Spanien: Wie Anarcho-Veganer zu "Terroristen" gemacht wurden
Freisprüche nach bis zu 16 Monaten Untersuchungshaft. Gefunden wurden bei den angeblichen "Straight Edge-Terroristen" in Spanien nur Haushaltsreiniger und Rotkohlbrühe
Es war der 5. November 2015. Die Strafrechtsreformen in Spanien, mit denen jedem Protest ein Maulkorb angelegt wurde und praktisch jede Widerstandshandlung je nach Bedarf als Terrorismus definiert werden kann, waren kurz zuvor verabschiedet worden. Plötzlich rückten auch Anhänger von "Straight Edge" in Madrid ins Zielfernrohr der spanischen Repression. Fünf junge Leute aus der Straight-Edge-Szene (die vegan leben und Tabak, Drogen und Alkohol ablehnen) wurden in der spanischen Hauptstadt Madrid festgenommen und später angeklagt.
Man kann den Vorgang als ein Lehrstück spanischer Paranoia gegen linke und anarchistische Strukturen sehen und als Lehrstück über eine zweifelhafte Justiz, die ohne jegliche Beweise junge Menschen inhaftiert. Zudem dient der Vorgang als Lehrstück über Vorverurteilungen auch durch große spanische Medien. Für diese gab es keine Unschuldsvermutung, sie gaben einfach ungeprüft dubiose Polizeimeldungen in ihren Berichten wieder.
So titelte die bekannte große Zeitung El Mundo zur Razzia gegen die jungen Leute, dass "die anarchistische Gruppe ausgehoben" worden sei, die für den "Anschlag auf die Kathedrale La Almudena verantwortlich ist". Vorgeworfen wurden den jungen Leuten diverse Anschläge auf Kirchen oder Banken. Die gleichfalls international bekannte große El País titelte mit "festgenommenen Anarchisten", die "terroristische Verbindungen" haben.
Gefunden worden sei bei Durchsuchungen "Material zum Bau von Bomben, verschiedene Mengen an Schwarzpulver, Zündschnüre und Anleitungen zum Bombenbau", schrieb die größte Tageszeitung Spaniens, die den Sozialdemokraten nahesteht und von der deutsche Medien gerne abschreiben.
Der Großteil dieser Beschuldigungen davon war schlicht erfunden, wie sich auch bald herausstellen sollte. Im diesem Frühjahr wurden, kurz vor dem Prozess, schließlich auch (fast) alle Anklagepunkte eingestellt. Nur die Allzweckwaffe der spanischen Repression gegen linke Aktivisten hielt das Ministerium für Staatsanwaltschaft aufrecht: "Terrorismusverherrlichung".
Der Vorwurf wird breit auch gegen linke Musiker oder Twitter-Aktivisten eingesetzt. Da ist zum Beispiel den Rapper Valtònyc, der dafür dreieinhalb Jahre ins Gefängnis soll.
Er hatte sich, nachdem das Urteil rechtskräftig wurde, nach Belgien abgesetzt. Dort hat gerade am Dienstag ein Gericht entschieden, dass er nicht automatisch nach Spanien ausgeliefert wird, sondern die Vorwürfe gegen ihn werden im September in Belgien gerichtlich geprüft. Nach Ansicht vieler Beobachter sind die Lieder des Rappers durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Zudem gibt es die Organisationen, die er angeblich verherrlicht haben soll, längst nicht mehr. Der junge Mann aus Mallorca darf sich große Hoffnungen darauf machen, nicht an die spanischen Kerkermeister ausgeliefert zu werden.
Freisprüche im Straight-Edge-Fall: "Vollständiger Schlag ins Wasser"
Fern der großen Medien wurde im Straight-Edge-Fall nun bekannt, dass sich das ganze Verfahren um die "Operation Ice", in dem die Staatsanwaltschaft bis zu 30 Jahre Haft gefordert hatte, als ein vollständiger Schlag ins Wasser erwiesen hat.
