Zwischen Steuersenkung und Umverteilung, oder auch: Schieß nicht auf den Weihnachtsmann!
- Zwischen Steuersenkung und Umverteilung, oder auch: Schieß nicht auf den Weihnachtsmann!
- Weihnachten als subversiver Akt
- Der David Beckham der Bankräuber
- Kultur mit Einkaufszentrum
- Die Ermordung des Weihnachtsfests
- "Denk an eine Zahl"
- Romantik, Sex und schäbige Affären
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Ein Artikel zur festlichen Jahreszeit in zwei Teilen
Es muss nicht immer Frank Capras Ist das Leben nicht schön? oder White Christmas mit Bing Crosby sein. Es gibt Filme zur Weihnachtszeit, die mindestens so sehenswert sind wie die üblichen Klassiker und es oft schwer haben, ihr Publikum zu finden, weil sie abseits der etablierten Produktions- und Verleihstrukturen entstanden sind und man ohne Hollywood-Unterstützung Glück braucht, um nicht in der Versenkung zu verschwinden. Hier sollen zwei von diesen Filmen empfohlen werden. Der eine ist ein intelligenter Thriller, der andere eine gruselige Gespenstergeschichte. Mit dem Thriller fangen wir an.
Der Weihnachtsmann steht in einer Bank und reicht dem Kassierer einen Zettel. "Ich habe eine Pistole", steht auf dem Zettel. "Geben Sie mir das gesamte Bargeld." Der Kassierer gibt ihm Geld. Wir sind im Souterrain eines Einkaufszentrums in Toronto. Der Weihnachtsmann verlässt die Bank, flieht über die Rolltreppe nach oben und verschwindet. Damit begann 1978 - etwas verhalten, denn ein großer Erfolg war The Silent Partner eher nicht - der Aufstieg des Film- und Theaterproduzenten Garth H. Drabinsky, eines gelernten Anwalts, zu einem der Superstars unter den mit Riesensummen jonglierenden Impressarios.
Flug des Ikarus
In den 1990ern machten Drabinsky und sein Partner Myron Gottlieb Furore mit spektakulären Bühnenproduktionen ihrer Live Entertainment Corporation of Canada (kurz Livent). Mit Phantom of the Opera, Show Boat und Sunset Boulevard strichen Drabinsky und Gottlieb allerlei Bühnenpreise ein, und sie verhalfen Toronto dazu, sich zu einer der weltweit führenden Theater- und Musicalstädte aufzuschwingen, jedenfalls im kommerziellen Sektor. Drabinsky ebnete das den Weg in den Order of Canada, in den er 1995 im Range eines Officer aufgenommen wurde.
Die Mitgliedschaft in diesem Orden ist die zweithöchste Ehrung, die Kanada zu vergeben hat, für herausragende Verdienste um das Land. Schirmherrin des Ordens ist Queen Elizabeth. Drabinsky schien oben angekommen. Allerdings macht schon der Weihnachtsmann in The Silent Partner die Erfahrung, dass es auch eine Rolltreppe nach unten gibt. 1998 verkauften Drabinsky und Gottlieb die Livent an eine vom Hollywood-Schwergewicht Michael Ovitz geführte Investorengruppe. Einige Monate danach meldete das Unternehmen Insolvenz an. Die Käufer hatten festgestellt, dass die Livent vor allem (geschickt versteckte) Schulden hatte.
Flug des Ikarus (14 Bilder)
Das war der Ausgangspunkt langjähriger Ermittlungen und Gerichtsverfahren, die Drabinskys Absturz einleiteten. Die einen sagten, er sei wie Ikarus der Sonne zu nahe gekommen und die anderen, er habe sich in seiner Gier so vieler Betrügereien schuldig gemacht, dass es für mehrere Romane von John Grisham gereicht hätte. Man könnte ihn auch mit dem Weihnachtsmann im Einkaufszentrum vergleichen, der mit einem Sack voller vermeintlicher Gaben unterwegs ist und doch nur Ausschau nach Leuten hält, denen er ihr Geld rauben kann, dies aber in Dimensionen, von denen Santa Claus nicht einmal träumen würde.
Anleger hatten eine halbe Milliarde kanadische Dollar verloren. Im März 2009 wurden Drabinsky und Gottlieb wegen Betrugs, Bilanzfälschung und der Etablierung eines Kickback-Systems von einen Gericht in Ontario schuldig gesprochen. Drabinsky wurde zu einer Haftstrafe von zunächst sieben Jahren verurteilt (in der Berufungsverhandlung auf fünf reduziert), die er 2012 antreten musste. 2014 wurde er aus der Anwaltskammer ausgeschlossen. 2015 scheiterte er mit dem Versuch, gerichtlich gegen seinen Rauswurf aus dem Order of Canada vorzugehen. Die Königin und ihr dem Orden vorstehender Generalgouverneur wollen nichts mehr von ihm wissen.
Zuletzt hieß es, Drabinsky habe seine Lebensversicherung zu Geld gemacht und sei bemüht, eine neue Musicalproduktion auf die Beine zu stellen. Titel: Hard Times - leider nicht nach dem Roman von Charles Dickens, was gut hierher passen würde, sondern über Five Points, das durch Gangs of New York bekannt gewordene Slumviertel in Lower Manhattan. Auch nicht schlecht. Erschwert werden Drabinskys Bemühungen durch eine Behörde in Ontario, die Investoren vor Betrügern schützen soll und ihm verboten hat, in einer Gesellschaft öffentlichen Rechts eine Führungsposition innezuhaben. Derzeit gilt das lebenslang.
