So verändert der Krieg Russland - und das sind drei mögliche Szenarien

Seite 2: Gesellschaftsvertrag des Putinismus aufgekündigt

Entschlossen, sich mit Gewalt Respekt zu verschaffen, sieht sich der Kreml nun gezwungen, eine interne Veränderung vorzunehmen. Die Spannungen mit dem Westen, die Sanktionen und die Kriegsanstrengungen setzten all dem ein endgültiges Ende, wofür Putin von den meisten Russen geschätzt wurde: Er hat sie aus den Katastrophen der 90er-Jahre herausgeführt, aus der ständigen Verschlechterung des Lebensstandards der Mehrheit.

Eine gewisse institutionelle und symbolische Stabilität wurde wiederhergestellt, ebenso wie die wesentlichen Funktionen des Staates.

Diese Menge an Verbesserungen hat die Menschen die Ungerechtigkeiten der neoliberalen Kontinuität und die Exzesse des oligarchischen Kapitalismus, dem sich dem Staat immer stärker unterordnete, ebenso verzeihen lassen wie die Betrügereien der alternativlosen Wahlen.

Jetzt geraten die Stabilität ins Wanken. Der Bevölkerung werden patriotische Opfer abverlangt, mit möglichen Rezessionen und einem Rückgang des Lebensstandards angesichts der "existenziellen Bedrohung", die laut Kreml über Russland schwebt.

Der Gesellschaftsvertrag des Putinismus wurde aufgekündigt. Aber wenn die soziologischen Studien, die in den letzten Jahren in Russland durchgeführt wurden, eines deutlich machen, dann ist es die Priorität, die die Menschen dem Wohlstand gegenüber der Großmachtidentität einräumen. Im heutigen Russland herrscht nicht mehr die sowjetische Tendenz dazu, das Volk auf dem Altar der obersten Interessen des Staates zu opfern. Das bedeutet, dass ein neuer Konsens erkauft werden muss.

Entweder kommt es also zu einem radikalen sozioökonomischen Wandel und der Kreml schlägt der Gesellschaft einen neuen Gesellschaftsvertrag mit mehr Teilhabe, weniger Ungleichheit und wirtschaftlichem Missbrauch vor, oder es kommt zu mehr Repression, die den Zusammenbruch des politischen Regimes aber nicht verhindern wird.

Bereits im März 2022 rief der Politikwissenschaftler Dmitri Trenin dazu auf, "die Russische Föderation auf einer politisch nachhaltigeren, wirtschaftlich effizienteren, sozial gerechteren und moralisch solideren Grundlage neu aufzubauen".

Angesichts der bevorstehenden Herausforderungen müsse das Regime "alle Ressourcen mobilisieren" und "die Unterstützung der schwächsten Teile der Bevölkerung gewinnen", sagte er. Dies erfordere "das Kappen der Korruptionskanäle, die Neuausrichtung des Großkapitals auf die nationalen Interessen, eine neue Personalpolitik zur deutlichen Verbesserung der Qualität der öffentlichen Verwaltung auf allen Ebenen, soziale Solidarität und die Rückkehr zu grundlegenden, nicht monetären Werten als Lebensgrundlage.

Diese Veränderungen wiederum seien undenkbar ohne die Überwindung des oligarchischen Kapitalismus, der Kapital in Steuerparadiese exportiert, ohne eine umfassende Rotation der Führungselite, der Staats- und Verwaltungsapparate und folglich ohne die Neuverhandlung des Gesellschaftsvertrags zwischen Regierung und Gesellschaft auf der Grundlage von gegenseitigem Vertrauen und Solidarität."

"Der russische Staat ist von außen betrachtet fast unbesiegbar, aber er bricht zusammen, wenn eine bedeutende Masse von Russen von ihren Machthabern und dem ungerechten und dysfunktionalen Sozialsystem desillusioniert ist", warnte er.

Der ukrainische Soziologe Volodymyr Ischchenko hat in diesem Zusammenhang die Ausprägung eines gewissen militärischen Keynesianismus in Russland festgestellt.

Um den Kriegsanstrengungen zu dienen, arbeiten die russischen Militärfabriken vierundzwanzig Stunden am Tag in kontinuierlichen Personalschichten an sieben Tagen in der Woche. Die Sozialleistungen und Gehälter dieses Verteidigungs-, Produktions-, Forschungs- und Entwicklungspersonals sind außergewöhnlich.

Diejenigen, die sich vertraglich verpflichten, in der Armee zu kämpfen, erhalten ein monatliches Gehalt von umgerechnet dreitausend US-Dollar; eine sehr hohe Summe, die die wirtschaftlichen Probleme von Hunderttausenden Familien löst, insbesondere in den ärmsten Regionen des Landes, die die Hauptrekrutierungsgebiete der Armee sind.

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