Space, place, cyberspace

Nicht erst die elektronischen Medien und Computernetze haben die Urbanität unterminiert. Schon seit Beginn der Moderne versuchen Urbanisten und Architektur den städtischen Raum neu zu gestalten oder ihn zu dekonstruieren. Der Architekturtheoretiker Sokratis Georgiadis moniert, daß die nostalgische Beschwörung der Urbanität bislang eine programmatische Reflexion über das Schicksal der Stadt im postindustriellen Zeitalter verhindert hat.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Sokratis Georgiadis ist Professor an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart für Architektur- und Designgeschichte. Mit seinem Text hat er das Symposium "Vernetzte Städte - konkrete Orte. Das Schicksal der architektonischen Nähe im Zeitalter der Telepolis" am 8. Mai 1996 an der Kunstakademie eröffnet.

Sokratis Georgiadis

Space, place, cyberspace

- Glaubt man der Tagesschau vom 22. März 1996, so hat am Vormittag desselben Tages im Gelände des ehemaligen Flughafens Riem bei München eine Protestversammlung von 12.000 Bauarbeitern stattgefunden. Erstaunt und nicht ohne einen leichten Hauch wehmütiger Nostalgie dabei zu spüren, fragt man sich: Was ist aus der Arbeiterklasse bloß geworden? Einst griff sie die Bourgeoisie mitten in ihren Machtzentren an, ihre kampferprobten Kolonnen marschierten durch die Straßen und brachten den Herrschenden das Fürchten bei. Und jetzt? Jetzt verlegt sie ihren zum faden Protest verkürzten Kampf in ausgediente Airports am Rand der Metropole; sie selbst hat sich zu einer Randerscheinung des gesellschaftlichen Geschehens, zu einer sozialen Metastase degradieren lassen.

Ob der Klassenkampf stattfindet, stattgefunden hat oder stattfinden wird, hängt in der Tat nur noch von den Launen des jeweiligen Nachrichtenredakteurs ab. Er ist zu einem drittklassigen, im Grunde uninteressanten medialen Ereignis geworden.

- Ruhe herrscht in Waterford Crest. Eine teuer bezahlte Ruhe am Rande des von heftigen sozialen Spannungen heimgesuchten Los Angeles, die von bis an den Zähnen bewaffneten uniformierten Söldnern, Wachhunden und Videokameras geschützt wird. Für die wenigen Kontakte mit der Außenwelt reichen die vorhandenen Kommunikationsmittel völlig aus. Einige tausend Privilegierte und Wohlhabende kapseln sich in weiträumigen Gebieten an den Stadträndern ab, fern vom gefährlichen Rest der Gesellschaft. Das geschieht nicht nur in Los Angeles, sondern am Rande praktisch jeder Großstadt der USA und Canadas, aber auch in Brasilien, in Peru und sonstwo. Es handelt sich um eine symmetrische Spiegelung des ansonsten totgesagten Apartheid, um das Apartheid der Intimität. Waterford Crest - ein postmodernes Relikt einer Civitas, die nun jeden etymologischen, begrifflichen und auch faktischen Bezug zur Zivilisation aufgegeben hat.

- Shirley Glass ist Psychiaterin in Baltimore, die auf außereheliche Beziehungen spezialisiert ist. "Mehrere Kollegen rufen mich an", berichtet sie, "und bitten um meine Hilfe. Es geht dabei um Fälle von Patienten, die ein Verhältnis mit Partnern haben, das nur mittels des Internet lebt. Eine wirkliche körperliche Beziehung kann es zwar sicherlich dabei nicht geben, doch ist die emotionelle Spannung so groß, daß wir von einer echten erotischen Beziehung sprechen können." Die Nachricht, daß in den USA ein Scheidungsantrag wegen elektronischen Ehebruchs eingereicht wurde, ist durch die Presse gegangen.

E-Mail - A Love Story lautet der Titel des Bestsellers von Stephanie Fletcher. Die Intimität schlüpft hier aus ihrer Kapsel und wandert, gleitet, "surft" auf dem weltweiten Netz. Der Körper bleibt dabei keusch, engelhaft, ja er wird unerheblich, unwesentlich, belanglos, abhängiger Teil der Transportmaschine der Gefühle. Homes for Cyborgs bezeichnet Tony Vidler die Entwürfe von Elisabeth Diller und Ricardo Scorfidio. Doch auch Cybersouls wären darin gut aufgehoben.