Sieben Jahre nach G20-Protest: Bringt dieser Prozess das Demonstrationsrecht in Gefahr?
Spätes Nachspiel: Fünf Personen wegen G20-Protest 2017 in Hamburg vor Gericht. Erstaunlich ist, wie wenig ihnen konkret vorgeworfen wird.
Bald ist es sieben Jahre her, dass im Sommer 2017 Zehntausende Menschen in Hamburg gegen den G-20-Gipfel demonstrierten. Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Teilen der Demonstranten hatten damals für viel Aufregung gesorgt.
Scholz leugnete Polizeigewalt
Polizeigewalt rund um das Hamburger Gipfeltreffen ist gut dokumentiert – allen Leugnungsversuchen und des damals Regierenden Bürgermeisters und heutigen Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD), zum Trotz. Drei Polizisten wurden gut sechs Jahre später angeklagt.
Mehrheitlich richteten sich Strafverfahren aber gegen Personen, die Teil der Protestbewegung waren. Für fünf Betroffene begann die juristische Aufarbeitung im zweiten Anlauf erst in dieser Woche, am 18. Januar vor dem Landgericht Hamburg.
Schuldig durch Anwesenheit?
Den drei Frauen und zwei Männern wird gemeinschaftlicher schwerer Landfriedensbruch und tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte vorgeworfen – hauptsächlich, weil sie Teil einer Menge gewesen sein sollen, aus der heraus diese Straftaten begangen worden seien. Eine klare Zuordnung scheint auch der Staatsanwaltschaft schwer zu fallen.
Ein erster Prozess war wegen der Corona-Pandemie abgebrochen worden. Mit einer Kundgebung am kalten Wintermorgen machte ein bundesweites Solidaritätskomitee am Donnerstag auf die Bedeutung des Verfahrens für das Versammlungsrecht aufmerksam.
Ver.di unterstützt Angeklagte
Hier zeigte sich auch die politische Breite der Solidaritätsbewegung. So waren auf der Kundgebung auch Fahnen der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und die Parole "Ziviler Ungehorsam ist kein Verbrechen" zu sehen.
Diese Breite ist kein Zufall. Sie spiegelt wider, was vor sieben Jahren auf Hamburgs Straßen zu sehen war. Damals hatte nicht nur die linke Szene protestiert, sondern auch viele Menschen, die sich sonst nicht politisch stark engagierten.
Bekannt wurde das "Cornern" an vielen Stellen von Hamburg, wo sich Menschen einfach versammelten, Musik hörten, aßen und tranken – und mit einem Banner oder einem Schild deutlich machten, was sie von dem Elitentreffen hielten. "Lieber Tanz als Geh 20" wurde ein beliebter Slogan.
Demokratiefreie Zonen in der Innenstadt
Besonders geärgert hatte viele die Arroganz der Macht des Senats unter Olaf Scholz: Der heutige Bundeskanzler hatte gegen den Willen großer Teile der Bevölkerung das Gipfeltreffen nach Hamburg geholt.
Die Folge waren faktische demokratiefreie Zonen in der Hamburger Innenstadt. Das Sicherheitskonzept für die hochrangigen Gäste sorgte für starke Beeinträchtigungen – für "Normalos" wie für Menschen, die ihren Protest kundtun wollten.
Doch das Kalkül der Staatsapparate ging trotz aller Drohgebärden nicht auf. Die Menschen gingen in Hamburg auf die Straße und wurden in vielen Fällen Opfer von Polizeigewalt.
Bisher fast alle Verfahren gegen Polizeibeamte eingestellt
Bisher wurden fast alle Verfahren gegen beschuldigte Polizisten eingestellt. Dagegen gab es in der Schweiz schon harte Strafen für Demonstranten, die beschuldigt wurden, Teil einer Menge gewesen zu sein, aus der heraus auch Straftaten wie Steinwürfe erfolgt sein sollen.
Die auf juristische Verfahren spezialisierte Bloggerin Detlef Georgia Schulze auf eine wenig beachtete Verurteilung von zwei G20-Demonstranten in Zürich aufmerksam gemacht, weil sie auch Bezüge zum Verfahren in Hamburg sieht:
Da den Züricher Angeklagten an konkreten Handlungen ziemlich wenig vorgeworfen wurde (im wesentlichen Anwesenheit bei der polizeilichen Auflösung einer Demo und dunkle Kleidung) und den Hamburger Angeklagten ähnlich wenig vorgeworfen wird, stellen sich also in dem kommenden Hamburger Verfahren (mehr oder minder) dieselben Rechtsfragen, die sich auch in dem Züricher Verfahren stellten.
