Schulden zur Eindämmung des Neoliberalismus
Seite 3: Verschuldung bei der Zentralbank
Damit Staatsanleihen auf dem Anlagemarkt abgesetzt werden können, müssen bonitätsgerechte Zinsen angeboten werden. Werden die benötigten Finanzmittel hingegen über die Zentralbank erworben, kann sich der Zinssatz an wirtschaftspolitischen Erwägungen orientieren. Falls diese keine Zinsen fordert und darüber hinaus auf eine regelmäßige Tilgung verzichtet, wird der Staatshaushalt überhaupt nicht belastet. Die möglichen Einsparungen sind sogar in einem bonitätsstarken Staat wie Deutschland immens: Aktuell übertrifft dessen jährlicher Schuldendienst mit etwa 20 Milliarden € die Ausgaben des Bundes sowohl für Bildung als auch für Gesundheit.
Regierungen können sich faktisch unbegrenzt bei der Zentralbank verschulden. Wenn diese im Tausch gegen neues Geld Staatsanleihen in ihre Bücher nimmt, erhöht sich zwar die Bilanzsumme, jedoch hat dies keine direkten Auswirkungen. Nicht einmal eine spätere Annullierung der Forderungen, deren Ausgleich buchhalterisch mit Verbindlichkeiten aus ihrer Rolle als "Lender of Last Resort" erfolgen würde, hätte wirtschaftliche Folgen. Sollten die Devisenmärkte mit einer Abwertung der Währung reagieren, dann gäbe es den positiven Effekt, dass die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Produzenten gestärkt würde.
Tatsächlich haben die Zentralbanken der westlichen Industrienationen ihre Bestände an Staatsanleihen seit der Subprime-Krise im Jahr 2008 erheblich aufgestockt. Am weitesten fortgeschritten ist die Staatsfinanzierung durch die japanische Zentralbank. Befanden sich vor elf Jahren 10 Prozent der öffentlichen Anleihen im Besitz der BoJ, so sind es gegenwärtig nahezu 50 Prozent. Der Zuwachs des realen Betrags ist weitaus größer, da sich die Bilanzsumme der BoJ im gleichen Zeitraum mehr als vervierfacht hat.
Obwohl es der Europäischen Zentralbank laut Statut untersagt ist, Staatsanleihen direkt zu erwerben, hält sie bereits 20 Prozent. Die EZB hat sie im Rahmen eines im Januar 2015 beschlossen Liquiditätsprogramms europäischen Banken und Finanzunternehmen abgekauft. Dagegen verminderte die FED den Anteil an US-Bonds in letzter Zeit leicht auf 12 Prozent, was immer noch dreimal mehr als vor elf Jahren ist. Zugleich hat sie als einzige große Zentralbank die Bilanzsumme gesenkt. Der Verkauf von Aktiva wurde durch die Repatriierung von US-Vermögen ermöglicht, die auf die Anhebung der Notenbankzinsen und die Steuersenkungen der Trump-Administration folgten.
Gegenwärtig ist zu beobachten, dass die FED umschwenkt und den Anteil an US-Staatspapieren erhöht. Einerseits wird die öffentliche Kasse durch Steuerermäßigungen und die erwartete konjunkturelle Abschwächung belastet, andererseits steigen die Ausgaben für Rüstung und die von Trump angekündigten Infrastrukturvorhaben. Zudem hat sich das Interesse anderer Notenbanken an US-amerikanischen Staatsanleihen stark abgekühlt, was wohl auch der aktuellen Außenhandelspolitik der USA geschuldet ist. Russland und China haben sich überdies in nennenswertem Umfang von US-Bonds getrennt.
Der wachsende Anteil von Staatsanleihen in den Bilanzen der großen Zentralbanken hat sich nicht in den Kursen der Währungen niedergeschlagen. Auch ist ihr globaler Anteil als Reserve- und Handelswährungen nahezu unverändert geblieben. Drei Viertel entfallen allein auf den US-Dollar und den Euro.
