"Spiel mir…, aber was?"

Seite 2: Zeit in und an den Kinobildern – Die Magie der Dauer I

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Nach der traditionellen Handwerkslehre erscheint die Wahrnehmung im Kinofilm durch die einzelnen „Einstellungen“ in den Dimensionen von Raum und Zeit quantifiziert und dosiert: nach Dauer, Dynamik, Größe: „kurz – lang; starr – bewegt; nah-mittel-weit…“. Erstaunlich, wie oft in der Kinoliteratur, in der Theorie und bei der Analyse prominenter Filme zwar von der Einstellungsgröße, ihren Raum-Bezügen und der räumlichen Bewegung die Rede ist, kaum aber von ihrer dynamischen Dauer und der zeitlichen Organisation. Auch von typischen oder außergewöhnlichen Rhythmen, die durch sanft geschnittene oder im Beat gecuttete Einstellungsabfolgen entstehen, ist selten zu lesen. Die Frage nach der Logik von Raum und Zeit als innerem und äußerem Ordnungssystem der Bilder scheint fast nur die Philosophen unter den Theoretikern, vor allem im Umfeld von Gilles Deleuze, zu interessieren.

Alle Rede von den räumlichen und zeitlichen Strukturen großformatig projizierter Bilder im Kinosaal und ihrer ästhetischen Wahrnehmung und Bedeutung ist heillos metaphorisch. Denn es geht hierbei immer um vielfältige Überlagerungen und Überschneidungen: zwischen der in den filmischen Einstellungen gespeicherten „immanenten“ Räumlichkeit und Zeitlichkeit sowie den „externen“ Parametern des Kinoraumes und Aufführungszeit. Wenn man so will, treten Zuschauer und Film immer schon in eine „prä-holografische“ Interaktion ein. In der „kontinuierlichen“ oder mosaikhaften, linear-kausalen oder irregulär-assoziativen Abfolge der bewegten Bilder, entsteht der Zauber der Kinosprache, in der Achse eines zugleich realen und fiktiven, medialen und mentalen Zeiterlebens.

Unterschiedliche Gangarten

Das filmische Zeiterleben beruht auf unterschiedlichen Gangarten. Je nach Tempo der Bilder erhält es einen anderen raumzeitlichen Rhythmus und ein anderes zeiträumliches Relief. Es gibt die anhaltende, eindringlich beschreibende und darstellende Präsenz einzelner Einstellungen. Und es gibt den dramatisch beschleunigenden Wechsel vieler Aufnahmen, zwischen intimer nachbarschaftlicher Berührung und dem denkbar größten logisch-zeitlichen Sprung der Perspektiven. Dies sind nur zwei Grundmodi der Stabilisierung und Destabilisierung. Beide Gangarten entsprechen in etwa den klassischen musikalischen Unterscheidungen von (entwickelndem Sonaten-) Thema und variierender, zerlegender Durchführung.

Durch diese Alternative, aber auch in zahllosen anderen Misch- und Zwischenformen moduliert das filmische Medium Raum und Zeit in voller dynamischer Visualität. Subjektive und kollektive Wahrnehmung werden ständig zu anderen Einschätzungen und weiteren Interpretationen provoziert, mal im Einklang mit dem Gewöhnlichen, in gleichgültiger Zerstreuung, sentimentaler Affirmation und unterhaltsamer Belustigung, mal im Zwiespalt zwischen Realität und Illusion, durch triviale Überraschung, raffinierte Spannung, affektive Beschwörung, phantastische Illumination, oder gar in reflexiver Brechung einer komplexen cineastischen Lektüre.

Fährten und Bewegungen in Raum und Zeit

Als visuelles Medium mit befristeten und bewegten Aufnahmen im Wechsel zwischen Totale und Detail, Panorama und zerstückelter Montage ist jeder gute Film voll von mehrdeutigen, oft ins Leere gehenden Anspielungen und irreführenden Fährten in der Sphäre des dargestellten Raums. Film zerlegt die Präsenz des dargestellten, angeblich objektiven und doch fiktiven Raums in die spannungsvoll aufgeladene Zeit einer rhythmischen Abfolge einander ergänzender oder widersprechender, aufbauender oder auflösender Bildzustände.

Die Zeit im Film ist vor jeder inhaltlich möglichen Handlung die Dimension der dynamischen Konstruktion der Struktur einer oder mehrerer raumzeitlicher Welten, Kontraste und Übergänge im Geflecht einer sukzessiven Wahrnehmung, Darstellung und Beschreibung.

Der Film saugt in der Abfolge seiner Bilder den aktuell verfilmten Raum in die Zeit auf. Der Film hat analytischen Charakter, auch dort, wo er sich synthetisierend gibt. Der Film ist eine Bildbehauptungs- und Bildvernichtungsmaschine, die Zeit verbraucht. Das Kinobild hat in seiner jetzigen Form eine typische Subjekt-Objekt-Struktur, mit der Abspaltung des Beobachter/Zuschauers vom zweidimensional präsentierten Bildinhalt. Die Dramaturgie des Perspektivenwechsels versucht die Subjekt-Objekt-Trennung imaginär, durch Positionswechsel in der Bildabfolge zu überwinden. Der hierbei und auch sonst anfallende Zeit-Verbrauch muss in sinnvollen, überzeugenden und verblüffenden Rhythmen organisiert werden, die nur zum geringeren Teil visueller Natur sind. Alle reden vom Bild, aber die Bilder sind nur die hauchdünne Oberfläche des gesamtfilmischen Kinoerlebnisses und der dahinter stehenden Konzepte, Strategien und Apparaturen.