Schon Ende Juli hatte der Nationale Gerichtshof die jungen Leute komplett freigesprochen. Vor diesem Sondergericht, für schwerste Verbrechen vorgesehen, wurde das auf "Terrorismusverherrlichung" abgespeckte Verfahren weiterhin geführt. Jeweils für zwei Jahre wollte die Staatsanwaltschaft sie noch ins Gefängnis befördern.
Und nun wurden kürzlich diese Freisprüche definitiv rechtskräftig, da die Staatsanwaltschaft kleinlaut keine Rechtsmittel dagegen eingelegt hat. Denn vom angeblichen Pulver und Sprengstoffen oder den angeblichen Verbindungen zum Terrorismus war auch in diesem Fall wieder einmal keine Spur.
Neu ist das nicht. Bei den Durchsuchungen wurden neben Silvesterkrachern normale "Küchen- und Reinigungsutensilien" gefunden, die von den spanischen Sicherheitskräften zu "Materialen zur Sprengstoffherstellung" umgedeutet wurden. Besondere Aufmerksamkeit maßen sie einer roten Flüssigkeit zu, die sich als "hochgefährliche" Rotkohlbrühe herausstellte.
Sonderhaftbedingungen
Auf Basis von Nichts, ohne jeden Beweis, allein auf Annahmen der Polizei wurden die fünf jungen Anarchisten festgenommen und zum Teil unter Sonderhaftbedingungen für bis zu 16 Monate inhaftiert. Es blieb vor dem Gericht nur der Anklagepunkt, dass sie in Texen im Internet geschrieben hatten, die "verfassungsmäßige Ordnung untergraben" zu wollen.
Dass sie dort bekundeten, dass gegen die staatliche Repression nur "Rebellion die einzige Option" sei, dass gegen den "bewaffneten Faschismus" eine "organisierte Straight Edge" gestellt werden müsse, darin sahen die Richter allerdings keine Vergehen.
Das galt auch dafür, dass die jungen Leute schrieben: "Widerstand ist keine Gewalt, sondern Selbstverteidigung". Mit "Feuer und Tod für den Staat, es lebe die Anarchie", werde in "keiner Weise direkte oder indirekte Angriffe auf den Staat" geführt, wies schließlich auch der Sondergerichtshof die absurden Anschuldigungen des Ministeriums für Staatsanwaltschaft zurück.
Ob das Verfahren auch mit Freisprüchen ausgegangen wäre, wenn die Volkspartei (PP), die für die Strafrechtsreformen und Maulkorbgesetze verantwortlich ist, im Juni nicht durch einen Misstrauenstrag gestürzt worden wäre, ist offen. Denn Unabhängigkeit von der Regierung ist wahrlich nicht die Stärke der spanischen Justiz. Man darf aber davon ausgehen, dass das Ministerium für Staatsanwaltschaft in diesem Fall Rechtsmittel eingelegt und das absurde Verfahren weitergezogen hätte.
Dem angeblichen "Rädelsführer" Juan Manuel Bustamante hilft der Freispruch allerdings nur begrenzt. "Ich bin unschuldig für ein paar beschissene Tweets in den Knast gegangen", erklärt der 25jährige nun in einem Interview.
Er hat fast die gesamte Härte des Justiz- und Gefängnissystems kennenlernen dürfen. Seine ablehnende Haltung gegenüber dem spanischen Staat war das sicher zuträglich. Er kam, anders als seine Freunde, nicht schnell wieder auf Kaution frei. Er saß in fünf verschiedenen Haftanstalten, zum Teil in Isolationshaft.
Statt der vorgeschriebenen heimatnahen Strafverbüßung, wurde er bis nach Sevilla verlegt, also gut 500 Kilometer entfernt von seinem sozialen Umfeld und seiner Verteidigung. Das ist typisch. So waren auch die katalanischen Gefangenen fast ein Jahr entfernt von ihrer Heimat inhaftiert und wurden erst kürzlich verlegt, weil die neue Regierung auch auf die Stimmen der katalanischen Parteien angewiesen ist.
Es sitzen noch heute deutlich mehr Basken im südspanischen Andalusien (bis zu 1100 Kilometer vom Heimatort entfernt) als im Baskenland oder den angrenzenden Regionen, obwohl das gegen geltende Gesetze verstößt.
