militärs, das sich der ägyptischen Ambitionen noch nicht sicher ist. „Über kurz oder lang, werden wir aber nicht daran vorbei kommen, über eine Aufstockung der ägyptischen Truppen im Sinai zu reden“, ist sich ein Mitarbeiter von Außenministerin Zippi Livni sicher: „Wir brauchen ihre Hilfe bei der Sicherung der Grenze.“

Kurzfristig löst aber weder dies, noch der Bau eines Zauns entlang der Grenze mit Ägypten, wie ihn die Regierung direkt nach dem Anschlag angekündigt hat, das Hauptproblem: Die Gefahr einer gleichzeitigen Eskalation in Nord- und Süd-Israel, zu denen möglicherweise auch noch neue Konfrontationen im Westjordanland hinzu kommen könnten, denn die Tatsache, dass die beiden Attentäter (einem von ihnen gelang es nicht, seine Bombe zu detonieren) aus dem südlichen Westjordanland stammten, weist darauf hin, dass die Hamas nun ihre Konfrontation mit dem israelischen Militär in die Palästinensische Autonomiebehörde tragen will, um so die öffentliche Meinung gegen die Friedensverhandlungen zu wenden – und es ist gut möglich, dass sie damit Erfolg haben wird.

Sderot Ein von einer Kassam-Rakete getroffenes Auto in Sderot. Die Stadt wird regelmäßig vom Gazastreifen aus beschossen. Bild: TIP

In Israels Medien wird in diesen Tagen oft gefordert, das Militär solle noch stärker als bisher im Gazastreifen operieren, gezielt Anführer von Hamas und Islamischem Dschihad töten, und, wenn das kein Umdenken bei der Hamas hervor rufe, einen Sicherheitsstreifen entlang der Grenze zwischen Ägypten und Gaza und ultimativ auch den gesamten Gazastreifen besetzen. Haim Ramon, Vize-Premierminister, hat bereits angekündigt, die Blockade des Gazastreifen werde auf unbestimmte Zeit fortgesetzt. Sie wird künftig zudem noch ein bisschen vollständiger sein: Der Oberste Gerichtshof wies am Montag mehrere Petitionen von Menschenrechtsorganisation gegen die Einstellung von Stromlieferungen an den Gazastreifen zurück; sie sollen im Laufe der kommenden Tage nach und nach reduziert werden.

Doch zwischen allen diesen martialischen Statements mischen sich jene, auch aus den Reihen der Regierung, die vor einer „gesteuerten Eskalation“ warnen: Man gebe damit der Hamas eine Entschuldigung für weitere Anschläge, warnt Juli Tamir, Bildungsministerin; man bringe damit die Verhandlungen mit der Regierung der Palästinensischen Autonomiebehörde in Gefahr, mahnt man im Außenministerium; man stärke damit die militanten Elemente in der Hamas und mache es damit schwer, die Lage unter Kontrolle zu behalten, warnt Umweltminister Gideon Esra, ein ehemaliger Geheimdienstler.

Auto Zerstörter Wagen nach einem israelischen Luftschlag auf Rafa am gleichen Tag Mitte Januar. Bild: NewsKibbutz

Denn einig ist die Hamas schon lange nicht mehr: Es gibt Streit zwischen dem politischen und dem militärischen Flügel. Während die Politiker lange Zeit die Eskalation mit Israel vermieden, im Geheimen sogar verhandelten, weil man weiß, dass man für das Projekt „Hamastan“ auch den verhassten Nachbarn braucht, drängen die Kämpfer darauf, endlich wieder von radikaleren Mitteln Gebrauch zu machen. Die Militäroperationen und Abriegelungen der vergangenen Wochen haben ihnen die Oberhand gegeben. Vor allem der von ihnen orchestrierte Durchbruch nach Ägypten hat einer Umfrage zufolge hat in der Öffentlichkeit des Gazastreifen für größere Zustimmung gegenüber einer härteren Gangart gesorgt. Die politische Führung betrachte das mit Sorge, sagt ein palästinensischer Journalist, der im Gazastreifen lebt: „Sie weiß, dass am Ende jeder Sieg gegen Israel nur von kurzer Dauer sein wird, weil Israel am Ende gewinnen wird.“

Nur ob dies dann ein begehrenswerter Sieg sein wird, daran zweifeln auch israelische Sicherheitsexperten. „Eine Besatzung von Teilen des Gazastreifen und weitere Anschläge werden zu vielen Opfern führen und zudem die Verteidigungsfähigkeit in Frage stellen, falls die Lage im Norden eskalieren sollte“, sagt Israel Atias vom ersten israelischen Fernsehkanal: „Das Hauptproblem ist, dass im Laufe der Jahre der Glaube auf kam, dass man alles mit militärischen Mitteln erledigen kann; daraus wurde eine Dynamik geboren, in der Gewalt nur härtere Gewalt erzeugt, und niemand mehr nach Alternativen sucht. Ich denke, dass wir jetzt damit anfangen sollten.“