"Spiel mir…, aber was?"

Seite 3: Zur Kritik der populären digitalen Kultur

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die heutige populäre digitale Kultur feiert im „Audiovisuellen“ vor allem das Instantane, das unmittelbar Operative, das Regelmäßige, das Ordentliche, das Berechenbare, das Graphisch-Mathematische, das Banal-Ikonische. Sie verbannt die Anarchie und die Irregularität aus ihrem programmierten Design, ebenso das Schwierige, Langwierige und Komplexe.

Warum nicht auch die eingespeicherten Bild- und Tonwelten vereinfachen? Der Digitale Pop stellt die Fiktion eines leeren Ego-Raums vor den Widerstand der realen Dinge, den immergleichen Takt über den lebendigen Rhythmus, die vorhersehbaren Ergebnisse im Ablauf der Verfahren vor die platte Überraschung plötzlich eintretender Ereignisse.

Man versucht das Auditive und das Visuelle im Universum eines fiktiven Archivs verschmelzen. Bloß kein lästig verzweigtes Labyrinth, kein Mantra und kein Mandala, keine verstreuten Provinzen und zerklüfteten Landschaften für Ohr und Auge. Verlangt wird ein statisches, null-räumliches, zeit- und ereignisfreies „Konstrukt“ sofortiger Koexistenz aller verfügbaren Daten, ein globales Jetzt am Nullpunkt des eigenen Ichs. Die populäre digitale Kultur steht unter dem besonderen Bann einer Fernbedienungs-Religion, die das Jenseits ins Diesseits geholt hat.

Es geht um die imaginäre und scheinbar voraussetzungslose Kontrolle über Raum und Zeit, um den Zwang zur beliebigen Fragmentierung und instantanen Rekombination von historisch, kulturell und geographisch weit auseinander gedrifteten Elementen. In ihren Cuts, Kopien und Simulationen tendiert die populäre digitale Kultur dazu, die Ereignishaftigkeit, den Fluss, Strom und Prozess der Dinge aufzuheben und zu beseitigen. Nur so kann sie sich ihrer vermeintlichen Totalität versichern und außerhalb ihres Kreises die Existenz einer komplexeren Wirklichkeit leugnen.

Der Film ist insofern in seiner älteren Gestalt der bewegten, selbst zeitlich begrenzt dargebotenen, aber jederzeit wiederholbaren Aufnahmen ein historisches Doppelphänomen: durch und durch analog im unhintergehbaren immanenten und strukturellen Verlauf der Sichtung und Erzählung des Bewegt-Visuellen und zugleich digital in seiner technischen Wiederholbarkeit und Zerlegbarkeit. Die manifeste und latente Vernichtung des Films in den Formen der heutigen digitalen Produktion und Rezeption besteht darin, seine analoge zeitliche Spur auszulöschen und die reproduktiven Elemente und Dimensionen gewinnbringend voranzutreiben.

Das Einfallstor für diese Operation ist die digitale Speicherung, Bearbeitung und der Konsum von eigenen und vorproduzierten Fotografien und Filmen, vor allem aber die professionelle digitale Produktion, Bildbearbeitung und Postproduktion, in der das beim Dreh gewonnene Bildmaterial nur noch als Fragment und Rudiment benutzt wird. Das Material kann im Extremfall völlig entzeitlicht und beliebig neu zusammengesetzt und animiert werden.

Auf diese Weise hat sich der Begriff der filmischen „Aufnahme“ und des filmischen „Erzählens, Darstellens und Inszenierens“ entwirklicht. Die analoge Auffassung bestand darin, ein Stück Welt fotografisch und filmisch zu reinszenieren. Innerhalb der von der Regie und Kamera ausgewählten Ausschnitte und Einstellungen sollte das Stück Welt als lebendiger Vorgang (mit Realpersonen oder selbstständigen Schauspielern) in seinen Bestandteilen eingehend, Bild für Bild festgehalten werden, um das gewonnene Material später in eigenwilliger, künstlerischer Sprache von Schnitt und Montage wieder neu und doch respektvoll, authentisch zusammenzusetzen. Dieses für reale Eindrücke und Perzeptionen offene Konzept wird nun verabschiedet.

