Spuk im Chessman-Haus
Seite 5: Wecker mit Donnerhall
Erst ist es so wie man es kennt von Gespenstern in Literatur und Film. Man glaubt, im Augenwinkel etwas zu sehen, dreht sich um und nichts ist da. Russell sitzt am Klavier und komponiert. Hinter ihm öffnet sich eine Tür "wie von Geisterhand". Russell geht hin, schaut auf die andere Seite der Tür. Er denkt, dass es der Hausmeister war. "Mr. Tuttle?", fragt er. Tuttle antwortet, steht aber an der falschen Stelle, wollte gerade das Haus verlassen und kann es nicht gewesen sein. "Sie haben mich erschreckt", sagt Russell. Das ist in den ersten zwanzig Minuten des Films und er versucht da noch, dem Übernatürlichen eine natürliche Ursache zuzuordnen.
John Coquillon taucht die unheimlichen Vorkommnisse in ein natürliches, trügerisch mildes und unbedrohliches Licht ohne die harten Kontraste, die man von so einem Film eigentlich erwarten würde. Mit der Ausstattung harmoniert das perfekt. Trevor Williams hat sich für gedeckte Farben entschieden, sicher in Absprache mit Medak und Coquillon. Es gibt kein Blut und schon gar nicht Ströme davon wie in Dannys Visionen in The Shining, der im selben Jahr in die Kinos kam, dafür aber rote Farbtupfer: ein rotes Plakat an der Wand oder den roten Pullover, den Russell trägt, wenn er zum ersten Mal das Chessman-Haus betritt.
Wecker mit Donnerhall (19 Bilder)
Selbstverständlich ist das Klavier braun und nicht schwarz, und als Zimmerpflanze steht eine kleine Palme darauf, weil ihr Grün nicht durch Blüten bunter wird wie bei einer Blume. Auf das Gedämpfte kommt es an, auch bei der Bekleidung der Darsteller. Das gelegentliche Rot sticht nicht unbedingt ins Auge und ist doch beunruhigend, weil es inmitten der Braun-, Blau- und Gelbtöne das Farbschema durchbricht. Die roten Farbtupfer in Russells Umgebung verbinden die alltägliche Welt mit dem rotweiß gestreiften Ball seiner toten Tochter, in dem sich das Übernatürliche manifestiert. Das ist nicht spektakulär, aber wirkungsvoll.
Medak verzichtet nicht komplett auf Geisterbahneffekte, bemüht sich allerdings, sie sorgsam zu dosieren und immer die Balance zwischen dem Spuk und der seelischen Verfassung des Protagonisten zu wahren. Um 6 Uhr morgens dröhnt ein donnerndes Geräusch durch das Haus, das unter dem Hall zu erzittern scheint. Medak zeigt uns dazu den aus dem Schlaf gerissenen John Russell in einer Weitwinkeleinstellung aus Obersicht, um zu betonen, wie verloren und unbehaust der Mann ist. Er liegt allein in einem Doppelbett, weil seine Frau gestorben ist. Sogar die Tür zum Treppenhaus steht weit offen. Das Zimmer ist voll eingerichtet, alles ist schön aufgeräumt, und doch gibt es da keine Spur von Geborgenheit.
Am nächsten Morgen liegt Russell weinend im Bett, als wieder das hämmernde Geräusch losgeht. Was sonst nur erschreckend wäre ist angesichts der Umstände fast eine Erleichterung, weil es Russell davor bewahrt, in den Gedanken an seine tote Frau und sein totes Kind zu ertrinken. Das macht nachvollziehbar, warum er in diesem Haus bleibt, statt wegzurennen. Die Begegnung mit dem Geist ist Teil der Trauerarbeit, die er leisten muss, um zurück ins Leben zu finden. Kombiniert werden die Manifestationen des Übersinnlichen mit der Banalität des Alltags. Das Geräusch verursacht ein Luftsack in den alten Rohren, vermutet Mr. Tuttle. Aber wenigstens funktioniert die Heizung wieder. Frieren muss man nicht.