Die Attraktivität der westlichen Hauptwährungen hat nicht einmal unter der Nullzinspolitik der Notenbanken gelitten. Der beabsichtigte Effekt einer Stimulierung privater Investitionen wurde dabei nicht erreicht. Wenn der Westen in der vergangenen Dekade dennoch einen leichten konjunkturellen Aufschwung erlebte, dann ist er vornehmlich dem Quantitative Easing zu verdanken. Der verstärkte Kauf von Staatspapieren in diesem Kontext lässt erwarten, dass die Zentralbanken bei einer Abkühlung der Konjunktur in noch größerem Umfang öffentliche Anleihen entgegennehmen werden.
Schritte zu einer unbegrenzten Verschuldung
Trotz des wachsenden Erwerbs von Staatsanleihen durch die Zentralbanken wagen weder deren Präsidenten noch Vertreter der Regierungen, als eigentlichen Zweck die Finanzierung öffentlicher Ausgaben zu benennen. Stattdessen werden konjunkturpolitische Motive vorgeschoben, im Fall der EZB auch Bemühungen zur Stärkung von Banken, die noch unter den Folgen der Subprime-Krise leiden würden. Um diese Zielvorgaben glaubwürdig erscheinen zu lassen, werden Aufkaufprogramme als befristet konzipiert, obwohl sie in der Praxis ein aufs andere Mal verlängert werden. Noch fadenscheiniger ist das Argument der BoJ, es solle mithilfe eines Erwerbs japanischer Staatspapiere deren Renditeanstieg gebremst werden.
Als der damalige EZB-Chef Mario Draghi während der Griechenlandkrise im Jahr 2012 verkündete, dass die Zentralbank ihre Rolle als "Lender of Last Resort" unter allen Umständen wahrzunehmen beabsichtigt, gelang es ihm, die Kapitalmärkte zu beruhigen. Ebenso könnte ein Bekenntnis zum eigentlichen Grund für den Aufkauf von Staatsanleihen durch die Zentralbanken auf positive Resonanz stoßen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Finanzierungsbedarf öffentlicher Haushalte auch künftig nur mittels weiterer Schuldenaufnahme gedeckt werden kann. Eine Kreditierung durch die Notenbank anstelle durch private Kapitalgeber hätte den Vorteil, dass einerseits die finanziellen Belastungen minimiert würden und andererseits die Verschuldung unbegrenzt fortgesetzt werden kann.
Ausreichende Finanzmittel würden nicht nur die Realisierung öffentlicher Aufgaben gewährleisten und eine Entlastung einkommensschwacher Haushalte ermöglichen, sondern auch die Position von Staaten und Kommunen gegenüber privaten Kapitalgesellschaften stärken. Neben der größeren finanziellen Unabhängigkeit gibt es noch einen weiteren Effekt: Die vermehrte Kaufkraft würde einen Investitionsschub bewirken, der die Nachfrage nach Produktionsstandorten erhöht. Es würde sich die Diskrepanz zum Angebot reduzieren, sodass Regierungen weniger unter Druck stehen, Zugeständnisse etwa durch Vorleistungen oder Steuererleichterungen machen zu müssen.
Wenn die großen Industrienationen den Weg einer fortgesetzten Verschuldung einschlagen, erhöhen sich ebenfalls für kleinere und wirtschaftlich schwächere Staaten die Spielräume für eine Kreditaufnahme bei ihrer Zentralbank. Dies setzt voraus, dass die Produktion gesteigert werden kann, um eine wachsende Nachfrage zu befriedigen. Falls das Angebot an Waren und Dienstleistungen nicht mit der vermehrten Geldmenge Schritt hält, werden die angestrebten positiven Effekte durch steigende Preise annulliert.
Importe könnten inflationäre Tendenzen bremsen. Verfügt das Land aber nicht über ausreichende Exporterlöse, wären wachsende Außenhandelsdefizite die Folge. Ein massiver Einbruch des Währungskurses würde drohen und die Volkswirtschaft dem Ausverkauf preisgeben. Eine geschwächte Währung erweist sich tatsächlich nur dann als vorteilhaft, wenn Exporte gesteigert und Importe substituiert werden können.