Die Entzeitlichung der Bilder

Für das digitale Bildverstehen gilt der Triumph der simulierten Fotoikone und der reinen Studioproduktion über das Zeitfenster der alten Fotografie und des alten Films mit ihren nicht domestizierbaren Bildwelten. Der günstige fotografische Augenblick draußen, die äußere Dauer und der innere Bewegungsablauf des Realfilmbildes werden nun der Macht absoluter Gestaltbarkeit am PC unterstellt. Die Transformation der an den Schauspielern und Objekten abgesteckten digitalen Daten zu digitalen Modell-Körpern mit Idealverhalten führt zur internen Restrukturierung und Fiktionalisierung der Darstellung von Bewegung,

Handlung und Entwicklung. Ambivalent ist die Bullett-Time-Ästhetik, da ikonische Aspekte beliebig anwählbar und ausfilterbar sind, unter Vernachlässigung und Unterdrückung des traditionellen cinematografischen Zeitflusses mit seiner typischen Irregularität. Die unwägbaren Details der Objekte und Ereignisse machen immer wieder den Sprung der Bilder und der Perspektiven nötig. Die digitale Codierung und Manipulation des Visuellen führt eine Reihe von Funktionen mit sich, die die Transformation des Temporalen herbeiführen: Anwählen, Heranzoomen, Scannen, Zerlegen, Aussondern, Reduzieren, Betonen, Kopieren, im Kontext Multiplizieren und Potenzieren, Indexikalisieren.

Aus der Sicht der analogen Filmsprache und ihrer Einheit, der bewegten, in der Zeit andauernden und doch begrenzten Bildeinstellung, bedeutet dies: Die filmische Zeit als Verlauf von zugleich formal eingegrenzten (kadrierten), aber im Bildfeld nur bedingt kontrollierbaren und im hohem Maße erfahrungsoffenen Darstellungsprozessen wird immer stärker eingegrenzt, in Teiloperationen zerlegt oder sogar abgeschafft. Damit wird die Voraussetzung einer real, in der Außenwelt erlebbaren Zeit mit ihren prozessualen und realen Eigenrhythmen infrage gestellt. Ebenso werden die Ästhetik und die Kunst bedroht, in Einzeleinstellungen einen fruchtbaren Rhythmus für lebendige Bildabläufe zu finden.

Die digitale Kontrolle und Bearbeitung der (analogen) Daten impliziert die Reduktion des Filmbildes von seiner komplexen räumlichen und temporalen Zusammensetzung auf eine erfahrungs- und erlebnisarme Datenmenge. Die Beschleunigung und Zerlegung der digitalen Produktion, Bearbeitung und Simulation verdrängt die Arbeit am möglichen visuellen Rhythmus und an der temporalen Syntax der Filmbilder und transformiert sie zu industriellen, leeren Ikonen, die jederzeit als reine Daten auf der Oberfläche des Monitors erscheinen und verschwinden können.

Natürlich kann man umgekehrt argumentieren, dass die arbeitsteilige Zerlegung und digitale Zusammensetzung des nach-analogen Filmbildes eine Fortschrittsoption gerade auch für progressive Filme sei. Während im analogen Film das temporale Element vor allem in der Spannung von Bogen und Unterbrechung, durch die zeitliche Dauer, die interne Bewegung/Veränderung und die darauf folgende kontrastive und erzählerische Abfolge der Bilder und Perspektiven wirksam ist, könnte man die Idee der zeitlich-musikalischen Dynamik jetzt stärker in die Paradoxien einer verfeinerten digitalen Bildkomposition und Bildrhythmik verlegen, in den immanenten Bildzustand, der zwischen Black Box und White Cube, theatralischer Bühne, potenzieller Benutzeroberfläche und fiktiver, digi-realistischer Bildtiefe changiert und auch permanenten Split-Screening und die heutige videoästhetische Beschleunigung kennt. Solche Filme würden dann widersprüchliche Zustände im wechselhaften Fluss der Daten liefern.

