Schulden zur Eindämmung des Neoliberalismus
- Schulden zur Eindämmung des Neoliberalismus
- Ruinöser Wettbewerb
- Verschuldung bei der Zentralbank
- Geldanhäufung im Anlagesektor
- Nicht zu unterschätzende Gefahrenmomente
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Wachsende Staatsschulden sind Resultat der Krisenhaftigkeit des neoliberalen Kapitalismus. Dessen ungeachtet gibt es politische Gründe, eine unbegrenzte Finanzierung öffentlicher Haushalte durch die Zentralbanken zu befürworten
Die Debatte über die Zweckmäßigkeit von Staatsverschuldung hat mit dem Wechsel an der SPD-Spitze auch Deutschland erreicht. Das mediale Interesse an wirtschaftspolitischen Alternativen wird angesichts der erwarteten Konjunkturabschwächung eher zunehmen. Eine Neuauflage des auf diesem Portal vor einem halben Jahr publizierten Schuldenkonzepts (Die Option unbegrenzter Staatsschulden) erscheint daher geboten. Der ursprüngliche Text ist zu großen Teilen überarbeitet, ergänzt und neu verfasst worden, wobei den zahlreichen Kommentatoren für ihre Anregungen und Bemerkungen Dank gebührt.
Kritik am Neoliberalismus mag Rezipienten in ihrer Position bestärken, sie hinterlässt jedoch häufig ein Gefühl von Ohnmacht. Um das globale Wirtschaftssystem zu verändern, erscheint ein alleiniges Setzen auf Überzeugungsarbeit als hoffnungsloses Unterfangen. Gleichwohl erweist sich die Annahme als realitätsfremd, dass es der Bevölkerung nur genügend schlecht ergehen muss, damit sie sich gegen die Herrschenden erhebt. Da soziale Marginalisierung, Apathie und intellektuelle Verarmung als Begleiterscheinungen kaum zu vermeiden sind, haben Rechtspopulisten und Fundamentalisten oft ein leichtes Spiel, Proteststimmungen für eigene Zwecke zu instrumentalisieren.
Ebenso wenig lässt sich das neoliberale System durch eine begrenzte Umsetzung alternativer Wirtschafts- und Lebensformen aus den Angeln heben. Obwohl ihnen eine wichtige Modellfunktion zukommt, verändern sie nicht die politischen Machtverhältnisse. Gerade dieses Ziel verfolgt der hier vorgestellte Ansatz, indem er die Position demokratisch gesonnener und den Bürgerinteressen verpflichteter Politiker stärkt. Er erhebt nicht den Anspruch, den Neoliberalismus durch ein humanes und nachhaltiges Wirtschaftsmodell zu ersetzen. Erst recht nicht will er ihn retten, wie von einigen Kommentatoren unterstellt wurde. Vielmehr sollen dessen ruinöse Wirkungen evident gemacht und zugleich Bastionen im Kampf gegen verstärkte Ausbeutung, sinkende Lebensqualität und soziale Desintegration gewonnen werden.
Stärkung der Politik als primäres Ziel
Die in den 1980er Jahren vollzogene neoliberale Wende hat das heutige Leben mehr geprägt als jede andere politische Umwälzung der letzten Jahrzehnte. Die Hauptinitiatoren USA und Großbritannien konnten ihre bröckelnde Machtposition stabilisieren, indem sie sich als Herrscher der explosiv gewachsenen Finanzmärkte etablierten. Derweil leidet das Gros ihrer Bevölkerungen unter den Folgen von Produktionsauslagerungen, Privatisierungen und Sozialabbau.
"Trittbrettfahrer" wie Deutschland und Japan konnten Wohlstandseinbußen dank der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften großenteils abwehren. Zunehmend werden aber auch ihren Bürgern Opfer abverlangt. Am stärksten sind Staaten betroffen, die sich am unteren Ende der globalen Machtskala befinden. Der aktuelle Anstieg von Hunger und Unterernährung ist ein schlagendes Indiz.
Ferner erweisen sich neoliberale Strukturen als bedeutender Bremsfaktor bei der Abwehr von Umweltschäden und Klimawandel. Kapitalgesellschaften stemmen sich erfolgreich gegen neue Kostenbelastungen, während die Staatsfinanzen ausgezehrt sind.
