So verrät Friedrich Merz den Wertewesten

Spielt mit Ressentiments: Friedrich Merz. Bild: Olaf Kosinsky, CC BY-SA 3.0-de

Der Oppositionsführer hat seine "Sozialtourismus"-Äußerung zurückgenommen. Doch sie war ohnehin nur ein Testballon. Die Einlassung birgt politische Gefahren. Ein Kommentar.

Wer bei Menschen, in deren Land ein Krieg tobt, der Leben gefährdet, Wirtschaft und Existenzen ruiniert, von "Sozialtourismus" spricht, zeigt deutlich fehlende Empathie. Die entsprechenden Äußerungen von Oppositionsführer Friedrich Merz sind als Testballon ernst zu nehmen. Fragen zum Pendeln ukrainischer Flüchtlinge fließen – auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk – bereits in erste Interviewfragen ein, und könnten vor dem Hintergrund steigender Preise und verlustig gehender sozialer Sicherung ihre politische Entfaltung finden.

Zunächst scheint der Testballon, ob die Zeit schon reif ist für die Projektion des Frusts auf die Anderen, noch nicht reif. Wir wissen aber aus Erfahrung, dass die Gefahr besteht, dass diejenigen, die man also doch nicht als so zugehörig empfindet, wie manche zu Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine beschworen, bald zu Sündenböcken macht. Merz legt dafür vor.

Nun bietet es sich also an, nicht mehr nur die aufkommenden existentiellen Ängste auf Putin allein, sondern auch auf die Geflüchteten aus der Ukraine zu projizieren.

Damit hilft der vermeintliche Oppositionsführer sogar der derzeitigen Bundesregierung, die ob ihrer schnellen Sanktionsentscheidungen mit in der Kritik steht, die Energiekrise und in Folge derer absehbar die aufkommende und sich weiter entfaltende Wirtschaftskrise mit herbeigeführt zu haben.

Dass die CDU sich eher selten mit echter Humanität hervortut, ist nun allerdings nicht neu. Das war schon zu Zeiten Roland Kochs und seines Referendums gegen den Doppelpass in Hessen bekannt und wurde auch bei der lange verweigerten Zustimmung zur Ehe für alle offensichtlich.

Aber nicht zuletzt die vehemente Kritik an Ex-Kanzlerin Angela Merkels Einladung "Wir schaffen das!" 2015 bestätigt diesen Eindruck. Die Gesetze sind nach wie vor so angelegt, dass möglichst wenige Hilfe- und Schutzsuchende Deutschland erreichen, um einen Asylantrag zu stellen.

Nicht einmal für die Mitarbeiter der Bundeswehr aus Afghanistan, die seit dem Abzug massiv mit dem Tode bedroht werden, gibt es Gnade – von den verhungernden Menschen in Geiselhaft der Taliban ganz zu schweigen.

Dabei wird Hunger durch Krieg und Klimakrise der Fluchtgrund der Zukunft sein. Die Mittelmeertoten, die auf Basis von EU-Recht sterben, welches es dem Friedensnobelpreisträger Europäische Union ermöglicht, die wohlklingend benannte "Grenzschutzagentur" Frontex zur Flüchtlingsabwehr gegen jedes Seerecht auszuschicken, spricht da Bände. Wertewesten nicht in Sicht.

Das nun ausgesprochene offensichtliche Fehlen echter Empathie auch gegenüber den Ukrainern auf dieser politischen Ebene ist aber ein Novum in der heißen Phase dieses Krieges. Medien, die gerne die Mär vom "Wertewesten" mitbeten, sollten hier zu tiefergehenden Recherchen und Kommentaren ansetzen – denn im Sinne einer vierten Gewalt ist ja jede Behauptung von Macht- und Regierungsträgern auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.

Die Faktenchecker stehen zwar schon bereit, aber dem Dilemma, damit dem gesetzten Frame der Vorteilsnahme zuzuarbeiten, entkommt man damit nicht. Denn Verneinung bestätigt die Relevanz der Themensetzung. Nicht zuletzt Sarrazin hat davon profitiert.

Wordings der Gefühlskälte

Kommt mit den sinkenden Außentemperaturen auch die Gefühlskälte zurück? Was hat man denn gedacht? Dass Waffenlieferungen zu einer Verkürzung des Krieges führen würden? Dass Solidarität eine Teilzeitbeschäftigung ist, die man nach euphorischen Politikerstatements, Begrüßungskomitees an Bahnhöfen und entsprechender Medienberichterstattung wieder ad acta legen kann? Dass die Ukrainer "unsere Freiheit verteidigen" bis zum letzten Ukrainer?

Wer von "Sozialtourismus" – in böser alter Tradition des Söderismus "Asyltourismus" – spricht und im konkreten Fall den Ukrainern vorwirft, dass sie gelegentlich in die Heimat reisen, negiert die Zusammenhänge.