Aber eine solche Ansicht braucht gute Drehbücher und massive Überlegungen zu unkonventionellen Storyboards. Solange es Kino in seiner jetzigen zweidimensionalen Form gibt, wird die weitere zeitliche Dynamisierung des Kinobildes in der Anpassung und Ausbalancierung von analogen und digitalen Verfahren liegen. Der tosende Digischrott in den durchaus gut gemeinten Super-Helden-Mix-Filmen wie „Van Helsing“ und „Die Liga der außergewöhnlichen Gentleman“ führt keinen Milimeter weiter. Es geht nicht nur um Rechnerkapazitäten und Rotoscope-Modelle, sondern um klare Diskursmodelle für die Wechselwirkung von dynamischen Abläufen, Parallelereignisssen und sinnvollen Schnitt-und-Montage-Konzepten.

Insofern sind die Zuschauer schnell übersättigt, wenn sie die gleichen düsteren planetaren Tönungen von „Star-Wars-Herr-der-Ringe-Matrix-Finalen“ wieder erkennen und in dieselben disneyförmigen, aufgeweichten Bildideen von Vorsprüngen und Abgründen starren, auf denen sich die einsam ausgesandten Helden tummeln oder schlagen müssen. Offensichtliche Schwächen, wie die weniger dynamisch wirkende Flugbewegung des neuen Superman gegenüber der alten analogen Figur sprechen für sich. Ang Lees sparsamerer Einsatz der digitalen Technologie bei der Kreation von „Hulk“ hat einen durchaus wegweisenden Sinn.

Die ins Unmögliche gesteigerten Karate-und-Kung-Fu-Einsätze in Filmen wie „Matrix“ sind eine Metapher für das neue digitale Ballett interaktiver Avatare im virtuellen Raum, und doch nutzen sich diese Rituale als Schauwerte irgendwann ab, bei aller Brillanz der auch netzphilosophisch gekonnt eingesetzen und multiplizierten Effekte. Es könnte sein, dass wir auf „Matrix“ bald wie auf eine frühe Stummfilmära zurückschauen und uns über die Hilflosigkeit amüsieren, mit der Architekt und Orakel, Mr. Smith und Neo, das System von Zion und Matrix endlich wieder produktiv in Schwung zu bringen versuchen.

Die atemporalen Tendenzen zur digitalen Glättung und Selektion greifen die mögliche Dynamik der jetzt schon verfügbaren und weiterhin produzierbaren Klänge und Bilder sowie ihrer medialen Arrangements an. Dieser Umstand sorgt dafür, dass dem jüngeren Publikum die „klassischen“ Erfahrungen von Meditation und Ekstase, wie sie die analogen Ära im musikalischen und filmischen Bereich vermittelte, nicht mehr unverstellt zugänglich sind, sondern nur als jämmerliche Restposten in Archiven oder als Karikaturen und unfreiwillige Parodien in den Rubriken von Unterhaltung und Show-Spektakel.

Ekstase und Meditation werden derzeit als Störfaktoren und Grenzzustände am Rande des digitalen Laboratoriums traktiert, man versteht sie als naturalistische Entartungen zwischen Suff und Sucht miss, als Formen der äußersten Hitze und Kälte bleiben sie am Rand der lauwarmen Unterhaltungsbäder und Gewohnheitsmuster, während die neuere Kunst in den Treppen und Terrassen einer komplexeren literarischen, visuellen oder mystischen Wahrnehmung noch letztes, aber unerkanntes Sprengmaterial für das Außersichsein oder die innere Versenkung enthält.

Temporale Architekturen

Durch die Kunst des Innehaltens wurde aus dem dionysischen Lärm der Töne das rhythmische Konzentrationsmedium Musik. Musik als Medium kontrolliert die Ekstase in den Formen einer „weichen mathematischen“ Komposition oder der temporalen Architektur. Es verwandelt das Potential des heftigen körperlichen Ausbruchs in nuancierten Ausdruck und in die zeitliche Gespanntheit einer bestimmten Klang- und Zeitstruktur, in ein erfülltes und deshalb wiederholbares Ritual, in das Erlebnismuster einer differenzierten Partitur.

