Schweigen oder Schwurbeln

Replik auf die Diskussion über den Artikel "Schrödingers Katze endlich zur Ruhe gebettet?"

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Karl Czasny ist Verfasser einer Studienreihe zu den "Erkenntnistheoretischen Grundlagen der Physik" und veröffentlichte an dieser Stelle im Vorjahr einen Artikel, in dem er aus erkenntnistheoretischer Perspektive die Art des Zugangs des modernen Materialismus zum Phänomen des Selbstbewusstseins kritisierte (Schrödingers Katze endlich zur Ruhe gebettet?). Der Artikel führte zu einer regen Diskussion unter den Telepolis-Lesern, in der von einigen Diskussionsteilnehmern scharfe Kritik an den Thesen des Artikels geäußert wurde. Der Autor hat Ausschnitte aus dieser Leserdiskussion auf seiner Homepage dokumentiert und mit einer ausführlichen Replik versehen. Der folgende Text beinhaltet einen kurzen Ausschnitt aus dieser Replik. Der volle Wortlaut der Replik samt Dokumentation der Diskussion kann hier gelesen werden.

Ein auf tiefgehende Missverständnisse verweisender Vorwurf wird vom Leser 'THEFRITZ' geäußert: Er sieht in meinem Artikel ein Beispiel für die "alte Hybris der Philosophie, … die Welt aus dem 'Geist' erklären zu wollen", was auch im Titel der Studienreihe 'Erkenntnistheoretische Grundlagen der Physik' zum Ausdruck komme.

Hier meldet sich ein Denken zu Wort, das in Materie und Geist zwei Substanzen der Welt zu erkennen meint, von denen eine die grundlegendere ist. Zwischen denen, welche der Materie das Primat zubilligen und denen, welche den Geist an die erste Stelle reihen, herrscht für die Vertreter dieses Denkens ein Glaubenskrieg. THEFRITZ ist Materialist und fühlt sich daher angegriffen durch einen Artikel, hinter dem er einen Anhänger der Gegenseite vermutet. Diese Ansicht widersprecht völlig meinem Verständnis von Gegenstand und Funktion der Erkenntnistheorie. Ich bin nämlich nicht der Auffassung, dass sich Physik und Erkenntnistheorie mit zwei verschiedenen Gegenständen (Materie bzw. Geist) beschäftigen. Das Verhältnis dieser beiden Wissenschaften ist aus meiner Sicht vielmehr das folgende:

Die Physik geht - so wie jede andere empirische oder formale Einzelwissenschaft - von bestimmten obersten Annahmen (sprich: Axiomen) aus, welche sie selbst nicht mehr begründen kann. AIAX hat also völlig recht mit seinem Bekenntnis zu der Aussage, dass all unser Wissen "über einem Abgrund aus Nichts" schwebt. Und auch SAM_NASEWEIS liegt ganz richtig mit seiner Vermutung, dass wir im Grunde ja nicht wissen, was Materie, Kausalität, Zeit usw. wirklich ist. Zwar ist auch CUBEFOX zuzustimmen, wenn er in seiner Antwort auf die von AIAX und SAM_NASEWEIS geäußerten Bedenken betont, dass die Physik ihre grundlegenden Begriffe wie Kausalität, Materie, Zeit usw. sehr genau definiert. Was er dabei aber übersieht, ist der Umstand, dass 'etwas definieren' und 'etwas verstehen (oder es gar auch noch begründen)' zwei völlig verschiedene Paar Schuhe sind.

Die von SAM_NASEWEIS genannten Begriffe sind tatsächlich wichtige Beispiele für Elemente des physikalischen Wissens, die unmittelbar über dem von AIAX erwähnten 'Abgrund aus Nichts' schweben. Ich erinnere hier beispielhaft an Newtons Definition des Begriffs der Masse, die von Ernst Mach völlig zu Recht als leere Tautologie entlarvt wurde. Konsequenterweise hat dann auch Machs Zeitgenosse Heinrich Hertz das Konzept einer Mechanik vorgelegt, die völlig ohne den Massebegriff auskommt. Soviel zur gedanklichen Präzision und Abgeklärtheit der begrifflichen Grundlagen der exaktesten aller Naturwissenschaften.

Erkenntnistheorie

Thema der Erkenntnistheorie sind genau jene Bereiche des Wissens der Einzelwissenschaft im Allgemeinen bzw. der Physik im Besonderen, die unmittelbar über diesem Abgrund schweben. Sie kann ihnen zwar keine feste Basis geben, jedoch zumindest den Abgrund ausleuchten, sodass er nicht mehr ein "Abgrund aus Nichts" ist.

Was sucht bzw. findet nun aber die Erkenntnistheorie bei diesem Ausleuchten des Abgrunds? Sie sucht jedenfalls kein noch tiefer gehendes Wissen - denn dann wären ja die über dem Abgrund schwebenden Anfangssätze der Wissenschaft keine Axiome, sondern selbst bloß abgeleitete Aussagen. Ein derartiges Bemühen um die Erlangung von noch tieferem Wissen wäre tatsächlich die von THEFRITZ beklagte "alte Hybris der Philosophie".

