Zwischen Steuersenkung und Umverteilung, oder auch: Schieß nicht auf den Weihnachtsmann!

Seite 5: Die Ermordung des Weihnachtsfests

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In einer Mittagspause steht Miles bei den Rolltreppen im Einkaufszentrum. Ein Weihnachtsmann sammelt für die Bedürftigen. "Geben Sie. Geben Sie. Geben Sie.", steht auf seinem Schild. "Give. Give. Give." Der Restaurantbesitzer mit der Aktentasche fährt mit dem Lift nach unten. Das ungewöhnliche "G" auf dem Schild ist das gleiche wie das "G" in "Gun" auf dem Durchschlag. Bei Miles fällt der Groschen. Santa Claus ist der Bankräuber mit der Pistole in der Tasche. Er beobachtet nun den Weihnachtsmann, der seinerseits den Gastronomen beobachtet. Der Überfall soll erst stattfinden, wenn Mr. Fogelman die Tageseinnahmen eingezahlt hat.

Miles ist rechtzeitig zurück in der Bank, um die Einzahlung entgegenzunehmen. Höllisch viel los in seinem Lokal, sagt Fogelman. Sogar bei diesem Regen (schlecht für ein Lokal auf der Dachterrasse). Aus weißen Weihnachten werde wohl nichts werden. So sollten Dialoge sein. Wir erfahren, dass Fogelman viel Umsatz macht, weil die Leute kurz vor Weihnachten das Einkaufszentrum stürmen und dass wir nicht mit einer White-Christmas-Seligkeit rechnen sollten. Der Weg zwischen Himmel und Hölle kann sehr kurz sein. Das Vehikel ist das Geld, das Fogelmans Gäste zu ihm nach oben tragen, in den Himmel des Einkaufszentrums.

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The Silent Partner

Der Gastronom bringt es zurück nach unten, in die Bank. Rund um dieses Geld wird sich ein Beziehungsdrama mit einem Personal entfalten, das auf seine jeweils eigene Weise davon träumt, mit der Rolltreppe nach oben zu fahren. Der Regen in Fogelmans Dialog knüpft an Julies "rain check" an, also an das Zusammensein mit Miles, das in die Zukunft verschoben wird, weil Miles nicht in der Lage ist, eine sich bietende Gelegenheit zu ergreifen. So wird es nicht bleiben. Den vielen sorgsam platzierten Details in The Silent Partner kann man folgen wie Perlen an einer Schnur. Sie geben dem Film die erzählerische Dichte.

Weil das Geld eine erotische Komponente hat spricht Fogelman bewundernd über die großen Brüste von Louise, der neuen Angestellten in der Bank, während Miles seine Einnahmen zählt. Über diesen Brüsten trägt Louise T-Shirts mit anzüglichen Sprüchen wie "Penalty For Early Withdrawal". Wer sein Geld vor der vereinbarten Frist abhebt muss Strafzinsen zahlen, und eine Strafe wird auch fällig, wenn man etwas zu früh zurückzieht. Gemeint ist der Coitus interruptus. Kaum ist Fogelman gegangen kommt der Weihnachtsmann mit der Pistole zur Tür herein.

Die Ermordung des Weihnachtsfests (2) (26 Bilder)

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Santa Claus nimmt ein Formular, schreibt etwas und ist schon auf dem Weg zum Schalter, als er vom kleinen Percy bestürmt wird. Der Junge möchte vom Weihnachtsmann wissen, ob er heuer ganz bestimmt die gewünschten Geschenke kriegt, einen Pelikan und eine Eisenbahn, und weil er nicht bs zur Bescherung warten will ist er kaum von der Tasche des Weihnachtsmanns fernzuhalten, aus der er die Präsente holen will. Sofort und auf der Stelle. Santa Claus ist unwirsch, murmelt etwas von einem vergessenen Scheckbuch und flüchtet aus der Bank. Der Überfall muss warten.

"So etwas", wundert sich Percys Mutter. "Ein Weihnachtsmann, der keine Kinder mag." Vielleicht mag Santa nur ihren Sohn nicht, oder das, was aus Weihnachten geworden ist. Für mich ist das ein Charles-Dickens-Moment. Dickens war zwar nicht der Erfinder des Weihnachtsfests, wie oft behauptet, trug mit seinen überaus erfolgreichen Geistergeschichten, in denen aus Geizhälsen wie Scrooge edle Spender und Wohltäter werden, aber unwillentlich zu dessen Kommerzialisierung bei, weil sich die von ihm propagierte tätige Nächstenliebe (zelebriert mit Punsch, Truthahn und Geschenken) in den Zwang zum Konsum und zum Verteilen von Präsenten verwandelte.

Dickens ermunterte Autoren wie Wilkie Collins und Elizabeth Gaskell, Geistergeschichten für die Weihnachtsnummern der von ihm herausgegebenen Zeitschriften zu verfassen, weil sie von den Lesern erwartet wurden. Er persönlich war so genervt von dem, was er angerichtet hatte, dass er bald keine Lust mehr hatte, selber welche zu schreiben. 1868, ein Vierteljahrhundert nach A Christmas Carol, stellte er die Veröffentlichung von weihnachtlichen Geistergeschichten ganz ein.