Auch das gesamte Spektrum der Unterhaltung zehrt von dieser Balance. Nuancierter Ausdruck zieht seine Energien aus der Bewegung hin zur reinen Ekstase, kontrolliert diesen Prozesss aber über meditative Verinnerlichung und mathematische Kontrolle in der temporalen Architektonik, - mit ihren typischen Alternativen, Pausen, Einschnitten, Abschwächungen und Steigerungen, um gegebenenfalls in die musikalische Form einer kompletten Komposition oder eines sozial akzeptierten Klangzeremoniells überzugehen. Wenn man so will, spiegelt sich in dieser Nuancierungspalette die Urgeschichte des Zivilisationsprozesses wieder.

Verfeinerbarer Ausdruck, strukturelle Objektivation und Unterhaltung sind keine Widersprüche, sondern miteinander zusammenhängende Kategorien der anthropologischen Entlastung von Angst, Terror, Leben, Bewusstwerdung, Produktivität und Tod, die für klassische Musik ebenso gelten wie für die zwischen Vitalität, Größenwahn und Schwindsucht pendelnde Pop-Musik.

Zur Konkurrenz zwischen Bild und Ton im Film

Im gewöhnlichen Kino findet ein merkwürdiger Verdrängungswettbewerb um die Ressource Aufmerksamkeit statt, eine Konkurrenz zwischen Bild und Musik, wobei der normale Ton/Sound meist auf die Seite des Bildes geschlagen wird. In (fremdsprachlich) nachsynchronisierten Filmen entsteht mit dem oft isoliert und regiearm hinzugefügten Ton bereits eine dritte Zuordnungsebene.

Regie, Kameraführung und Schnitt können Handlung, Dialog und Ton über das platt abbildende und Eindrücke zusammen mischende Kino hinaus in ein Kunstmedium verwandeln, in raumzeitlich durchkomponierte Bild- und Tonfolgen. Entweder entsteht stures Gattungstheater, an das sich viele heutige Produktionen auch im Gattungsmix weiter festklammern, oder im anderen, besten Falle die aggressive, poetische oder surreale Traumsprache eines filmischen Meisterwerkes.

Im Gattungstheater wird die Konkurrenz von Bild und Musik relativ starr ausgetragen, ein wenig wie in der Oper durch Arie und Rezitativ: Musik steht entweder auf dem kulinarischen Präsentierteller oder kuscht und säuselt im Hintergrund, weil die Handlung weitergeht. Ganz stimmt dies nicht. Denn auch im billigsten Actionfilm muss ein monströses Syntheziser-Gewummere dafür herhalten, dass das Angriffs- und Fluchtverhalten von Helden und Schurken jenseits der Crashs und Explosionen beeindruckend wirkt. In den Meisterwerken des Kinos ist die Musik auf höherer Ebene in produktiven Spiralen aufgehoben, die sich solchen binären Ordnungen zwischen Bildern und Tönen widersetzen.

Die Konkurrenz von Bild und Musik ist in vielen historischen Schichten angelegt und hängt mit der Archäologie der Medien und ihrer Technik zusammen. Sie liegt in dem mechanischen oder organischen Tempo der Filmbilder und dem (funktionalisierbaren) Eigengewicht der Musik begründet. Gelegentlich haben die Bilder (selbst stumm oder mit Eigengeräusch) den Vorrang: Die Musik kommt dann als akustischer Untertitel, als atmosphärische lllustration des Bildes oder als Animation der Handlung daher.

Manchmal verhält es sich umgekehrt: Musik dominiert in Rhythmus, Lautstärke, Tempo und Thematik. Jetzt ist sie in der Position, ihren gedanklich-konzeptuellen, affektiven oder massiv handlungsantreibenden „Kommentar“ über die Bilder zu werfen: wortreich schwelgt sie im Inhalt der Bilder, sie schmiegt sich identifizierend an Personen und Dinge, wandert von einem zum anderen Detail, oder zergliedert in strenger Unparteilichkeit unbarmherzig die visuelle Ordnung und schafft Distanz, sie belauert eine Szene und fährt mit lauter Fanfare zwischen die hochbewegten Einstellungen, sie verweist in die räumliche Tiefe, sie durchweht geisterhaft einen Korridor, sie deutet ins unsichtbare Off, sie tickt beharrlich, bis zum Schnitt der zeitbegrenzten Einstellung, sie galoppiert auf eine raumzeitliche Grenze zu, um sie flugs zu überspringen, sie hält andächtig den letzten Eindruck eines ausblendeten optischen Motivs fest, sie gleitet souverän über das Raumzeitmuster der Gesamtsequenz hinweg, mit einem gekonnten Signal-Feuerwerk (Norman Jewisons „Thomas Crown“ mit den delikaten Split-Screen-Tricks zu Michel Legrands lässig klangintensiven 60er-Beats), sie artikuliert, als Überbrückung und Transformation, den Übergang zwischen den Epochen, von der zweidimensionalen Welt der Filmleinwand schwebt sie in die Welt des Filmsaals, rauscht über das Kinopublikum und wächst zu einem Engel der Geschichte (Benjamin) heran.