Da es kaum kritische Berichterstattung aus der Ukraine gibt, fehlt auch der Aspekt der zunehmenden Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit im ganzen Land weitestgehend. Auch im inzwischen beruhigten Westen der Ukraine kämpfen die Menschen nicht mehr nur mit ihren Ängsten vor Angriffen, sondern auch mit denen um ihre Existenz.

Die Arbeitslosenquote ist von rund neun Prozent im letzten Jahr auf etwa 35 Prozent gestiegen. Die Menschen im Westen des Landes baden mit aus, was durch Putins Angriff einerseits und den fehlenden Verständigungs- und Verhandlungswillen andererseits angerichtet wird – im Alltag der Einzelnen.

Der internationale Wirtschaftskrieg – übrigens auch ein Ausgangspunkt der Ukrainekrise 2014 – ist in der Fläche des riesigen Landes angekommen, nachdem man acht Jahre den wirtschaftlichen Niedergang und das Morden im Süd-Osten der Ukraine stillschweigend hingenommen hatte.

In vielen Branchen hat sich die Situation am Arbeitsmarkt enorm verschlechtert. Wäre es denn verwerflich, wenn diejenigen, die nicht ohnehin schon im Ausland arbeiten oder gar daran gehindert werden, versuchen auf andere Weise Mittel zu beschaffen, um die Familie über Wasser zu halten?

Zumal ja nicht Wenige in den Krieg gezogen sind und nicht mehr zum Familienunterhalt beitragen können. Wie weit also darf die Solidarität fairerweise gehen für diejenigen, die "unsere Freiheit verteidigen"?

Der Empathiemangel eines Friedrich Merz mündet in den üblichen Gesprächs-, Empörungs- und Distanzierungsritualen, wie wir es nicht erst seit den gut einstudierten AfD-Einlassungen gewöhnt sind. Inzwischen weiß man nur zu gut, dass der einmal gesetzte Frame irgendwann wieder aktiviert werden kann, wenn die Stimmung kippt – und das wird sie.

So war es auch nach den ersten empörten Reaktionen auf das Aufbringen des Testballons Laufzeitverlängerung für die längst überwunden geglaubten Atomkraftwerke. Das langjährige Aussitzen des Ausbaus von Windkraft & Co. in Bayern etwa hat nun also Früchte contra die Energiewende getragen. Aber in Geiselhaft der Bewahrkräfte sind vor allem die Menschen in der Ukraine, die in keinem echten Referendum befragt werden, wie es weitergehen soll.

Kriegsdienstverweigerer und Selbstbestimmungsrecht der Ukraine

Ausgewählte O-Töne geben da noch kein Stimmungsbild wider. Und da nicht der Wahrheitsgehalt der Fakten, schon gar nicht die komplexeren Zusammenhänge und Nöte hinter den Fakten, sondern letztendlich die Wiederholung der ausgewählten Fakten darüber entscheidet, was irgendwann mal als Wahrheit anerkannt und daraus resultierend umgesetzt wird, ist das Zündeln an den Ressentiments ein echtes Alarmzeichen.

Empathiemangel zeigt sich aber auch in der Kommentierung der Asylfrage nach der ethnischen Mobilmachung in Russland. Die sogenannte Teilmobilmachung ist ja eine, die sich besonders auf bestimmte Minderheiten fokussiert und ist damit ebenso rassistisch wie einige Reaktionen darauf.

Denn bereits bei den russischen Flüchtlingen und Kriegsdienstverweigerern sollen Unterschiede gemacht werden, genau und kritisch die wirkliche Motivation für das Verlassen des Landes geprüft werden – so sie denn noch gelingt nach den neuesten Einschränkungen bei der Grenzüberschreitung.

Während man aber grundsätzlich gerne die echten Deserteure aufzunehmen bereit ist, wird dies in einigen Kommentaren bezüglich Deserteuren aus der Ukraine rundweg abgelehnt – die sollen gefälligst kämpfen gegen die russische Aggression und natürlich wiederum für "unsere Freiheit".

Spätestens hier verrät sich ein Doppelstandard und gleichzeitig die Instrumentalisierung der Ukraine als eine Art Vorfront für nicht ausgetragene Interessenkonflikte. Das zeugt von strategischem Denken, weniger von Menschenrecht und Menschenfreundlichkeit oder von einem zusammenstehenden "Wertewesten".

Wer für das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer eintritt, muss deren Entscheidungen uneingeschränkt respektieren – also auch die der Kriegsdienstverweigerer. Jenseits russischer Referenden als Vorbau von Annexionen in den langjährig umkämpften und massiv zerstörten Gebieten der Ostukraine darf und sollte die ukrainische Regierung tatsächlich auf ihr Volk hören und kritisch prüfen, ob die ein oder andere Einflüsterung aus dem Ausland vielleicht gar nicht so wohlmeinend ist, wie man es verdient hätte.

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