Dieser Vorgang kann unterschiedliche Formen und Qualitäten annehmen. Im idealen Fall hält die Spannung zwischen dem „imaginär“ oder „objektiv“ vorausgesetzten Raum und dem jeweiligen „subjektiv“ exponierten Bildausschnitt von der ersten bis zur letzten Minute an.

Der Film geht dann mit der raumzeitlichen Gesamtdynamik höchst ökonomisch und bedeutungsvoll um, er konstruiert den insgesamt erfahrbaren Raum in verschiedenen zeitlichen Phasen immer weiter aus oder unterwirft ihn schlagartiger Veränderung.

Modi des filmischen Sehens

Auch das Sehen (der Zuschauer und der im Film auftretenden Akteure und Figuren) ändert ständig seinen Charakter bei diesem dynamischen Aus- und Umbau der temporal vermittelten Raumstruktur. Es bleibt nicht bei der kontemplativen Reserve des distanzierten Zuschauens und ruhigen Betrachtens, bei der Trennung von Subjekt und Objekt bzw. Kinobesucher und Leinwand.

Das Sehen wird in den zeitlichen Fluss und die (a-)logische Schrittfolge der Bilder involviert, es steigert sich, im Durchsuchen und Durchmustern, im Aufnehmen und Verbinden, zum aktiven Lesen und Entziffern der Situation, es springt vom Beobachten über das Erkunden und Verfolgen hin zum Modus eines komplexen cineastischen Erlebens, einer medialen selbstreflexiven Form der technikgestützten Wahrnehmung von Knotenpunkten und Fluchtlinien des vom Film produzierten raumzeitlichen Bild-Gewebes.

Doch in vielen Fällen wird das filmische Versprechen einer komplexen und miterlebbaren Konstruktion von Welt nicht eingelöst. Der Film verbraucht und vernichtet die Dynamik der Zeit (und des Raumes) dann einfach so, in einem belanglosen Bilder-Spektakel von leeren Synthesen, Klischees, sattsam bekannten Ansichten, Szenen und Figuren. Er langweilt, und der niedergeschlagene Zuschauer hat das sprichwörtliche Nachsehen.

Raum in der Musik – Die Magie der Dauer II

Musik verfährt umgekehrt zum Film. Sie hat positiven, an der Synthesis von Zeit, Erleben und sukzessiver Wahrnehmung und Erinnerung teilnehmenden Charakter. Sie verbraucht die Zeit nicht wie die elementar analytische Bildermaschine Kino, sondern gestaltet und verdichtet sie in reflexiver Hinsicht durch die Organisation von Klängen in Strukturen der erfüllten oder der stillen Dauer. Die Musik ist ein soziales, intersubjektives Medium. Es schöpft seine Kraft aus dem inneren Zeiterleben der Subjekte, verbindet diese in einem dynamischen Raum, im rhythmischen Vernehmen und Aussenden von Stimmen, Artikulationen und Klängen und schafft im Grenzfall der Ekstase sogar den gesamten sozialen Raum neu.

Dies wäre die revolutionäre Utopie einer populären Musik jenseits von E- und U-Musik. Jeder hartnäckige Konzertbesucher kennt dieses vereinzelte, oft historische Power-Jubel-Erlebnis und weiß es von der Mehrheit seiner Konzert- und Kinobesuche sehr wohl zu unterscheiden.

Musik ist, selbst in den „entfremdeten“ Formen der Partitur, der neuen Musik und der medialen Konserve, immer schon Teil der sozialen Welt. Wer Musik hört oder spielt, ist Teil und nimmt Anteil an einer Welt aus Klang. Der Musik ertönt jenseits Subjekt-Objekt-Spaltung (Sloterdijk), mit der der analoge Filmmacher, wenn auch grenzwertig und grenzüberschreitend (durch Perspektivenwechsel) spielt. Der soziale Raum ist keine Leerform, sondern das hochbewegliche Innenleben von Architektur, Landschaft und Kosmos.

Er ist Resonanzboden, Speicher, Leiter und Verstärker für Gewohnheiten, Rituale, Bewegungen, Ströme und Umbrüche. Die Musik konsumiert die individuelle und kollektive Zeit nicht, sie kümmert sich um die Gestaltung der Dauer, sie schafft rhythmische und klangliche Intensitäten, Pausen und Stille, setzt Einteilungen, harte Schnitte, sanfte Ein- und Ausblendungen, baut Achsen, Ebenen, Steigerungen, Treppen, kreist Höhe- und Wendepunkte ein, produziert Varianten, Schleifen, Erinnerungen und Wiederkehr, in denen sich die Zeit als unmittelbares oder reflexives soziales Erlebnis in einer „temporalen Architektur“ stabilisiert. Mit Deleuze kann die Funktion der Musik noch weiter als nomadischer Prozess der Deterritorialisierung und der Reterritorialisierung gedacht werden.