Im Kraftfeld von Gleichgültigkeit und Anziehung. Der Ursprung des Besonderen

Man stelle sich vor: Fall 1: „Mittelmäßige“ Filmbilder treffen auf eine „magische“ Musik. Oder umgekehrt Fall 2: „Mittelmäßige“ Musik trifft auf „magische“ Filmbilder. In beiden Fällen soll es nicht um Qualität gehen, sondern um das formale Gefälle der Aufmerksamkeit und die Wechselwirkung zwischen Zurückhaltung und Hervorstechen, Gleichgültigkeit und Anziehung. Jedes Mal existiert ein doppeltes Spannungsverhältnis. Das Triviale kennt letztlich weder Respekt noch Gnade. Das Triviale ist der selbst der Macht des Vorübergehens, des Beiläufigen und der Vergänglichkeit unterworfen, aber es übt diese Macht auch selbst aus, wenn man ihm zu viel filmischen Platz lässt.

Im Augenblick der Intervention von Magie und Bedeutsamkeit hält das Triviale eine kurze Zeit inne. Aber selbst im Kino geht das Triviale rasch zur Tagesordnung über, zersetzt und parodiert das Anspruchsvollere. Das Triviale tendiert zur Unterwanderung der Anspannung, zum Verschleiß der Prätention, zum „Na, und?“, gar zur Komik und zum leisen Gelächter. Umgekehrt treibt das Anspruchsvolle, wenn es stark genug ist, die Spannung gegenüber dem Mittelmäßigen an. Das Anspruchsvolle ist der erste glückliche Haltepunkt einer Suchbewegung des Zuschauers als noch nicht zufrieden gestellter Beobachter. Es muss nicht gleich das Erhabene sein, sondern das Zweifelhafte, das Ausgefallene, das Aufgedrehte, das leicht Verrückte.

Erst später tritt die Verschwörung auf, das Mysteriöse, das Phantastische, das Schreckliche und die offene Katastrophe. Im besten Falle verwandelt das Anspruchsvolle und Merkwürdige die Beobachtung des Durchschnittlichen in etwas Besonderes. Der Betrachter und die Bilder werden plötzlich aus der Reserve des Gewöhnlichen, Trivialen, Erwartbaren, Geläufigen herausgeführt. Die Musik mag dabei zunächst stören und dann Türen in neue Korridore öffnen. Erst mit dem Besonderen beginnt die spezifische und individuelle Filmwahrnehmung eines einmaligen Erlebnisses.

Die Zerstreuung der mehr oder minder zufällig aufeinander folgenden Filmbilder und Einstellungen parodiert die innige Extase der Töne (Fall 1). Dieses Modell muss nicht bei platter Unterhaltung stehen bleiben. Charlie Chaplins hingebungsvoller Tanz mit dem magischen Globus in „Der große Dikator“ zu Wagners einschwebendem „Lohengrin“-Vorspiel liegt auf der Kippe bis zum entlarvenden Hochwippen mit dem Hintern und dem trivialen Zerplatzen des Ballons. Diese Sequenz ist aber auch in sich ein Stück politische Karikatur und Kritik an der totalitär eingesetzten Kunst. Zerstreuung ist der visuelle Virus aller Filmbilder, die in ihnen beschlossene kinokulturelle Halbwertszeit auch noch in den konzentriertesten Aufnahmen und Montagen.

