Spuk im Chessman-Haus
Seite 3: Product Placement
Mitte der 1970er hatte man in Kanada von der Verteilung von Fördermitteln auf ein System umgestellt, das im Wesentlichen auf einem Steuersparmodell basierte. Geldgeber wurden damit angelockt, dass sie ihre Investition zu hundert Prozent von ihrem steuerpflichtigen Einkommen absetzen konnten. Perfekt war das nicht unbedingt, weil der Mehrzahl der Investoren der künstlerische Wert einer Produktion egal war und oft auch der kommerzielle Erfolg oder Misserfolg. Der Steuersparboom des kanadischen Films war vor allem einer der Quantität. Ausnahmen, die mit Qualität überzeugten, gab es aber auch.
Das Steuersparmodell der Regierung brachte Michaels und Drabinsky auf die Idee, The Changeling komplett mit Anteilsscheinen (zu je 25.000 Dollar) zu finanzieren, was es so bei einem kanadischen Film noch nie gegeben hatte. Den Produzenten verschaffte das mehr Unabhängigkeit als bei anderen Finanzierungsmethoden. George C. Scott glaubte nicht an Geister, fand aber die Geschichte gut und auch die Rolle, die ihm angeboten wurde. Nachdem mit Scott ein bekannter Hollywoodstar zugesagt hatte gelang es Michaels und Drabinsky, alle 264 Anteile zu verkaufen. So kamen 6,6 Millionen (kanadische) Dollar zusammen.
Product Placement (12 Bilder)
Auf dem wichtigen US-Markt war The Silent Partner schlecht verliehen und schlecht besprochen worden und dann sang- und klanglos untergegangen. Michaels und Drabinsky wollten diese Erfahrung nicht wiederholen. Die Filmindustrie denkt in Klischees wie dem, dass der Großteil der Amerikaner keine Filme sehen will, die außerhalb der USA spielen. Also wurde aus John Russell ein Professor, der von New York nach Seattle zieht und nicht etwa von Montreal nach Toronto oder Vancouver. George C. Scott stammte aus Virginia. Seine Partnerin im Film und im echten Leben, Trish Van Devere, war eine Schauspielerin aus New York.
Obwohl fast alle Nebenrollen mit einheimischen Charakterdarstellern besetzt sind geriet das Kanadische stark ins Hintertreffen, und der Kanada-Bezug war nun mal verlangt, wenn man am Steuersparmodell partizipieren wollte. Den Film in Vancouver zu drehen und nicht in Los Angeles oder Florida war gut, doch es konnte nicht schaden, ein paar sichtbare Kanada-Elemente einzubauen, die auf der Leinwand zu sehen sein würden. Unter umgekehrten Vorzeichen war das schon bei The Silent Partner so gewesen. Dem Kassierer einer Bank in Toronto konnte man keine US-Dollars in die Kasse legen, aber Fahndungsplakate des FBI im Polizeirevier, als Angebot an ein fremdelndes US-Publikum, das ließ sich machen.
Beim tödlichen Verkehrsunfall in The Changeling wird das "Hollyburn Ridge"-Schild umgefahren, als habe man es nur zu diesem Zweck da hingestellt. Die Aufmerksamkeit des Publikums ist dem Schild gewiss. Das ist weniger eine makabre Form des Product Placement (oder nicht nur), die sich die Tourismusmanager des Erholungsgebiets etwas kosten ließen als vielmehr eine Argumentationshilfe beim anstehenden Versuch, der CFDC einen in den USA spielenden Film mit US-Stars in den Hauptrollen als ein kanadisches Produkt zu präsentieren. Das kanadische Steuersparkino der 1970er ist reich an solchen Abstrusitäten. So erfreulich selbstironisch wie hier ging es dabei selten zu. Meistens war es nur dreist.
Die Historical Society, für die Claire Norman (Trish Van Devere) arbeitet, ist im auf einem Grundstück in Dreiecksform errichteten Hotel Europe untergebracht. Sie und Russell treffen sich auf der Dachterrasse und im Restaurant des Gebäudes, das damals noch ein Hotel war (seit dem Umbau im Jahr 1983 bietet es bezahlbare Wohnungen für Leute mit geringem Einkommen). Im ungünstigen Fall ärgerten sich Kanadas Lokalpatrioten über einen Schauplatz wie diesen, weil eines ihrer Baudenkmäler der US-Stadt Seattle zugeschlagen wurde. Im günstigen Fall freuten sie sich darüber, weil ein großes Publikum erfuhr, wie schön die (dann durch Stadtentwickler verunstaltete) Altstadt von Vancouver war.
