Springen, klettern und Fäuste schwingen in einer Orwellschen Dystopie

Remember Me und die Diskrepanz zwischen Schein und Sein

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Eines ist erst einmal löblich: Capcoms neues Third-Person-Action-Adventure Remember Me (PC, Xbox 360, Playstation 3) will sich auch auf erzählerischer Ebene hervortun. Doch allzu schnell wird klar: Ein kreatives Story- und ambitioniertes Gameplay-Konzept benötigt zur Umsetzung eine ebenso starke Technikfraktion - denn letztlich soll ein Spiel entstehen.

Schauplatz von Remember Me ist die französische Hauptstadt in einer nicht allzu fernen Zukunft: Neo-Paris erinnert nur noch halbwegs an die Metropole von heute. Die Ansammlung der Architektur des Mittelalters, der Gotik, der Renaissance, der Klassik und des Jugendstils verschwindet im Schatten moderner Wolkenkratzer. Die ganze Stadt wirkt mit freischwebenden Displays, Projektionen und Hologrammen neben klassischen Boutiquen, Monumenten und Straßencafés wie eine begehbare Reiseführer-App. Der technische Fortschritt hat das gesamte Leben der Menschen verändert und auch die Neurowissenschaft voran getrieben. Seitdem es ein Leichtes ist, Erinnerungen zu digitalisieren und weiterzugeben, blüht der Handel mit solchen Daten. Während Drogenabhängige in der Sucht nach fremden Erinnerungen zu Monstern mutiert sind, herrscht eine diktatorische Machtelite über Neo-Paris, die die neue Wissenschaft zur Unterdrückung des Volkes nutzt. Der Alptraum einer totalitären Überwachungsgesellschaft ist endgültig wahr geworden.

Reminiszenzen finden sich in Remember Me en masse. Nicht von ungefähr spielt die Story im Jahr 2084 - 100 Jahre nach George Orwells Romanvision 1984. Entwickler Dontnod übernimmt Gedanken der Dystopie des Briten und baut darauf seine Handlung auf. Der Spieler schlüpft in die Rolle einer ehemaligen Gedächtnisjägerin, die der Regierung gefährlich wurde und wie Orwells Protagonist Winston Smith einer Gehirnwäsche unterzogen werden soll: Heldin Nilin erwacht in einem Gefangenenlager, auf dem Weg zur endgültigen Löschung ihrer Erinnerungen. Kurz vor der Vollstreckung schaltet sich der Unbekannte Edge in ihr Bewusstsein ein und hilft ihr bei der Flucht.

Nun öffnet sich eine Welt, deren Design von etlichen Science-Fiction-Filmen inspiriert wurde, darunter Das fünfte Elemen, I Robot, Metropolis, A.I. Künstliche Intelligenz, Minority Report, Blade Runner oder Æon Flux. Die Ähnlichkeit der Ereignisse mahnen zudem an Filme wie Matrix, in dem Held Neo der Auslöser einer Katharsis ist, sowie Total Recall und Strange Days, die bereits mit der Idee implantierter bzw. als Droge konsumierter Erinnerungen spielten.

Die Rahmenhandlung klingt vielversprechend und an Protagonistin Nilin ist schon mal nichts falsch - besonders, weil es dem Medium der Games grundsätzlich an weiblichen Charakteren mangelt. So kommt sie als taffer Lara Croft-Verschnitt (Tomb Raider) mit den futuristischen Merkmalen einer Faith (Mirrors Edge) eigentlich recht willkommen. Auch sonst scheint das Konzept zu stimmen. Spielerisch war eine Mischung aus Kletterpassagen im Stile von Assassin's Creed und Uncharted sowie den frei fließenden Kampfsequenzen der Link auf -Spiele gewollt. Einziger Unterschied und größtes Übel: Remember Me ist kein Open World-Spiel wie die beiden Vorbilder, sondern so linear wie die Action-Adventures der vorigen Generation.

Klar, auch zum Ende der Konsolengeneration von Playstation 3 und Xbox 360 werden noch jede Menge linearer Spiele auf den Markt geworfen - z.B. solche, die eine zusammenhängende filmische Geschichte erzählen, wollen den Spieler leiten. Sobald er sich allerdings wie durch einen unsichtbaren Schlauch gepresst fühlt, der nur am vorderen Ende geöffnet ist und dem in vorhersehbaren Abschnitten ein neues Versatzstück nachwächst, erstickt der Spaß im Keim. Hinzu kommt, dass Weltereignisse in Remember me zwar schön gemalt sind, aber leblos wirken. Die gesamte Umgebung von Neo-Paris, Innenräume und Außenareale mit all ihren Einrichtungen, bleibt, bis auf die vorgegebenen und sogar mit Pfeilen und ähnlichen Interaktionszeichen markierten Wege, unantastbar. Spielerisch läuft das folgendermaßen ab:

Klettern

Kletterpassagen stellen die Art der Fortbewegung dar. Zur Erkundung der Welt rennt Nilin durch Pariser Gassen, Gebäude und über Dächer. Gelangt sie in eine Sackgasse, lässt sie sich nicht aufhalten. Mit Leichtigkeit springt sie meterweit von Haus zu Haus, nutzt Abflussrohre, Leitern und Dachsimse, um ihren Parcours fortzusetzen. Gelegentlich verbarrikadieren ihr Gefahren den Weg, die entweder per Knopfdruck oder mit einem Mindestmaß an Timing überwunden sind, wie z.B. beim Passieren automatisch bewegter Lamellen einer Werbetafel.

Zwischendurch kreuzen ein paar Widersacher in Form von Erinnerungs-Junkies Nilins Weg, die sie mit ein paar Schlägen und Tritten abfertigt. Sobald die Heldin einen größeren Raum oder Platz betritt, darf sich der Spieler auf einen längeren Kampf mit stärkeren Gegnern wie Schlägertrupps oder Zwischen- und Hauptbossen gefasst machen - womit wir beim Gameplay-Element des Kämpfens angelangt sind.

Kämpfen

Zur Abwechslung der Klettereinlagen landet Nilin in Kampfarenen, die von Wachmännern in Rüstung, Gorilla-Junkies oder Superfreaks besetzt sind. Ein gut gemeintes Combo-System verleiht den Kämpfen tatsächlich einen gewissen Flow. Ähnlich dem Prinzip von Musikspielen wie Guitar Hero muss der Spieler simultan zu einer eingeblendeten Leiste die richtige Taste zum richtigen Zeitpunkt drücken, um seine Angriffskette wirksam durchzuprügeln. Diese Combos lassen sich noch mit sogenannten Impressionen aufrüsten: Bei einer bestimmten Anzahl gefundener Gegenstände, über die Nilin auf ihrer Reise stolpert, schalten sich Punkte frei, die den Tasten der Combo zugewiesen werden können. Pro erfolgreich gedrückten Befehl wird Nilin entweder mit neuer Gesundheit, extra viel Punch für den nächsten Schlag oder schnellere Abklingzeit eines Wutangriffs belohnt.

Diese Sektionen machen solange Spaß, bis sie sich zum zigsten Mal wiederholt haben. Denn spätestens dann ist klar, dass dieses System alles andere als so gut ausbalanciert ist wie z.B. in Batman: Arkham City. In Remember Me kleben Gegner in Knäueln an Nilin und unterbrechen ihre Combos ohne erkennbaren Rhythmus. Statt Geschicklichkeit sind ausweichen, freilaufen und neu ansetzen die einzigen Mittel zum Erfolg.

Rätseln

Zu selten zeigt das Spiel seine innovative Seite, wenn Gedächtnisjägerin Nilin Zwischenziele erreicht und unbemerkt in die Erinnerung ihrer Gegner eindringt. Wie ein Film läuft dann eine Schlüsselszene der Geschichte vor Nilins Augen ab, die sie für ihre Zwecke "remixen" und dadurch beeinflussen kann. So manipuliert sie Gegenstände im Raum, die z.B. den Fluss einer lebensnotwendigen Handlung abbremsen, legt Stolperfallen, befreit Gefangene von ihren Fesseln etc. Der Spieler kann die Szene per Taste schnell oder langsam vor- und zurückspulen und muss dabei auf interaktive Gegenstände achtgeben. Manipuliert er sie, kann er sich schließlich die Auswirkungen seiner Tat ansehen. Statt detektivischen Rätselspaßes kommt allerdings eher Langeweile auf, denn so richtig durchdacht sind diese Versuch- und Irrtum-Sequenzen leider nicht. Der Aha-Effekt bleibt aus.

Springen, klettern und Fäuste schwingen in einer Orwellschen Dystopie (10 Bilder)

Weshalb Entwickler Dontnod einige Wochen vor der Veröffentlichung ankündigte, dass bereits an Remember me 2 gearbeitet wird, ist schwer zu verstehen. Vielleicht um anzudeuten, dass Teil eins schon lange fertig ist und sich deshalb so trivial spielt? Oder aber um potenzielle Käufer mit dem Argument zu locken, bloß nicht solch ein geiles Spiel zu verpassen, von dem bereits ein Nachfolger in der Mache ist? Jedenfalls, und das ist schade, schafft es das eigentliche Produkt nicht, das ambitionierte Konzept unterm Strich so umzusetzen, dass mehr als durchschnittlicher Spielspaß entsteht.

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