Wo sich die Zerstreuung ungehindert breitmacht, herrscht die leere Unterhaltsamkeit, die das mechanisch Abgebildete nur noch irgendwie hinnimmt. Dieses Glotzen vereitelt Inszenierung und Verständnis differenzierter Erfahrungen, in denen die subjektive Bildabfolge in produktive Spannung mit der objektiven Konstruktion von Welt und Raum tritt. Eine in Wirkung und Wahrnehmung anspruchsvoll-abgehobene, z.B. extrem rhythmische Musik In Alfred Hitchcocks „Psycho“ beginnt Marion Cranes Wochenend-Flucht aus Phoenix mit dem von ihrem Chef anvertrauten Geld eher gemächlich. Spannung entsteht durch die Mischung von Alltag und Drift.

Bernard Herrmanns ruckartige Streicher setzen ein und bewahren als Gegenstimme zu den Bildern die epische Option, dass die zunächst alltäglich zusammengestellten Einblicke und Ansichten sich in der Folge als Fassade, als Konstruktion oder gar als Fiktion erweisen, aus der etwas anderes hervorbrechen wird, was die Musik bereits jetzt in ihrem hysterisch aufschreckenden Puls vorwegnimmt. Dies wird später bestätigt, im heftigen Ineinanderschnitt der überschrill pfeifenden Geigen und der Messerbilder auf dem nackten Frauenkörper beim maskierten Mord in der Dusche in Bates’ Motel. Der frühere Rhythmus der Musik erhält nun ein heftiges visuelles Äquivalent, aber noch als unaufgelöstes Rätsel.

In Fall 2 legt sich eine triviale oder bekannte Musik zunächst wie ein Schleier vor die bildsprachlich extrem auskomponierte Ebene der Bildgestaltung oder Montage/Bildabfolge. Auch dies ist eine Chance, zum Überraschenden und Besonderen weiter vor zu dringen. In George Lucas’ Pubertätskomödie „American Graffiti“ bedient das allgegenwärtige Lokal- und Autoradio (mit ruhigen Balladen und Rock’n Roll) nächtliche Harmoniebedürfnisse und jugendliches Aufbegehren, sogar bei der Vorbereitung zum harten Spaß-Anschlag auf das Fahrgestell des Dienstwagens der nächtlichen Polizeistreife.

Eine scheinbar triviale Musik kann auch über die Hintergrund-Funktion hinaus kritische Aufmerksamkeit für die Bildsprache oder die Ereignisse wecken und sie satirisch einfärben und unterwandern: der alte, knisternde Italienische-Opern-Arien-Sound Carusos als akustischer Ausgangspunkt zum digital scharf eingestellten Tennisball über der Netzkante in Woody Allens „Matchpoint“. Oder die triviale Musik wird von der differenzierten Bild- und Handlungskomposition erfasst und zum Signal der Re/Deterritorialisierung, so dass sich neue intermediale Bedeutungsebenen ergeben: die entgrenzende Perversion von „I’m singing in the rain“ durch Alex’ jugendliche Gewaltperformance; die synthetische Clonierung von „Beethovens Neunter“ durch W. Carlos’ Syntheziser und der Missbrauch durch die staatlich sanktionierte Ludovico Therapie, beides in Stanley Kubricks „Clockwork Orange“. Dagegen Doris Days ängstlich-behütender Lockgesang, die Umfunktionierung ihres halbprivaten Gesangsauftritts mit „Que sera, sera“ auf der Suche nach ihrem entführten Sohn in Alfred Hitchcocks „The Man Who Knew Too Much“.

In beiden Modellfällen erweist sich die Dynamik der Zeit von größter Wichtigkeit. Die Logik des Kinos macht deutlich, dass die Aufzeichnung und Verwendung des Gewöhnlichen und des Alltäglichen, das so genannte Triviale und die Zerstreuung ohne eine latente zeitliche Dynamik nicht differenziert dargestellt werden können. Nichts geht ohne entsprechende minimale Wahrnehmungsrhythmen, in denen das Aufmerksamkeitspotential für das Besondere liegt, an das Bildregie und Musikregie subtil und fruchtbar anknüpfen können, um die raumzeitliche Dynamik des Kinos unerwartet zu entfachen.