Dafür musste besagtes Publikum natürlich informiert werden, dass der Film in Vancouver gedreht worden war. Zu diesem Zweck gab es die Werbung, und so ließ sich der CFDC gegenüber argumentieren, dass Kanada profitierte, auch wenn das Hotel Europe von Vancouver nach Seattle verpflanzt wurde. Die CFDC nahm solche Handreichungen dankbar an, weil die Behörde ihrerseits der Politik und der veröffentlichten Meinung des kanadischen Steuerzahlers rechenschaftspflichtig war. Besser ein vom LKW platt gefahrenes "Hollyburn Ridge"-Schild zur Markierung des kanadischen Erholungsgebiets als kein Schild in einer anonym bleibenden Winterlandschaft.
Erst die Wirkung, dann die Ursache
Weniger stiefmütterlich behandelt wurden die Amerikaner südlich der Grenze. Für das US-Publikum musste ein Wahrzeichen mit hohem Wiedererkennungswert her. Also wird erst (für die Kanadier) dieses Schild umgefahren, das auf das kürzlich eröffnete Ski- und Erholungsgebiet bei Vancouver hinweist. Anschließend geht John Russell - nach dem Tod von Frau und Kind - durch das Lincoln Center, das bekannteste Kulturzentrum der Stadt New York, und am legendären O’Neals’ vorbei, wo Johnny Mercer einige seiner berühmtesten Songs auf eine Serviette gekritzelt haben soll.
Man sieht da schon, wie wichtig George C. Scott für den Film ist. Mit Russell geht ein Mann durch das graue Regenwetter, dessen ganzes bisheriges Leben in einem Moment zerstört wurde und der versuchen muss, die Trauer auszuhalten, die er unter dem zugeknöpften Regenmantel mit sich herumträgt (oder in der vollgestopften Aktentasche?). Zuvor - als calvinistischer Geschäftsmann aus dem Mittleren Westen, der in Paul Schraders Hardcore seine in der kalifornischen Pornoszene untergetauchte Tochter sucht - hatte Scott als Mann mit einer sich langsam steigernden Wut brilliert. In The Changeling ist er als trauernder Vater und Ehemann gefragt.
Erst die Wirkung, dann die Ursache (1) (14 Bilder)
Scott muss keine Dialoge aufsagen, um den Gemütszustand dieses Mannes auszudrücken. Er macht das mit seinem Körper, durch sorgfältig dosierte Gestik und Mimik. The Changeling ist die Geschichte eines Komponisten, der in ein Spukhaus gerät und die Kraft aufbringt, den dort verborgenen Geheimnissen auf den Grund zu gehen. Zugleich wird die Geschichte eines sensiblen Menschen erzählt, der lernen muss, mit einem Schicksalsschlag zu leben, ohne daran zu zerbrechen. Dafür braucht man einen Schauspieler von Scotts Format, der einen solchen Film tragen kann und nicht in melodramatisches Überagieren flüchtet, wenn Russell mit sich und seiner Trauer allein ist.
Ein kurzes Durchatmen deutet an, wie sehr sich Russell zusammennehmen muss, wenn er nach dem Gang durch den Regen seine Wohnung betritt, in der nur noch ein paar Umzugskisten und leere Regale auf ihn warten - und ein Gespenst eventuell. Der Film macht durch ungewöhnliche Perspektiven darauf aufmerksam, dass die visuelle Gestaltung etwas zu bedeuten hat, bleibt aber bei der Informationsvergabe sehr subtil. Russell steht am Fenster. Offenbar denkt er zurück an die glückliche Zeit, die er in dieser Wohnung verbracht hat. Wir hören Klavierspiel. Schnitt. Eine Einstellung wie von einer Überwachungskamera, mit Weitwinkel und aus Obersicht.
