Space, place, cyberspace

Seite 5: Zersplitterung der Stadt

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Bis zum 2. Weltkrieg und einige Zeit danach (man denke an Schlagworte wie: durchgrünte, aufgelockerte, autogerechte Stadt) war also das Denken der Architekten (und zwar über ideologische Grenzen hinweg) von der Idee der Aufhebung der Stadt absolut beherrscht. Es handelte sich dabei sicherlich um eine Reaktion auf die Mißstände der industriellen Stadt. Andererseits spiegelten aber die konkreten Utopien, die man in rascher und dichter Folge entwickelte, Strukturmerkmale der industriellen Stadt selbst wider.

Die Berührungsstelle zwischen Realität und Utopie bestand in der Tatsache, daß trotz der stürmischen Verstädterung im Zuge der Industrialisierung die moderne Entzauberung der Welt von einer dazu analogen Entzauberung der Stadt als Ort traditioneller Lebenszusammenhänge begleitet wurde.

Die Stadt verlor damit ihre vormoderne, die geistliche oder weltliche Gewalt repräsentierende Mitte, den symbolischen aber auch den organisierenden Kern der städtischen Gemeinschaft und des städtischen Lebens. Entfallen war jene integrierende Kraft, welche die nun ins Gigantische gewachsenen Bestandteile der Stadt im Sinne einer sie alle überwölbenden Einheit zusammenhalten würde.

Eine paradoxe Situation der Verdichtung bei gleichzeitger Entfaltung von starken, die Monofokalität verhindernden Zentrifugalkräften entstand, welche die Zersplitterung der Stadt in ihre gesellschaftlichen und funktionalen Einzelglieder zur Folge hatte. Strukturmerkmale unserer Telepolis waren hier - obwohl weit zurück vom elektronischen Zeitalter - im Keim enthalten.

Schon lange vor der Wiedererweckung des Interesses an der Urbanität durch die Soziologen und Stadtanalytiker, wurde die Pathologie der modernen Stadt von den Architekten selbst wahrgenommen. Der VIII. CIAM-Kongreß, der im Juli 1951 im englischen Hoddesdon stattfand, revidierte stillschweigend das Dogma der funktionellen Stadt und richtete die Aufmerksamkeit auf den Kern der Stadt, auf jenes Element, das - wie dort betont wurde - "aus der Gemeinschaft eine Gemeinschaft macht, nicht ein bloßes Zufallsaggregat von Individuen."

Die im Team X zusammengeschlossene jüngere CIAM-Generation entdeckte die urbane, sich nach dem menschlichen Maß richtende und mannigfaltige Stadt wieder. Ab Mitte der 60er Jahre entwickelte Aldo Rossi seine überaus einflußreiche Architektur der Stadt und damit eine Entwurfsmethodik, deren Grundlage die historischen Stadttypologien bildeten. Diese Entwicklungen setzten sich bis zu den im Zusammenhang mit der Berliner IBA (um die Mitte der achtziger Jahre) entwickelten Strategien zur Stadtreparatur und kritischen Rekonstruktion der Stadt nahtlos fort.

Immer mehr wurden dabei die Architekten zu Gefangenen ihres eigenen Traums, einer nostalgischen Idee der nun allerdings auf Hochglanz polierten frühmodernen Stadt; immer mehr erwiesen sich die Ansätze zu kritischen und weniger kritischen Rekonstruktionen als mehr oder weniger gelungenen Farcen. Was jedoch bei diesen Sandkastenspielen übersehen wurde, war die zwingende Logik der Modernisierung, die sich nach dem Krieg in gewaltigen Schüben weiter durchsetzte und die nach den Zerstörungen des Bombenkrieges verbleibenden Reste von Urbanität hinwegfegte.

Unsere heutige Nervosität angesichts der Telepolis rührt von der Tatsache her, daß die chimärische Suche nach der verlorenen Urbanität die Reflexion über das Schicksal der Stadt im postindustriellen Zeitalter verhindert hat. Wir fürchten uns vor neuen Technologien, übersehen aber dabei, daß diese nur auf eingeübte soziale Praktiken reagieren, sie bestätigen oder höchstens zu deren Zuspitzung führen. Eben auf diese Praktiken aber haben wir keine Antworten, auch keine architektonische Lösungen.

Vilém Flusser sagte einmal, daß "die neue Stadt.. überall dort [ist], wo Menschen einander sich öffnen". Damit diese überhaupt zustande kommen kann, muß sie erst entworfen werden - auch im architektonischen Sinne. Dazu benötigt die Architektur den Wiedergewinn ihrer programmformulierenden Zuständigkeit.