Die wohl gravierendste Veränderung gegenüber den ersten Nachkriegsjahrzehnten ist die Schwächung der Politik. Mit der Aufgabe von Kapitalverkehrskontrollen haben Regierungen ein zentrales Instrument volkswirtschaftlicher Lenkung verloren. Überdies bedroht die Liberalisierung der Märkte vielerorts die eigenen, national orientierten Wirtschaftsakteure. Als Folge wandelt sich die Interessenlage der Staaten, da es opportun erscheint, sich den Wünschen des globalen Kapitals zu öffnen. Der Machtverlust politischer Entscheidungsträger beschleunigt sich offenbar durch ihr eigenes Tun.
Zur Durchsetzung essentieller Veränderungen bedarf es nicht nur starken politischen Drucks aus der Bevölkerung, sondern auch eines angemessenen Handlungsspielraums der Regierenden. Diesen zu erweitern ist das Ziel des hier vorgestellten wirtschaftspolitischen Konzepts. Es enthält Elemente des Keynesianismus, ohne dessen Optimismus hinsichtlich gesellschaftlicher Umverteilung und eines Schuldenabbaus in Hochkonjunkturphasen zu teilen. Erwogen wird stattdessen die Möglichkeit für Regierungen, sich bei ihrer Zentralbank unbegrenzt zu verschulden. Obgleich es nicht allgemein wahrgenommen wird, bewegen sich die westlichen Staaten seit geraumer Zeit in diese Richtung. Am weitesten hat sich Japan vorgewagt.
Die Option einer unbegrenzten Staatsverschuldung bedarf augenscheinlich keiner neuen, sondern lediglich einer Ausweitung der bisherigen Praxis sowie einer offiziellen Erklärung. Darüber hinaus hat sie den Vorteil, keine direkten Verlierer zu kennen. Forderungen nach Umverteilung von Einkommen und Vermögen treffen hingegen auf heftige Gegenwehr der Machteliten. Ließen sie sich dennoch politisch umsetzen, wären die hier angestellten Überlegungen obsolet. Eine Realisierung erscheint indes für einen überschaubaren Zeitraum als höchst unwahrscheinlich. Dies gilt erst recht für alternative Wirtschaftsmodelle, wie sie von Sahra Wagenknecht, von Gemeinwohl-Ökonomen und von Vertretern der Freiwirtschaftslehre entworfen wurden.
Trotz mancher Übereinstimmungen unterscheidet sich der hier vertretene Ansatz von der "Modern Money Theory" (MMT) sowohl hinsichtlich der Prämissen als auch bei der Analyse der Folgen. Dieser Variante des Keynesianismus kann zwar beigepflichtet werden, wenn sie Kritikern wachsender Staatsschulden entgegenhält, dass in gleichem Umfang private Vermögen geschaffen würden. Sie problematisiert jedoch weder deren Verteilung, noch fragt sie nach den systemischen Ursachen, die eine öffentliche Schuldenaufnahme überhaupt erst erforderlich machen. Deren Notwendigkeit wird vornehmlich mit dem empirischen Befund der Unterbeschäftigung begründet.
Bei der Beurteilung des Umfangs der benötigten Fremdmittel dürften Vertreter der MMT weitgehend richtig liegen. Welche Konsequenzen ein Anwachsen der Liquidität aber hat, entzieht sich ihrem Blickfeld. Offensichtlich schwingt die Überzeugung mit, dass die kreierte Geldmenge im Zuge zunehmender wirtschaftlicher Aktivitäten absorbiert und der verbleibende Rest durch Besteuerung abgeschöpft werden kann. Dies erweist sich jedoch als Trugschluss.
Sachzwänge statt fehlendem Willen
Dass der Trend wachsender Einkommens- und Vermögensunterschiede nicht gestoppt wird und Investitionen in lebenswichtige Bereiche unterbleiben, wird häufig mit fehlendem Willen der politischen Führungen erklärt. Unbestreitbar setzen manche Politiker persönliche Vorteile oder Spenden an ihre Partei über das Allgemeinwohl. Dies betrifft aber eine Minderheit. Lobbyisten in politischen Entscheidungsgremien gibt es ebenfalls nur wenige. Schließlich lässt sich die Behauptung schwerlich belegen, Vertreter des Staates würden Wirtschaftsbossen mehr Gehör schenken, weil sie sich selbst in elitären Kreisen bewegen. Dass sich die aktuelle Politik dennoch an den Interessen der Reichen orientiert, ist offenbar systemisch begründet.