Die Euro-Zone als Sonderfall
In der Euro-Zone ist die Lage komplexer. Wenn die EZB den Finanzierungsbedarf einiger Staaten durch den Erwerb ihrer Anleihen deckt, können deren Bürger von Leistungen profitieren, die von anderen Mitgliedern der Euro-Gruppe erwirtschaftet werden. Die damit einhergehende Missgunst findet sich gleichwohl innerhalb der Nationen, wenn auch dort eine bedarfsorientierte Umverteilung allgemein befürwortet wird. Strukturschwache Gebiete werden durch wirtschaftlich starke Regionen sogar über einen längeren Zeitraum alimentiert wie etwa in Deutschland durch den "Soli". Die EU-Fördermittel erfüllen eine ähnliche Funktion, sie sind jedoch zweckgebunden und dienen dem erklärten Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer zu stärken.
Was benötigt wird, ist eine Finanzierung der Staatsausgaben, soweit diese nicht hinreichend durch das Steueraufkommen gewährleistet werden kann. Die Kredite sollen so bemessen sein, dass die verfügbaren Mittel einen hohen Beschäftigungsstand und eine befriedigende Daseinsfürsorge ermöglichen. Sozialer Kahlschlag und eine Zerstörung wirtschaftlicher Potentiale wie in Griechenland dürfen nicht zugelassen werden. Andererseits muss eine Bedienung ungerechtfertigter Sonderansprüche ausgeschlossen werden. Ebenso gilt es zu verhindern, dass EZB-Mittel zum Steuerdumping genutzt werden.
Die Kriterien und Bestimmungen für die Kreditvergabe sind in einem Regelwerk zu fixieren. Die von den Ländern der Euro-Gruppe benötigten Beträge könnten in Anschluss an die Erstellung ihrer jährlichen Staatsbudgets ermittelt und festgesetzt werden. Die Auszahlung der vereinbarten Raten würde im darauffolgenden Fiskaljahr durch die EZB erfolgen.
Sind dann nicht die Warenlieferanten von Überschussländern, vor allem Deutschlands, die Verlierer? Im Gegenteil. Sie könnten zuversichtlicher sein, dass ausländische Geschäftspartner die Rechnungen für die erhaltenen Güter begleichen. Überdies wären potentielle Kunden erreichbar, die andernfalls wegen fehlender Kaufkraft ausfallen würden. Schließlich würde die Wettbewerbsposition der Unternehmen durch die erhöhte Auslandsnachfrage gestärkt werden.
Natürlich wäre es wünschenswert, dass die alimentierten Staaten aus dem Kreditvolumen der EZB einen Anteil erhalten, der dem Bevölkerungsproporz entspricht. Anstatt dass ihr Betrag gekürzt wird, wäre allen mehr gedient, wenn Nationen wie Deutschland den eigenen erhöhen. "Baustellen" gibt es genügend: Die Energiewende ließe sich beschleunigen, Leistungen im Sozial-, Pflege- und Gesundheitsbereich könnten ausgebaut werden, Infrastrukturvorhaben wären realisierbar. Die Beschäftigung würde zunehmen, was sich in einem steigenden Lohnniveau und einer Verminderung prekärer Arbeitsverhältnisse niederschlagen würde.
Von wirtschaftlich erfolgreichen EU-Staaten sollte ferner verlangt werden, dass sie stärker ihrer globalen Verantwortung nachkommen. Eine Aufstockung der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit hätte den Nebeneffekt, dass Fluchtursachen begegnet würde. Durch höhere Nettoeinzahlungen in den EU-Haushalt könnten die weiterhin gravierenden Entwicklungsunterschiede innerhalb der Union ausgeglichen werden. Wenn Deutschland diesem Anspruch gerecht wird, würde sich nicht nur dessen Ansehen verbessern, das unter der bislang praktizierten Austeritätspolitik gelitten hat, sondern die EU wäre auch politisch handlungsfähiger.
Der Euro, der gegenwärtig eher die Rolle eines Spaltpilzes hat, würde zum verbindenden Faktor avancieren, falls Regierungen Haushaltsdefizite mit Zentralbankkrediten decken können. Die Währung dürfte an Attraktivität auch bei jenen EU-Staaten gewinnen, die noch nicht Mitglied der Euro-Gruppe sind. Die auf neoliberalen Prinzipien beruhenden Beitrittsbedingungen sollten größtenteils fallen gelassen werden. Stattdessen würde die Anerkennung des Regelwerks verlangt werden, das für die Kreditvergabe durch die EZB maßgebend ist.