Schwarze Kultur: "Wir warten nicht mehr auf die Apokalypse, sie war schon da!"

Seite 2: Neue Wissensstandards: Über welche Zukunft sprechen wir eigentlich?

Ich verstehe Ihren Ansatz auch so, den Fokus von den europäischen Standards wegzulenken, also dass die Schwarzen Autor:innen nicht in ein vorgefertigtes Genrekonzept gezwängt werden?

Natasha A. Kelly: Genau. Es geht auch vor allem darum, nicht für Schwarze Autor:innen einen eurozentrischen Standard zu setzen, sondern selbst Wissensstandards zu entwickeln. Ein konkretes Beispiel sind die Sklavenschiffe, die von Kodwo Eshun als "Spaceships" verhandelt werden, mit denen Afrikaner:innen verschleppt wurden.

Wir sind durch die Kolonialisierung, durch die Schiffe der Europäer:innen, die nach Afrika kamen, bereits mit Raumschiffen in Kontakt gekommen. Schiffe dieser Größe, die damals in Afrika in dieser Art gar nicht gebaut wurden, kamen und entführten die Menschen. Sie hatten etwas durchaus Überirdisches in der afrikanischen Vorstellungswelt. Sie waren auch fremd für die Afrikaner:innen.

Das sind alles Dinge, die bereits passiert sind. Es ist nicht etwas, worauf wir warten. Sämtliche Metaphern existieren schon in einem afrofuturistischen 2.0-Setting. Der große Unterschied besteht in der Art und Weise, wie im Eurozentrismus Zeit gelesen wird.

Inwiefern?

Natasha A. Kelly: Zeit ist dort etwas sehr Lineares – es gibt einen Anfang und ein Ende von etwas. Dann beginnt etwas Neues, das geht dann wieder zu Ende und so weiter und so fort. Auf diese Weise ist dieses Zeitverständnis sehr messbar, durch eine Uhr, die zur Stunde schlägt.

Im Afrofuturismus ist Zeit zirkulär. Es gibt keinen Anfang und kein Ende von etwas. Wenn wir also von Zukunft sprechen, müssen wir uns die Frage stellen, wann Zukunft geschieht: Ist es etwas, das tatsächlich noch geschieht? Also, was noch in tausend, fünfhundert oder auch in fünfzig Jahren kommt, wie wir das im eurozentrischen Denken haben? Ja, das ist möglich.

Aber Zukunft kann auch vergangen sein, es kann vergangene Zukünfte geben. Wir können auch in die Vergangenheit zurückschauen und uns dort Visionen von Zukunft anschauen, die in einem zirkulären Zeitablauf genauso relevant sind.

Da gibt es keinen Anfang und kein Ende. Alles bedingt sich gegenseitig. Wir müssen in die Vergangenheit zurückgehen, die Vergangenheit in die Gegenwart holen, um in der Gegenwart Zukunft zu gestalten. Wir befinden uns ständig in einem Kreislauf.

Wenn wir wieder das Bild der Uhr nehmen: Es gibt keine Uhr, die zur Stunde schlägt. Das ist nicht die wirkliche afrikanische Art, Zeit zu lesen. Sie orientiert sich stattdessen am Tageslauf: Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter, die Sonne geht auf und die Sonne geht unter.

Du befindest dich in einem ständigen Kreislauf: Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt, dann war zu dieser Zeit etwas, das passieren musste. Und nicht unbedingt: Es ist jetzt fünf vor zwölf, ich komme zu spät!

Ich finde es daher ganz wichtig, dass Afrofuturismus in einem Schwarzen Kontext bleibt, und durch eine afrozentrische Linse gelesen wird. Dass wir uns immer die Frage stellen müssen: Über welche Zukunft sprechen wir eigentlich? Dieses Genre gab es aus diesem Grund schon immer. Das ist nicht etwas, das erst in den Neunzigern mit Mark Dery entstanden ist.

Jenseits bestehender Ordnung und jenseits eurozentrischer Interessen

Gibt es verschiedene historische Formen dieses Phänomens?

Natasha A. Kelly: Ja. Die Afrofuturismus-2.0-Bewegung setzte 2008 ein, als das System in der Banken- und Wirtschaftskrise zusammengebrochen ist – immer dann, wenn das eurozentrische System zusammenbricht, gibt es Raum für Schwarze Ideen und Schwarze Visionen.

Dasselbe trifft auch auf Black Lives Matter zu: Die Welt bricht 2020 unter Corona zusammen und Black Lives Matter erlebt seinen Höhepunkt.

Ein historisches Beispiel wäre 1920, als Du Bois' Text The Comet entstanden ist. Das war kurz nach dem 1. Weltkrieg. Damals trat die sogenannte Spanische Grippe auf, die Welt brach zusammen, es folgte einen Sommer des rassistischen Terrors und eine Schwarze Bewegung, die daraus hervorgegangen ist.

Gibt es verborgene Rhythmen?

Natasha A. Kelly: Immer, wenn das weiße rassistische eurozentrische System zusammenbricht, aus welchen Gründen auch immer, lässt es Raum für Schwarze Ideen, die aus diesen Ritzen hervorgehen und wachsen kann. Das ist etwas, was den Afrofuturismus sehr stark kennzeichnet. Das ist jenseits bestehender Ordnung und jenseits eurozentrischer Interessen.

Diese Schwarze Geschichte bleibt in Europa häufig unsichtbar. Mit der neuen Publikation Mapping Black Europe, die Sie bei transcript herausgegeben haben, machen Sie auf diese verschütteten Geschichten aufmerksam. Was fehlt hier noch?

Natasha A. Kelly: Ich kann diese Frage sehr gut mit dem Buch-Artwork erklären. Das Cover des Buches ist von Sonia E. Barrett. Sie ist eine britisch-deutsche Künstlerin mit jamaikanischen Wurzeln, lebte eine Zeitlang hier in Deutschland, lebte eine Zeitlang in England, war in verschiedenen Ländern der Welt unterwegs.

Dieses Bild hatte sie im Kontext des Royal Mapping Rooms in London erstellt. Das ist ein Museum, wo die ganzen Landkarten der Welt, der europäischen Eroberer und alles andere ausgestellt wird. Sie ist mit ihrem Kollektiv in dieses Museum gegangen und sie haben diese Maps geschreddert, bis sie einzelne Streifen hatten. Diese flochten sie dann zusammen und bauten neue Landkarten daraus.

Dieser symbolische Prozess verdeutlicht sehr gut unser Verständnis von Schwarzer Geschichte oder Schwarzer Kultur in Europa. Es ist ein Teil der vielen Schichten von Europa. Europa würde ohne Afrika überhaupt nicht existieren. Das ist eine Tatsache, und diese wird auf eine solche visuelle Art auf dem Buchcover sichtbar gemacht.

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