Sollen in Deutschland Sozialkredite wie in China eingeführt werden?

Der Zukunftsforscher Christian Grünwald über das Zukunftsbüro beim Bildungsministerium, die Gesellschaft von morgen und missverstandene Wissenschaft

Herr Grünwald warum und wie erforschen Sie für das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Zukunft?
Christian Grünwald: Die Grundlage für unsere Arbeit bildet ein sogenanntes Horizon Scanning …
… also die systematische Erfassung bekannter und neuer Entwicklungen in einem bestimmten Forschungsgebiet.
Christian Grünwald: Dieses Scanning findet über drei Jahre hinweg statt. Es erstreckt sich über eine Vielzahl von Medienberichten, Sekundärliteratur, Patentanalysen und andere Quellen. Wir versuchen auf dieser Basis, Trends, Entwicklungen, aber auch noch schwache Signale für zukunftsrelevante Entwicklungen zu identifizieren, die in den nächsten zehn bis 20 Jahren eine Relevanz für forschungs-, bildungs- und innovationspolitische Debatten entwickeln könnten.
Diese Entwicklungen beschreiben wir in sogenannten Themenblättern, die wiederum auf vorausschau.de nachgelesen werden können. Auf Grundlage der identifizierten Themen werden zudem Vertiefungsstudien durchgeführt, in denen dann eben versucht wird, verschiedene mögliche Entwicklungen zu durchdenken und zu explorieren.
Wie gehen Sie bei solchen Studien vor?
Christian Grünwald: Am Beginn des sogenannten Foresight-Prozesses stand eine Vertiefungsstudie, die sich mit der Zukunft der Wertvorstellungen der Menschen in Deutschland auseinandergesetzt hat.
Nun ist es aber so, dass Wertvorstellungen immer hochgradig davon abhängig sind wie sich die Gesellschaft organisiert. Daher haben wir in unserer Studie sechs verschiedene Gesellschaftsszenarien entwickelt, also sechs zugespitzte Zukunftsbilder. Daraus haben wir abgeleitet, wie sich aus diesen Zukunftsbildern Wertelandschaften entwickeln können.
Sind solche Wertestudien nicht immer nur Momentaufnahmen gesellschaftlicher Situationen, die im Vorschauzeitraum stark von relevanten Meinungsmachern aus Politik und Medien verändert werden? Können Sie überhaupt belastbare Aussagen treffen?
Christian Grünwald: Wenn wir Szenarien entwickeln, dann bewegen diese sich sicherlich immer im Spannungsfeld zwischen dem, was heute an Zukunftsvorstellungen vorhanden ist, also den gegenwärtigen Zukünften, und den zukünftigen Gegenwarten, die wir in diesen Szenarien zu antizipieren versuchen.
Deswegen haben wir auch ganz bewusst Zukunftsbilder entwickelt, die weit über das hinausgehen, was heute an Vorstellungen vorhanden ist, um Dynamiken des Wertewandels skizzieren zu können. Wichtig ist, dass solche hypothetischen Szenarien nicht als Prognosen zu verstehen sind.´
Wir sind uns alle bewusst, dass die Zukunft sich nicht exakt so entwickeln wird, wie in den einzelnen Szenarien beschrieben. Das sind nur mögliche künftige Entwicklungen, die bestehende Trends zugespitzt weiterdenken.
Für uns ist es wichtig, dass wir den Blick öffnen und Denkhorizonte erweitern, um das künftige Möglichkeitsspektrum erfassen zu können.

"Künftige Entwicklungen möglichst wertfrei skizzieren"

In diesem Zusammenhang hatten wir bei Telepolis auch über Ihre Forschung berichtet. Im Netz gab es einige Aufregung, weil eines dieser Szenarien als Prognose oder gar anstrebenswertes Gesellschaftsmodell gedeutet wurde. Unter der Überschrift "Das Bonus-System" beschreiben Sie ein Sozialkreditsystem wie es in der Volksrepublik China praktiziert wird. Herr Grünwald, wollen Sie chinesische Verhältnisse in Deutschland?
Christian Grünwald: Wir haben zunächst den Arbeitsauftrag, verschiedenen Szenarien explorativ zu durchdenken. Wir wollen künftige Entwicklungen möglichst wertfrei skizzieren, um den Möglichkeitsraum breit aufzuspannen und Denkhorizonte zu öffnen. Dann wiederum ist es Aufgabe der Politik, zu sagen: Diese Zukunft möchten wir haben und jene möchten wir eher vermeiden.
Zugleich ist es uns ein Anliegen – unsere Ergebnisse werden immer auch veröffentlicht – die Debatte über unsere Zukunft anzuregen. Wenn das eine oder andere Szenario auf Ablehnung stößt, dann ist damit schon ein Beitrag zum Zukunftsdiskurs geleistet. Wenn man sich also auch vergegenwärtigt, welche Zukunft man haben möchte.
Wenn Sie nun aber sagen, Sie geben der Politik Instrumentarien und Optionen zur Hand, birgt das dann nicht auch die Gefahr einer selbsterfüllenden Prophezeiung? Das Innenministerium immerhin hat im vergangenen Jahr erst nach erheblichem Widerstand vom flächendeckenden Einsatz von Gesichtserkennung Abstand genommen, Pilotprojekte wurden dennoch umgesetzt und der Einsatz durch Polizeibehörden nimmt zu. Diese Technik ist auch aus China bekannt. Das lässt vermuten, dass Innenminister Horst Seehofer das Szenario eines "Bonus-Systems" nicht als Warnung versteht.
Christian Grünwald: Nein, das sehe ich nicht. Wir sehen doch auch an der Diskussion, die sich über dieses spezifische Szenario entwickelt hat, dass wir einen lebhaften Diskurs über die Zukunft haben, die Zukunft also offen und in keiner Weise vorherbestimmt ist. Das heißt, es kann auch - im Gegenteil - als Bewusstseinsschärfung verstanden werden.
Es ist nicht auch nicht so, als dass wir in Deutschland nicht schon längst Scoringsysteme hätten – ich denke da an die Schufa oder Ähnliches. Insofern haben wir es schon auch als unsere Aufgabe verstanden, die bestehenden Entwicklungen zuzuspitzen und hypothetisch weiterzudenken, in welche Richtung sich das entwickeln könnte.
Kurzum: Ich sehe nicht die Gefahr einer selbsterfüllenden Prophezeiung, sondern vielmehr in der Reaktion auf dieses Szenario einen sehr aktiven Zukunftsdiskurs, der den Blick auf solche möglichen Entwicklungen geschärft hat.