Das lässt sich psychologisch deuten. Nach dem Tod von Frau und Kind ist Russell unbehaust, wirkt er klein, verloren und orientierungslos in einer Welt, die nicht mehr die seine ist. Im Hintergrund kommt die Hausangestellte Estancia mit einer Pappschachtel ins Zimmer. Man beachte die hölzerne Aufsatztruhe unten rechts. Scheinbar war das mal ein Behälter für Schachfiguren, die Russell aber nicht braucht, weil er selbst die Schachfigur ist. Er wird jetzt dann ins Chessman-Haus ziehen, das Schachfiguren-Haus. Er weiß es nur noch nicht. Erinnern wir uns kurz an Miles Cullen, den Schachspieler aus The Silent Partner. Ob er glücklich geworden ist mit dem steuerfreien Geld, für das zwei Menschen sterben mussten?
Russell dreht sich zu Estancia um. Schnitt. In der nächsten Einstellung sehen wir nicht die Hausangestellte in einem von der Konvention verlangten Gegenschuss, sondern wieder das Zimmer aus Obersicht, jetzt voll eingerichtet. Wir sehen, wie das Zimmer früher war, in einem Erinnerungsbild aus der Vergangenheit. Russell sitzt am Klavier und spielt das Musikstück, das wir vorher schon gehört haben. Anstelle von Estancia kommt Kathy in das Zimmer, Russells Tochter.
Kathy spielt mit dem Ball, den er später von der Brücke werfen wird und sagt ihm, dass er ihn fangen soll. Russell blickt vom Klavier hoch, lächelt und steht auf. Kathy wirft ihm den Ball zu (neben ihr die Truhe). So war das damals, als sie noch am Leben war. Jetzt ist sie tot. Ein Schnitt holt uns zurück in die Wirklichkeit und zeigt uns, dass Estancia die Schachtel auf ein paar andere gestellt hat. Dabei ist der Ball herausgefallen, mit dem Kathy früher spielte. Er springt auf dem Boden auf, Russell fängt ihn. Auch er ist zurück in der Wirklichkeit.
Erst die Wirkung, dann die Ursache (2) (19 Bilder)
Russell hält den Ball in der Hand, kämpft mit seinen Emotionen und gegen die Tränen. Er sieht aus, als würde er gleich zusammenbrechen. Dann hat er sich wieder im Griff. Er fragt Estancia, ob die Truhe auch nach Seattle geschickt wird und legt den Ball hinein. Soweit lässt sich das alles leicht erklären. Ein Teil von John Russell lebt noch im Gestern, weil das Heute unerträglich für ihn ist. Ein hüpfender Ball reicht aus, um Erinnerungen und ganze Szenen aus der Vergangenheit in ihm wachzurufen, die er damit verbindet. Doch irgendetwas stimmt nicht. Die Reihenfolge ist falsch.
Der Ball müsste, wenn man es psychologisch deutet, aus der Umzugskiste fallen und auf dem Boden aufspringen, ehe Russell sich an die Szene mit seiner Tochter erinnert: Erst ein Ereignis in der Gegenwart als auslösendes Element, dann die Vergangenheit. Hier ist es umgekehrt: Erst die Erinnerung, dann das sie auslösende Element. In der ersten Einstellung mit dem leergeräumten Zimmer aus Obersicht ist die Holztruhe geschlossen. In der zweiten Einstellung (nachdem Kathy den Ball geworfen hat) ist sie offen. Ist das ein Anschlussfehler, oder hat jemand den Deckel aufgeklappt, ohne dass wir es gesehen haben?
Solche Fragen stellt man sich öfter in The Changeling. Im Spukhaus merkt man schnell, dass die Einstellung aus Obersicht die Perspektive des Gespensts ist. Ist das auch in New York schon so? Ist der Geist von Anfang an dabei, beobachtet Russell und manipuliert ihn wie eine Schachfigur, bis er ihn da hat, wo er ihn haben will? In dem Fall würde er die Funktion des Regisseurs übernehmen, der im Off für Russell die Truhe öffnet, damit er den Ball hineinlegen kann, der für den Fortgang der Handlung in Seattle noch benötigt wird. Das wäre eine ziemlich paranoide Konstruktion, und wenn man sie logisch durchdenkt stößt man schnell an Grenzen, nur: Wie logisch muss eine Geschichte sein, in der es spukt?
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