Altsasua und anderes: Justiz in "Absurdistan"
Vergleicht man das Vorgehen der Justiz gegen diese harmlosen jungen Anarchisten mit dem, wie die spanische Justiz gerne mit sehr gewalttätigen Rechtsextremisten umgeht, dann ist der Unterschied sehr deutlich.
So hatten die Neofaschisten der "Antisystem-Front" zum Beispiel in abgehörten Gesprächen offen zur Jagd auf "Neger" und "Dreckschweine" (womit Antifaschisten gemeint waren) aufgerufen. Anders als bei den oben genannten Straight-Edge-Anarchisten wurden bei den Nazis nicht Böller und Rotkohlbrühe gefunden, sondern Schusswaffen, abgesägte Schrotflinten, Revolver, Munition und sogar ein Granatwerfer. Auch Hakenkreuze und Neonazi-Werbematerial für das Dritte Reich gehörten zu ihrer Ausstattung wie auch Material, in dem der Holocaust geleugnet wird.
Schon die Strafforderung des Ministeriums für Staatsanwaltschaft war mit dreieinhalb Jahren auffällig zurückhaltend. Das Verfahren fand auch nicht vor dem Sondergericht im fernen Madrid statt, sondern vor einem Lokalgericht in Valencia. Und dort wurden sie von einer Kammer, die 2005 schon einmal eine Gruppe gewalttätiger Neonazis freigesprochen hatte, mit einem Freispruch bedacht.
Einer der Anführer, Pedro Costa, leitete sogar ein Zentrum für gefährdete Jugendliche in Valencia, das unter der Aufsicht des dortigen Sozialministeriums stand. Es störte die Verantwortlichen in der Regierung der Volkspartei (PP) in Valencia offensichtlich nicht, dass der bekannte Neonazi 2005 bei einem Kameraden sogar vier Kisten mit Munition bestellt hatte.
An der Gewalttätigkeit von ihm und der übrigen 17 Angeklagten der Antisystem-Front, die zumeist schon einschlägig bekannt waren, bestand wahrlich kaum Zweifel. Pedro Cuevas war sogar schon zu einer 14jährigen Haftstrafe verurteilt worden, weil er den jungen Antifaschisten Guillem Agulló mit einem Messer umgebracht hat. Er wurde aber nicht wegen Mord verurteilt, sondern in einem Prozess, in dem jeder politische Hintergrund negiert wurde, nur wegen Totschlags.
Dabei haben sich die Neonazis nach der Tat mit dem Hitlergruß und einem faschistischen Lied verabschiedet und Agulló wurde angegriffen, weil er "Nazis Nein" auf der Jacke stehen hatte. Zeugen hatten den klaren politischen Zusammenhang der Tat aufgezeigt - erfolglos. Und die Vorzugsbehandlung für den Faschisten ging weiter. Der rechtsextreme Gewalttäter kam schon nach vier Jahren wegen angeblich "guter Führung" wieder frei, um sich sogleich in der Antisystem-Front zu organisieren. Obwohl all das auch dem Obersten Gerichtshof bekannt war, bestätigte auch dieser Gerichtshof den Freispruch.
Altsasua: Die Folgen einer Kneipenschlägerei mit Mitgliedern der Guardia Civil
Dass mit Menschen aus dem linken Milieu auch bei Bagatell-Delikten ganz anders umgegangen wird, dafür sind die jungen Leute aus dem baskischen Altsasua sicher ein gutes Beispiel. An ihnen soll die neue spanische Terrordefinition exemplifiziert werden, da sie sich eine kleinere Kneipenschlägerei mit zwei Mitgliedern der paramilitärischen Guardia Civil in der Kleinstadt geleistet haben sollen.
Der unbedeutende Vorgang, der all überall im Land an jedem Wochenende irgendwo vorkommt, wurde massiv in Madrid politisiert und natürlich vor dem Sondergericht in der Hauptstadt abgehandelt. Für diese angeblichen Terroristen wurden Haftstrafen von bis zu 62 Jahren gefordert. Insgesamt forderte die Staatsanwaltschaft 375 Jahre Haft für neun junge Basken.