Die temporale Architektur ist ein ästhetisches Kondensat einer konzentrierten Zeitwahrnehmung, zwischen Präsenz und Absenz, Erinnerung und Antizipation. Während der Film von Haus aus den Raum der Bilder in den Projektionsraum der Aufführung wirft, und sie gleichsam verbrennt und verbraucht (in Analogie zu Virilios Dromologie von Krieg und Kino), erzeugt die Musik gerade in der erklingenden Zeit eine andere Art von pulsierendem Raum, in variablen Intensitäten, durch das anhaltende Erlebnis von Rhythmen, Tönen, Melodien, Dis-/Harmonien, Passagen und Kontrasten. Erst durch die Dechiffrierung ihrer temporalen Architektur wird die Musik und die Klang-Um-Welt aus verschiedenen Epochen und Kulturen verstehbar als Kunst, Zeit in mannigfaltiger Weise als reflexive Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Handlungsformen für Individuen und Gesellschaften zu reorganisieren.

Musik ist seit Urzeiten ein spirituelles Medium ausdrucksstarker Präsenz und expressiver Enthüllung. Ausdruck und Expression hängen mit der Entdeckung, Bemeisterung und Reorganisation von Zeit eng zusammen. Musik synchronisiert und desynchronisiert die Menschen, stabilisiert ihre Gewohnheiten und gräbt sie um, treibt ihre Erinnerung und ihre geistige Fantasie an, entfacht oder lähmt die kollektive Ekstase, aber initiiert auch die individuelle Meditation. In archaischen Momenten wirkt Musik wie ein dampfender Chor, wie eine Versammlung von heftigen Lebewesen, schreienden und grunzenden Tiermenschen, die maskiert und anonym auf den Geburts-, Kampf- und Opferplatz schleichen.

Der tragische Chor duldet die Einzelwesen mit ihren schönen, schlauen, eitlen, wagemutigen und verzweifelten Arien im Vordergrund nur, um sie später zu zerreißen oder von ihren inneren Konflikten zerrissen zu sehen. Für den modernen, auf Bilder und Objekte fixierten Menschen ist die Musik in ihrer absoluten Hörgestalt ein Stück blanke Anarchie, ein rätselhafter Hinter- und Untergrund des Un-/Sichtbaren: hinter dem Augen-Medium öffnet sich der Abgrund, in dem das Orchester sein aggressives Unwesen treibt und aus dem die künstlich zusammengesetzte und doch oft eindringlich zur Einheit verschmolzene Stimme eines seltsamen Orakels der eigenen Existenz dringt.

Inszenierung und Zerstreuung, Meditation und Ekstase

Film und Musik, die technischen Voraussetzungen für visuelle Inszenierung und Zerstreuung von und in Bildern, sowie für die auditive Meditation und Ekstase in Tönen lassen sich prinzipiell unendlich fein oder grob kombinieren.

Im heutigen Mainstreamkino zwischen Multiplex-, DVD-, TV- und zukünftig voller Internet-Verwertung ist die mögliche Mischung von Bild und Ton, von rational vorsortiertem Konsum und wild um sich greifender Erregung in eine völlig entropische Phase getreten. Sämtliche Kinogenres mit all ihren durchgenudelten Klischees werden derzeit rekombiniert und weiter ausgelaugt. Filmregisseure flüchtigen zu anspruchsvollen Auftragsarbeiten als TV-Regie, Tarantino meets CSI.

Wir befinden uns heute am anderen Ende eines digitalen Kintopps und toben als passive „Idioten“ vor uns hin, Lars von Trier, sei für diesen Titel Dank. Wenn man so will, hat die gereinigte visuelle Transparenz der neueren Kinoproduktion, die Hochauflösbarkeit der schicken Blue-Screen-Bilder fast alle Widerborstigkeit aus dem Feld des Sichtbaren und Unsichtbaren geräumt, aber auch den auditiven Widerstand aus dem Reich der vorgesampelten Töne und Klänge heraus gesogen.

Das von Haus aus mächtige Medium Musik schwächelt vor sich hin. In der scheinbar komplett durchvisualisierten Ära der digitalen Informationsverbreitung und -verarbeitung ist die Musik in die digitalen Postproduction und multimediale Verwertung abgewandert.

Ausgerechnet die Option der exakten rhythmischen Fein-Verzahnung von Bild und Musik und der entsprechenden frühzeitigen Kooperation von Regie und Musik wird nur in Ausnahmefällen im Kino besorgt. In der Literatur und beim Drehbuch geht es kaum anders zu: Geschichten werden zurechtgekürzt und in seichten Bildern und Tönen vorgetragen. In den meisten Hörbüchern tragen einsam schneidige oder betont schöne Stimmen ihre abgeflachten Stories ausdrucks- und interpretationslos vor, um jeder Überraschung oder feineren Abtönung auszuweichen, und über bemerkenswert vieldeutige Stellen wie über Terminkiller hinwegzueilen.