Spuk im Chessman-Haus
Mit dem Steuersparmodell von Vancouver nach Seattle
Nach dem Thriller kommen wir jetzt zum Geisterfilm. In The Silent Partner wird eine Leiche im Fundament einer Bank entsorgt. In The Changeling wird sie wieder ausgegraben, nur dass aus einer toten Frau ein totes Kind geworden ist. Der die Bank ausraubende Weihnachtsmann in The Silent Partner neigt zu atavistisch anmutenden Gewaltausbrüchen. In The Changeling ist es die eiskalt kalkulierende Geldgier, die zum Verbrechen führt. Das ist noch schlimmer.
Ein Geheimnis tritt hervor
Ein Auto fährt nachts auf eine Brücke. Ein Mann steigt aus und wirft einen rot-weiß gestreiften Kinderball über die Brüstung. Wir sehen, wie der Ball ins Wasser fällt. Die Strömung wird ihn jetzt wohl hinaus aufs Meer tragen, weil die Geschichte in der Hafenstadt Seattle spielt. Der Mann fährt heim, geht ins Haus und zum Fuß der Treppe, die hoch zu einer Dachkammer führt. In dieser Kammer verbirgt sich ein finsteres Geheimnis. Der Mann ist diesem Geheimnis auf der Spur.
Leicht ist das nicht. Der Mann wirkt müde und erschöpft, als er seinen Mantel an einen Pfosten des Treppengeländers hängt. Der Mantel sieht jetzt aus wie eines dieser Bettlakengespenster in alten Geisterbahnen. Damit ist schon mal klar, dass das keiner von den Filmen ist, in denen sich ein Komparse ein Betttuch über den Kopf zieht, wenn es spukt, denn das Gespenst ist irgendwo da oben, am anderen Ende der Treppe, und mit einer Jahrmarktsattraktion hat das so wenig zu tun wie mit einem Kinderspiel.
Der Mann hört ein Geräusch. Der Ball, den er soeben ins Meer geworfen hat, kommt die Treppe heruntergesprungen, bleibt vor ihm liegen. Der Mann ist starr vor Schreck. Das ist eine - später oft kopierte - Schlüsselszene in The Changeling und ein Paradebeispiel dafür, wie sich das Heimliche (die Geborgenheit des bürgerlichen Heimes) in das Unheimliche verkehrt. "Unheimlich", definierte Friedrich Schelling 1824 in seiner Vorlesung zur Philosophie der Mythologie, "nennt man alles, was im Geheimnis, im Verborgnen, in der Latenz bleiben sollte und hervorgetreten ist."
Ein Geheimnis tritt hervor (18 Bilder)
"First ‚The Exorcist’ Then ‚The Omen’ Now ... The Changeling" stand 1980 in den Zeitungsannoncen, aber das war Teil einer fehlgeleiteten Werbekampagne. The Changeling ist kein Film der Spezialeffekte, mit deren Hilfe sich Köpfe um die eigene Achse drehen (Der Exorzist) oder spektakulär vom Rumpf getrennt werden (Das Omen), und er will es auch nicht sein. Es spricht für sich, dass der Regisseur Peter Medak kein Interesse daran bekundete, ein in den letzten Jahren mehrfach angekündigtes Remake zu inszenieren, weil er davon ausging, dass ihm die Produzenten computergenerierte Geister aufzwingen würden, die er nicht haben wollte.
Im Gegensatz zum modernen, grob gesagt mit William Friedkins The Exorcist beginnenden Horrorfilm, der alles zeigt, was zu zeigen ist, gilt The Changeling als klassische, auf Atmosphäre statt auf Spezialeffektsgewitter setzende Spukgeschichte. Wir wissen aber auch (siehe Teil 1), dass die "klassische Geistergeschichte" eine mit sozialem Gewissen ist, seit Charles Dickens 1843 A Christmas Carol veröffentlichte, seine erste Gespenstergeschichte zur Weihnachtszeit. Dickens schrieb gegen zwei Geißeln der britischen Gesellschaft an, die er für eine Schande hielt: Die Armut und die Bildungsferne breiter Schichten.
Am meisten ging ihm die erschreckende Kinderarmut zu Herzen. Ebenezer Scrooge, der sich vom Geizhals zum Philanthropen wandelnde Geschäftsmann aus der Londoner City, begegnet auf seiner Reise mit den Weihnachtsgeistern denn auch "Want" und "Ignorance" in Kindergestalt. Die Not und die fehlende Bildung sind die (sehr realen) Phantome, denen sich eine Gesellschaft stellen und auf deren Existenz sie eine humane Antwort finden muss, sagt Dickens, wenn sie nicht riskieren will, dass die gesamte Zivilisation früher oder später in den Abgrund gerissen wird, weil Want und Ignorance herangewachsen sind, ohne dass sich etwas geändert hätte.
Der sozialkritische Impetus ging der Geistergeschichte mehr und mehr verloren. Die Leser sollten sich wohlig gruseln, nicht über Gier, Ausbeutung und Verelendung in Rage geraten oder als Profiteure gesellschaftlicher Missstände ein schlechtes Gewissen kriegen, wie Dickens es beabsichtigte, weil er hoffte, auf diese Weise politische Veränderungen anstoßen zu können. In der entpolitisierten, von Dickens’ Nachfolgern praktizierten Form der Gespenstergeschichte war der Spuk allzu oft auf den Schrecken als Selbstzweck reduziert, statt das Vehikel zum Transportieren gesellschaftskritischer Anliegen zu sein.
Wer also The Changeling unter der Rubrik "klassische Geistergeschichte" einsortiert und mehr will als eine schnelle Etikettierung könnte sich fragen, ob "klassisch" nur ein Synonym für "altmodisch" ist, ohne explodierende Köpfe und herausquellende Gedärme, oder ob der Film auch an eine von Dickens begründete Tradition anknüpft, die im Laufe der Zeit ein wenig in Vergessenheit geriet. Wir werden sehen, wohin uns das führt, müssen uns aber zur besseren Orientierung erst darüber klar werden, wo wir uns befinden. England ist es nicht, weil The Changeling ein kanadischer Film ist, aber Kanada ist es auch nicht, weil Filme teuer sind und Produzenten vorab überlegen, wo man das investierte Geld zurückholen kann.
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