"Warum an zwei Morgen hintereinander", fragt Russell, "genau um 6?" In der deutschen Synchronfassung ist die Qual verdoppelt. Da will er wissen, warum das Geräusch um 2 und um 6 Uhr zu hören ist, weil nicht jeder übersetzen kann, der damit Geld verdient. Die Bearbeiter hatten auch keinen Sinn für Musik. Russell glaubt nicht, dass das Geräusch durch Luft in den Heizungsrohren verursacht wird; dafür sei es "zu laut, zu gleichmäßig" gewesen. Damit treibt man einem Film nicht unbedingt die Geister, wohl aber die Subtilität aus. Im Original sagt er, es sei "too loud, too rhythmic" gewesen. Das Rhythmische ist wichtig.
Musikalische Botschaft
Als Musiker denkt John Russell in Kategorien wie dem Rhythmus, nicht dem Gleichmaß. Das prägt die Handlung. Der Geist kommuniziert nicht nur durch Lärm mit Russell, sondern auch über die Musik, und außerdem über die vier Elemente, über Feuer, Luft, Wasser und die Erde in einem feuchten Grab. Für die Musik gibt es das Klavier, das noch in dem Haus steht, weil sich der Verein für Denkmalpflege nicht mit dem Abtransport herumplagen wollte, wie Claire bei der Besichtigung sagt. Die deutschen Verunstalter des Films hätten Verkäufer von Gebrauchtwaren oder Immobilienmakler werden sollen. Bei ihnen preist Claire das "sehr, sehr wertvolle Instrument" an.
Claire ist eine an ideellen Werten interessierte Musikliebhaberin und damit auf derselben Wellenlänge wie John Russell, mit dem zusammen sie den Geistern der Vergangenheit nachspüren wird. Russell zieht mit skeptischem Blick das Staubtuch von dem Instrument, für das der Verein keine Verwendung hatte. Wenn wir ihn wiedersehen, nach einer von Coquillons Kamerafahrten durch das Haus, sitzt er schon am Flügel und spielt ein Rondo, während Mr. Tuttle die Bücher in der Bibliothek abstaubt. Dabei bemerkt er, dass das Klavier (weil zu lang herumgestanden und nicht gepflegt, statt sehr, sehr wertvoll) beim Anschlagen einer Taste keinen Ton hervorbringt.
Musikalische Botschaft (18 Bilder)
Wer irgend kann sollte The Changeling im Original sehen (und hören). Die deutsche Fassung tritt mit der Subtilität gleich noch den Witz des Films in die Tonne. Mr. Tuttle bringt die Nachricht, dass der bestellte Wassertank gekommen ist. "Verzeihung, ich stör’ Sie beim Komponieren", sagt er. Warum macht er keinen Bückling zur "Verzeihung", in einem Film von 1979? "Jaja, ist gut, Mr. Tuttle", antwortet Russell mit seiner Synchronstimme, "ich bin hier fertig." Was soll das heißen, er ist hier fertig? Im Original sagt er (meine Übersetzung): "Macht nichts, Mr. Tuttle. Das ist schon komponiert worden."
Der Komponist heißt Mozart. Es ist dasselbe Stück, das wir in der leeren Wohnung in New York gehört haben und das da schon die Gegenwart und die Vergangenheit verband, die Wirklichkeit und das Imaginäre, den Tod und das Leben. Russell denkt an seine Tochter Kathy, wenn er es spielt. Ihn in dieser Situation "Ich bin hier fertig" sagen zu lassen ist total daneben. Da es nun mal sein muss geht Russell nach draußen zum Lieferanten des Tanks. Die Kamera bleibt im Musikzimmer zurück, blickt ihm hinterher und nähert sich dann der Tastatur des Klaviers. Ein unsichtbarer Finger drückt die bisher stumme Taste nach unten, ein Ton erklingt und vibriert durch das Geisterhaus.
Das ist der erste klare Hinweis, dass es die Perspektive des Gespensts ist, wenn die subjektive Kamera durch die Räume schweift (in Kranaufnahmen, auf geschickt verborgenen Schienen und mit der damals noch ganz neuen Steadicam-Technik). Dem Geist liegt etwas daran, dass das Klavier funktionstüchtig ist. Damit ist gut vorbereitet, was noch kommen wird. The Changeling ist auch in dem Sinne "altmodisch", dass die Beteiligten ihr Handwerk beherrschen und wissen, wie man eine Geschichte erzählt. Bei heutigen Produktionen wird das oft schmerzlich vermisst.
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