Amerikareise mit Folgen
Die hier skizzierte Karriere kommt doch etwas überraschend, wenn man bedenkt, womit sie einmal anfing: mit Drabinsky als Produzent von zwei Filmen, die dem Gewinnstreben mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln sehr kritisch gegenüberstehen. Der eine, The Silent Partner, ist ein Thriller über die Gier, die Erotik des Geldes und den Weihnachtsmann. Der andere kleidet die Gier in das Gewand einer "klassischen Geistergeschichte", wie The Changeling (1980) zumeist charakterisiert wird. Auf einen Krimi im Weihnachtsambiente als Nachfolgeproduktion einen Film mit Spukhandlung folgen zu lassen ist in sich stimmig. Das eine gehört zum anderen.
Eingangs sollten wir uns fragen, was das eigentlich ist, eine "klassische Geistergeschichte"? Auf die Tradition, sich in langen Winternächten die Zeit mit Schauergeschichten zu vertreiben, wird schon in Shakespeares The Winter’s Tale angespielt, und im englischen Sprachraum war sie untrennbar mit Weihnachten verbunden, bevor Halloween in Konkurrenz zur Christnacht trat. "Sobald sich fünf oder sechs englischsprachige Leute an Heiligabend um ein Feuer versammeln fangen sie an, einander Geistergeschichten zu erzählen", schrieb 1891 der Humorist Jerome K. Jerome im Vorwort zu seiner (eher heiteren als gruseligen) Sammlung Told After Supper.
"Nichts befriedigt uns an Heiligabend so sehr wie wenn wir uns Anekdoten über Gespenster erzählen", meint der Autor von Drei Mann in einem Boot. "Es ist eine gesellige, feierliche Zeit, und es macht uns Freude, über Gräber nachzusinnen, und über Leichen, und über Morde, und über Blut." Schuld daran waren Charles Dickens und eine Reise durch die USA und Kanada, die dieser 1842 unternommen hatte. Die Reise verlief eher unharmonisch, weil Dickens die Sklaverei kritisierte, in der er eine verschärfte Form der Ausbeutung des Industrieproletariats in seiner Heimat sah.
Außerdem trat er bei Vortragsveranstaltungen für ein Urheberrechtsgesetz ein und las den Gastgebern die Leviten, weil sie seine Werke kopierten, ohne zu bezahlen. In amerikanischen Zeitungen wurde er deshalb als ungehobelter Kerl hingestellt, der den Rachen nicht voll genug kriegen könne und auch noch Geld verlange, statt froh darüber zu sein, in den USA so viele Leser zu haben (Leser, mit denen die US-Verleger viele Dollars verdienten, von denen sie nichts abgeben mussten, weil Dickens und seine Rechte als Urheber nicht geschützt waren).
Die USA-Reise verstärkte Dickens’ Wut über gesellschaftliche Missstände, gegen die er in seinen Romanen und journalistischen Arbeiten seit Jahren anschrieb. Sein Ärger wurde noch größer, als er den "Essay on the Principle of Population" des anglikanischen Pfarrers und Nationalökonomen Thomas Robert Malthus las und eine "Lumpenschule" (ragged school) in Saffron Hill besuchte, einem der schlimmsten Slumviertel Londons (Teile von Oliver Twist sind da angesiedelt). Die vor allem von Evangelikalen getragene "Ragged School"-Bewegung hatte das Ziel, den Kindern der Armen wenigstens eine rudimentäre Schulbildung zuteil werden zu lassen, und soviel religiöse Erbauung wie nur möglich.
Dickens war erschüttert über die Zustände in dieser total verdreckten Schule und darüber hinaus der Meinung, dass man es mit der religiösen Erbauung übertrieb, auf Kosten einer Unterweisung mit praktischem Wert für das Dasein im Slum. Die organisierte Religion war ihm suspekt, das Sektierertum fundamentalistischer Christen ein Graus. Trotzdem unterstützte er die Bewegung, weil etwas Besseres nicht in Sicht war. Zu seinen Lebzeiten besuchte nur eines von drei Kindern eine Schule, und sei sie noch so rudimentär. Schätzungen nach gab es im London der 1840er mehr als hunderttausend Kinder, die nicht einmal eine der Lumpenschulen je von innen sahen.
Dickens versuchte, seinen Einfluss als berühmter Autor zu nutzen und intervenierte bei der Regierung, die eine finanzielle Unterstützung des Ragged School Movement aber ablehnte. Also plante er ein Pamphlet, in dem er mit der Ungleichheit und der Ungerechtigkeit in der britischen Gesellschaft abrechnen wollte. Schließlich zog er es vor, das Thema in einer publikumswirksamen Geschichte zu verpacken. Das erschien ihm erfolgversprechender zu sein. Der Vollständigkeit halber muss man hinzufügen, dass er damit auch seine Geldnot beheben wollte. Die USA-Reise war teurer gewesen als gedacht, er hatte eine anspruchsvolle Verwandtschaft, und sein aktueller Fortsetzungsroman lief schlechter als erhofft.
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