In der Praxis müssen sich Politiker jeder Couleur einer Vielzahl von Sachzwängen unterwerfen, die seit der neoliberalen Wende bestehen. Dabei gestehen sie ungern ein, dass sie sich äußerem Druck beugen. Weitaus angenehmer ist die Vorstellung, gewisse Schranken seien natürlich vorgegeben. Als Beleg dient die Lehrmeinung von Mainstream-Ökonomen, in deren Theorien freie Märkte automatisch Effizienz und Wohlstand schaffen. Einerseits fällt es schwer, sich von diesem Dogma zu verabschieden, andererseits werden zunehmend Opfer eingefordert, die den Glauben an dessen Versprechungen untergraben.
Politische Entscheidungen sind in hohem Maße durch die Konkurrenz der Staaten um Investoren und Großsteuerzahler geprägt. Damit Volkswirtschaften im globalen Standortwettbewerb bestehen können, sehen sich Regierungen zu weitgehenden Zugeständnissen veranlasst. Diese betreffen zum einen Vorleistungen etwa in den Bereichen Infrastruktur, Berufsausbildung und Forschung. Zum anderen werden Privatunternehmen mit Steuerermäßigungen, Subventionen, günstigen Krediten und Bürgschaften angelockt bzw. im Land gehalten.
Die Wirtschaftskreise erwarten aber noch mehr. Starke Gewerkschaften, Kündigungsschutz, hohe Abfindungen bei Entlassungen und mangelnde Flexibilität der Arbeit gelten als Hindernisse für Industrieansiedlungen. Umwelt- und andere profitschädigende Auflagen sollen durch Ausnahmeregelungen umschiffbar sein. Da gängige Produktionskonzepte partielles Outsourcing implizieren, müssen preisgünstige Zulieferer und Dienstleister zur Verfügung stehen. Bei dem gewünschten Lohndumping wird die Hilfe der öffentlichen Hand erwartet, etwa mittels Aktivierung von Arbeitslosen, durch Lohnzuschüsse oder über eine Förderung der Immigration. Für einige Maßnahmen findet sich wegen der positiven sozialen und volkswirtschaftlichen Effekte ein breiter Konsens.
Großsteuerzahler, zu denen sowohl reiche Privatpersonen als auch Kapitalgesellschaften zählen, nutzen die vielfältigen Möglichkeiten, ihre Vermögen in Steueroasen zu verschieben. Als Berater und Vermittler agieren große Finanzplätze wie die Wall Street, die Londoner City, schweizerische Geldmetropolen und asiatische Bankenstädte. An die Seite traditioneller Offshore-Plätze sind in letzter Zeit kleinere EU-Mitglieder und einige US-Bundesstaaten getreten, die Steuersparmodelle anbieten.
Alle Versuche, dieser Phalanx trotz des jährlichen globalen Verlusts in Billionenhöhe das Wasser abzugraben, stießen bislang auf unüberwindbaren Widerstand. Als Profiteure der Steuerflucht erweisen sich nicht nur Anlageberater, Fondsverwalter und Finanzagenturen, sondern auch Staaten, die ein Interesse am Erhalt ihrer Finanzwirtschaften haben. In vorderster Front stehen die USA und Großbritannien, die ohne deren Erträge und die durch sie erlangte Machtposition in die Zweitklassigkeit absinken würden, da sich große Teile ihrer Realwirtschaften in marodem Zustand befinden.
Bemühungen um eine nachhaltige Umverteilung der Einkommen von Reich zu Arm erscheinen im aktuellen geopolitischen Umfeld zum Scheitern verurteilt. Der sich verschärfende Wettbewerb um Anleger und Großverdiener zwingt Staatslenker vielmehr zu gegenteiligen Schritten. Es werden Steuersätze gedrückt, die Progression wird geschliffen und auf Vermögensbesteuerung wird verzichtet. Bei einer Repatriierung von Geld- und Anlagevermögen werden obendrein Straffreiheit und Steuernachlässe zugesagt.