Detlef Georgia Schulze, taz
Konstrukt von der gemeinschaftlichen Tat
Aktuell stehen in Hamburg Demonstranten vor Gericht, die im Rahmen der G20-Proteste im Rondenbarg, einer Straße in einem Industriegelände am Rande von Hamburg von der Polizei mit massiver Polizeigewalt konfrontiert wurden. Es gibt Videos, auf denen viele verletzte Demonstranten zu sehen sind.
Die Staatsanwaltschaft will hier aber keine Versammlung erkennen, sondern eine Menge, die aus der heraus Straftaten begannen wurden. Obwohl auch die Staatsanwaltschaft nicht behauptet, dass alle oder auch nur die Mehrheit der Angeklagten an solchen Aktionen beteiligt waren, soll mit dem Konstrukt der gemeinschaftlichen Tat eine Verurteilung trotzdem möglich gemacht werden, ohne dass eine konkrete Tatbeteiligung nachgewiesen werden muss.
Weitreichende Folgen für die Versammlungsfreiheit
Es soll die bloße Anwesenheit auf einer Demonstration für solch eine Verurteilung ausreichen. Falls das Gericht den Forderungen der Staatsanwaltschaft folgt und die Betroffenen der Rondenbarg-Verfahren mit Hilfe des Landfriedensbruch-Paragrafen verurteilt, wird die Versammlungsfreiheit und damit das wichtigste Mittel zur politischen Auseinandersetzung im öffentlichen Raum massiv eingeschränkt, warnen denn auch kritische Juristen und Bürgerrechtsorganisationen.
Es wäre auch eine massive Einschüchterung, weil auf einer größeren Demonstration niemand wissen kann, ob aus der Menge heraus plötzlich ein Stein fliegt und Menschen, die nur in der Nähe gelaufen sind, dann ebenfalls bestraft werden. Zudem werden Kriterien wie dunkle Kleidung eingeführt, die für eine Verurteilung relevant sein könnte.
Hooligan-Urteil als Präzedenzfall?
Die Staatsanwaltschaft nimmt damit Bezug auf eine höchstrichterliche Entscheidung, bei der es um Fußballfans ging, die sich nach dem Spiel zu einer Schlägerei verabredet hatten. In diesem Fall wurde höchstrichterlich entschieden, dass Menschen, die bei einer solchen Aktion mitmachen, auch für die Folgen verantwortlich sind.
Jetzt befürchten Bürgerrechtsorganisationen, dass hier ein Urteil, das sich auf Fußballfans bezog, auf politische Demonstranten angewandt werden könnte. "Zuschauen als Straftat", bringt die taz diese Verschärfungen auf den Punkt.
Die befürchtete Einschränkung des Demonstrationsrechts mobilisiert viele Menschen, eben auch ver.di-Gewerkschafter. Zu Beginn der Hauptverhandlung hat die Richterin in Hamburg schon erklärt, dass wegen der Dauer des Verfahrens nicht mit Haftstrafen für die Angeklagten bei einer Verurteilung zu rechnen sei.
Angeklagte fordern Einstellung des Prozesses
Das macht noch einmal die Befürchtung deutlich, dass es der Staatsanwaltschaft vor allem um eine Verschärfung der Rechtsprechung geht. Die Angeklagten fordern die Einstellung des Verfahrens.
Zudem verlas einer der Angeklagten, das ver.di-Mitglied Nils J. eine Prozesserklärung, in der er noch mal begründete, warum er sich 2017 an den Protesten gegen den G20-Gipfel beteiligt hatte.
Die Richterin hat mittlerweile eine Einstellung der Verfahren angeboten. Bedingung: Alle Angeklagten sollen eine Erklärung gegen Gewalt auf Demonstrationen unterzeichnen. Darüber wollten sich sich zunächst mit ihren Anwälten beraten.
Belastend auch ohne Verurteilung
Die Verhandlungstage, die bis zum August 2024 terminiert sind, wären auch eine Belastung für die Angeklagten, wenn es zu keiner Verurteilung kommt. Schließlich müssen Menschen aus der ganzen Republik zweimal im Monat zum Prozess nach Hamburg fahren, was ihr Leben massiv beeinträchtigt. Einer Angeklagten ohne deutsche Staatsbürgerschaft droht im Fall einer Verurteilung der Verlust des Aufenthaltsrechts und möglicherweise die Abschiebung.
An diesem Samstag wollte die bundesweite Solidaritätsbewegung mit einer Demonstration durch die Hamburger Innenstadt Solidarität mit den Angeklagten ausdrücken und gegen eine Verschärfung des Demonstrationsrecht protestieren.