Im Prozess konnte die Staatsanwaltschaft ihre absurde Terrordefinition - wie im Fall von zwei Katalanen - noch nicht durchdrücken. Aber drei der neun Angeklagten blieben die 19 Monate bis zum Prozess in Madrid im Gefängnis, natürlich weit entfernt von der baskischen Heimat.
Obwohl schließlich kein Urteil wegen Terrorismus gesprochen wurde, wurden Strafen verhängt, die fast so hoch wie die ausfielen, die islamistische Terroristen erhielten, die für 192 Tote in der spanischen Hauptstadt Madrid verantwortlich waren - und nicht für einen "umgeknickten Knöchel".
Wegen Körperverletzung, Störung der öffentlichen Ordnung und Angriffen auf die Staatsgewalt erhielt Oihan Arnanz das maximale Strafmaß von 13 Jahren, zwei Angeklagte bekamen 12 Jahre, einer 10 Jahre und die übrigen, bis auf eine junge Frau (2 Jahre), bekamen 9 Jahre aufgebrummt.
Anders als im Fall der jungen Leute aus der Straight-Edge-Szene legte die Staatsanwaltschaft gegen das Urteil gegen die Basken Rechtsmittel ein und hält weiter an ihrem absurden "Terrorismusvorwurf" fest. Sie wurden auch, bis auf die junge Frau, nach dem Urteil allesamt verhaftet und sitzen nun im Gefängnis, obwohl das Urteil nicht rechtskräftig ist. Die maximale Zeit in Untersuchungshaft wurde in ihrem Fall inzwischen von vier Jahren auf sechs Jahren erhöht, um sie bei der gewohnt langsamen Justiz nicht in zwei Jahren freilassen zu müssen.
Der Prozess als Farce
Die Urteile wurden zudem in einem Prozess gesprochen, der als Farce bezeichnet werden muss. Es wurden etliche deutlich entlastende Beweise zum Teil nicht zugelassen, verspätet zugelassen und ganz offensichtlich nicht in ihrer Aussagekraft vom Sondergericht gewürdigt.
Videos, zum Beispiel des Lokalfernsehens EITB, belegen zum Beispiel die Aussagen eines der Hauptangeschuldigten. Denn Adur Ramirez erklärt stets, nicht in der Kneipe gewesen zu sein, in der es zu der Rangelei kam, sondern einem Ballspiel beiwohnte, wie die Aufnahmen zeigen. Sie belegen auch, dass er nicht so gekleidet war, wie der Guardia Civil ausgesagt hatte. Trotz allem wurde er zu 12 Jahren Haft verurteilt.
Ein Video, beweist auch, dass nicht auf einen angeblich blutüberströmten Guardia Civil im zerfetzten weißen Hemd eingetreten wurde, während der am Boden lag. Man sieht den Zivilgarden auf den Bildern nach den Vorgängen unversehrt und mit einem makellosen weißen Hemd gekleidet. Er versucht außerdem Iñaki Abad, einem der angeblichen Haupttäter, das Handy aus der Hand zu schlagen, der die Vorgänge gefilmt hat. Einem anderen Angeklagten schüttelt er nach dem angeblichen brutalen Angriff sogar freundlich die Hand. Die gesamte Aussage dieses Guardia Civil-Beamten wird mit diesen Bildern mindestens massiv in Zweifel gezogen oder sogar komplett widerlegt.
Es bleibt abzuwarten, wie der Oberste Gerichtshof nach dem Regierungswechsel nun mit dem absurden Verfahren umgeht. Die Verteidigung beklagt die klare "Parteilichkeit" der Richter am Sondergericht und Urteile "ohne Beweise", die längst vor dem Verfahren festgelegt worden seien.
Dass inzwischen zwei der Jugendlichen in ein baskisches Gefängnis verlegt wurden, lässt leise Hoffnungen auf eine gewisse Entspannung aufkommen, dass die neue sozialdemokratische Regierung offensichtlich wenigstens keine weitere Zuspitzung im Auge hat.