"Die einfache Wahrheit der einen Zukunft gibt es nicht"

Wie haben Sie die sechs Szenarien vom "europäischen Weg" über die "Rückkehr der Blöcke" bis hin zum "Bonus-System" ausgewählt?
Christian Grünwald: Diese sechs Szenarien wurden mithilfe einer Methode entwickelt, die verschiedene Szenarien exploriert hat. Dabei spielen verschiedene Schlüsselfaktoren eine Rolle. Am Ende stand eine morphologische Analyse. Die Grundlage dafür wurde in partizipativen Workshops mit Expertinnen und Experten, die in der Studie auch genannt sind, entwickelt.
Man versucht dabei erst einmal, den Möglichkeitsraum möglichst breit aufzuspannen, um dann sehr unterschiedliche Szenarien zu beschreiben. Wir haben natürlich in so einer Analyse das Problem, dass es eine Vielzahl potenzieller Entwicklungen gibt. Am Ende können Sie immer nur eine Handvoll Szenarien auswählen und diese dann möglichst trennscharf voneinander abgrenzen.
Nun haben Sie im Rahmen Ihres gesamten Projektes auch eine sogenannte Wertestudie erstellt. Kern ist eine Meinungserhebung, die ja positive Ergebnisse: soziales Miteinander, Solidarität, Umweltbewusstsein. Gerade in der Pandemie haben wir aber doch das Gegenteil erlebt: Individualisierung, wenn auch oft staatlich erzwungen, Hamsterkäufe, Egoismus. Zeigt das nicht die Gefahr auf, dass die Befragten schlichtweg das sagen, was vermeintlich erwartet wird, aber anders handeln?
Christian Grünwald: In unserer modernen Gesellschaft haben wir es nie mit einfachen Entwicklungen zu tun. Wir haben es immer das Problem einer Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit. Das heißt, es gibt mehrere Entwicklungen, die nebeneinander stattfinden, die teilweise auch mehrdeutig und in sich widersprüchlich sind.
Während einerseits also zu Hause Klopapier gehortet wurde, entstanden in Nachbarschaften auch solidarische Aktionen, Einkäufe für ältere Menschen etwa. Wir haben also nie Entwicklungen nur in die eine oder andere Richtung. Dieser Wunsch nach Solidarität ist vor allem zu Beginn der Corona-Krise auch sehr stark gelebt worden. Die von Ihnen beschriebenen Hamsterkäufe oder das Klauen von Desinfektionsmitteln in Krankenhäusern und Arztpraxen gehörten aber auch zur Realität.
Insofern haben wir es, wenn wir über die Zukunft unserer Gesellschaft nachdenken, immer mit komplexen Gemengelagen zu tun. Die einfache Wahrheit der einen Zukunft gibt es nicht.
Im Zuge der Pandemie-Politik gab und gibt es erhebliche Kritik an den staatlichen Maßnahmen. Gerade die ohnehin sozial Abgehängten hatten das Nachsehen: Menschen, die schon länger Arbeitslosengeld II beziehen, alleinerziehende Eltern… Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass Ihre Zukunfts- und Wertestudien zu staatlichen Maßnahmen für eine solidarische, bessere Gesellschaft führen?
Christian Grünwald: Wir beschäftigen uns mit längerfristigen Trends, die zehn bis 15 Jahre in die Zukunft reichen. Es gehört natürlich zum Möglichkeitsraum, dass eine sehr viel stärkere Hinwendung durch gesellschaftliche Dynamiken zu mehr Solidarität stattfinden könnte; ganz in dem Sinne also, wie es in den Befragungen zum Ausdruck kommt.
Gleichwohl müssen wir uns, und deswegen sind die Szenarien auch so breit gespannt, auf eine Vielzahl von Entwicklungen vorbereiten und entsprechende Wege einschlagen, um sie zu gestalten. Das ist aber immer auch Ergebnis eines gesellschaftlichen Diskurses, bei dem die Einbindung aller Interessen in einer pluralistischen Gesellschaft ja nicht immer einfach ist.
Christian Grünwald ist Foresight Director bei Z_punkt The Foresight Company. Z_punkt und die Prognos AG bilden das Zukunftsbüro des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Aufgabe des Büros und des angeschlossenen Expertengremiums "Zukunftskreis" ist es, zukunftsrelevante Themen und Entwicklungen zu identifizieren sowie Szenarien der gesellschaftlichen Entwicklung zu skizzieren und zur Debatte zu stellen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.