Was Erkenntnistheorie anstelle von Wissen sucht, sind bloße Gewissheiten, bezüglich derer alle, die Wissenschaft betreiben wollen, schon im Vorfeld übereinstimmen - Gewissheiten, die im Alltagsbetrieb der Wissenschaft nicht thematisiert werden, weil sie als ein von allen Wissenschaftlern geteiltes, scheinbar unproblematisches Vorverständnis der Rahmenbedingungen und Ziele des kollektiven Bemühens um Erkenntnis gar nicht explizit bewusst sind. Sie auszusprechen und zu hinterfragen, darin besteht die Leistung der Erkenntnistheorie. In dem Maße in dem sie diese Leistung erbringt, schafft sie der Wissenschaft selbst eine rationale Grundlage. Und weil man das physikalische Wissen besser über einer solchen Grundlage errichten sollte als über einem Abgrund aus Nichts, finde ich es wichtig, dass Bücher über 'Erkenntnistheoretische Grundlagen der Physik' geschrieben werden.

Da es der erkenntnistheoretischen Argumentation darum geht, die Vorarbeit für präzise Begriffsdefinitionen zu leisten, sind die erkenntnistheoretischen Diskurse notwendig durch tastende Unsicherheit, Unschärfe, ja sogar Zirkelhaftigkeit gekennzeichnet. Die an die Klarheit und Schärfe der einzelwissenschaftlichen Argumentation gewöhnten Naturwissenschaftler sprechen daher in gewisser Weise zu Recht von Blabla oder Schwurbelei. Diese Kritik übersieht jedoch, dass die einzige Alternative zum Schwurbeln das von Wittgenstein im letzten Satz des Tractatus ins Spiel gebrachte Schweigen ist. Dass aber dieses Schweigen wohl nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann, hat dann auch Wittgenstein selbst eingesehen und mit seiner Spätphilosophie ein großartiges Geschwurbel vorgelegt, das sämtliche Thesen seines eigenen Tractatus widerlegt.

Philosophische Gewissheiten

An dieser Stelle wird sich nun der Leser fragen, was denn das für Gewissheiten sind, nach denen die Erkenntnistheorie sucht. Ich kann hier das weite Feld der von erkenntnistheoretischen Diskussionen und Reflexionen erzielten bzw. erzielbaren Einsichten nicht einmal annähernd skizzieren und muss mich mit den folgenden Hinweisen begnügen:

Der erste, der nach einer unbezweifelbaren, alles Wissen fundierenden Gewissheit fragte, war Descartes, und bekanntermaßen meinte er, sie in der Gewissheit des 'Ich denke' gefunden zu haben. Leider missverstand er seine eigene Leistung, indem er die Gewissheit des 'Ich denke' zum Wissen von einem Sein (cogito ergo sum) hochstilisierte. Damit mutierte das erste Zwischenergebnis einer die Wissenschaft begleitenden Selbstreflexion des Erkennenden Subjekts unter der Hand sofort zu einem scheinbar tiefsten Wissen über einen Bestandteil der von der Wissenschaft zu erforschenden Welt. Und dieses scheinbare Wissen wurde dann zum Ausgangspunkt für Descartes' Theorie von den beiden Grundsubstanzen der Welt (res cogitans und res extensa) - Hybris der Philosophie in Reinkultur.

Am Stichwort des 'Cogito ergo sum' lässt sich aber nicht nur der Unterschied zwischen erkenntnistheoretischen Reflexionen über die das Wissen fundierenden Gewissheiten einerseits und metaphysischen 'Theorien' über Strukturen der Welt andererseits demonstrieren. Anhand dieses Beispiels kann man darüber hinaus auch zeigen, dass alle Gewissheiten einem historischen Wandel unterliegen, was dazu führt, dass Erkenntnistheorie ein prinzipiell nie abgeschlossenes Projekt der wissenschaftlichen Selbstreflexion ist.

Konkret meine ich damit folgendes: Die Gewissheit des 'Cogito' war der adäquate Ausdruck eines seiner individuellen Stärke und Gestaltungskraft bewussten Vertreters der im Frühkapitalismus neu entstehenden Klasse des Bürgertums, der alle Zweifel mit sich selbst in seinem ganz privaten Inneren abmachte. Rund dreihundert Jahre später sind die kapitalistischen Produktionsverhältnisse so umfassend entwickelt, dass der kollektive Charakter alles Planens und Produzierens, damit aber auch alles Erkennens immer stärker in den Vordergrund tritt. Es wird klar, dass die Tätigkeit des Zweifelns und mit ihr das Finden von unbezweifelbaren Gewissheiten nichts ist, was sich im Inneren des einzelnen Menschen abspielt, sondern eine Angelegenheit des Kollektivs darstellt. Das neue Subjekt alles Zweifelns und aller Suche nach unbezweifelbaren Gewissheiten ist die Gemeinschaft der mit einander kommunizierenden und produzierenden Akteure, die ihre Kooperation über kollektiv anerkannte Handlungsregeln steuern. Oberste unbezweifelbare Gewissheit ist nun längst nicht mehr das monologische 'Ich denke' des Descartes sondern das dem Sprachspielkonzept des späten Wittgenstein zugrunde liegende 'Wir kooperieren und befolgen dabei gemeinsam anerkannte Regeln'.

Nachbemerkung

Im weiteren Verlauf der Replik liefert Karl Czasny eine erkenntnistheoretische Kurzanalyse des Begriffs der Emergenz, welcher in der Leserdiskussion zu seinem Artikel eine zentrale Rolle spielt. Auf Basis dieser Analyse wendet er sich dann zunächst nochmals dem Phänomen des Selbstbewusstseins zu, um schließlich auf das auch in der Leser-Diskussion ausführlich behandelte Verhältnis von Freiheit und Determinismus einzugehen.