Einem Freund gegenüber bekannte er, dass er sich fühle, als ob er vor Jahren eine der Weihnachtsausgaben seiner Zeitschriften ermordet habe (und mit ihr das Weihnachtsfest, wie er es sich einmal vorgestellt hatte). Seither werde er vom Geist seines Opfers heimgesucht. So gesehen ist auch The Silent Partner eine Spukgeschichte. Es ist der Geist des durchkommerzialisierten Weihnachtsfestes, der umgeht im Shopping-Tempel. Bei der Eröffnung wurde diese Errungenschaft der modernen Konsumgesellschaft damit beworben, dass die Idee des Einkaufszentrums mit dem Eaton Centre in eine neue Dimension vorstoße. Vielleicht ist es die fünfte, die der Twilight Zone.

Wirtschaftstheorie mit zwei Weihnachtsmännern

Julie, meint Glenn Erickson, wäre lieber die Freundin von Miles Cullen als die Geliebte des Filialleiters, wenn er nur aufhören könnte, sich zu benehmen wie Clark Kent. Eben. Das muss anders werden. Miles kramt seine alte Superman-Brotzeitdose aus dem Küchenschrank und stellt fest, dass sie ausreichend Platz für drei Geldscheinstapel bietet. Die Dose nimmt er mit zur Arbeit. Dort macht er seine eigene Bank auf, indem er große Scheine durch kleine ersetzt. Die großen kommen als Einlage in die Superman-Dose, die kleinen in die Kasse. Wie jeden Tag bringt der Gastronom sein Geld.

Im Eingang begegnet Fogelman Louise und ihrem Kollegen Simonson, die gemeinsam zum Mittagessen gehen. Zwischen den beiden bahnt sich eine Romanze an. Der Film ist gut konstruiert und kombiniert gern verschiedene Erzählstränge, wenn eine Tür aufgeht. Dann kommt der Weihnachtsmann. Gut, dass es Schauspieler wie Christopher Plummer gibt, die mit Körpersprache so viel sagen können. Bei jedem Gang zur Bank wirkt Santa Claus mürrischer und erschöpfter. Als Bankräuber im Weihnachtsgeschäft hat man es nicht leicht.

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The Silent Partner

Im dritten Anlauf legt er endlich seine Botschaft auf den Tisch: "Ich habe eine Pistole. Geben Sie mir das ganze Bargeld." Bei jedem Versuch ein neuer Zettel. Der Weihnachtsmann ist ein Profi, und ein Profi trägt kein belastendes Material mit sich herum. Den Hinweis auf die Tasche hat der diesmal weggelassen. Wahrscheinlich ist das den schlechten Erfahrungen mit der Mutter und ihrem gierigen Kind geschuldet, das in seiner Tasche nach Geschenken kramen wollte, als Santa Claus auch schon den Eindruck machte, dass er noch Plattfüße kriegen wird, wenn er nicht bald sein Ziel erreicht.

Miles gibt dem Weihnachtsmann das Geld in seiner Kasse. Das ist viel zu wenig, weil der Kassierer den Löwenanteil in seine Privatbank transferiert hat. Miles löst den Alarm aus. Santa Claus muss türmen. Nach einer Schießerei mit dem Wachmann entkommt er im Auto eines Mannes, der gerade einen Christbaum festzurrt. Schließlich ist Weihnachtszeit. Miles muss blöde Fragen wie die beantworten, ob er noch immer an den Nikolaus glaubt, und der Weihnachtsmann alias Harry Reikle muss in den Fernsehnachrichten vom überfallenen Kassierer hören, wie viel Geld er angeblich gestohlen hat: 48.350 Dollar.

Heute denkt man sich, dass das Peanuts sind. The Silent Partner entstand aber lange vor der Finanzkrise. Damals waren 50.000 Dollar nicht so wenig - und steuerfrei, wie Cullens Kollege Simonson anmerkt. An dieser Stelle muss man Frank, dem übereifrigen Wachmann, leider einen Tadel aussprechen. Er schießt auf Santa Claus und hat scheinbar noch nichts von der "Two-Santa Theory" gehört, die weiter südlich, in den USA, gerade diskutiert wurde, als Curtis Hanson in Los Angeles sein Drehbuch schrieb und nicht ahnte, dass es in Kanada verfilmt werden würde.

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Der Vater der "Zwei-Weihnachtsmänner-Theorie" ist der Wirtschaftsjournalist, Ökonom und Meinungsmacher Jude Wanniski, der später eine wichtige Rolle beim Wall Street Journal spielte und im März 1976, als er seine Theorie veröffentlichte, politischer Kolumnist bei der Wochenzeitung National Observer war. Damals schrieb er bereits an seinem 1978 erschienenen und häufig neu aufgelegten Hauptwerk The Way the World Works, das zu einem der kanonischen Texte der republikanischen Steuersenkungsideologie wurde und darum oft in Listen mit den hundert wichtigsten Büchern des 20. Jahrhunderts auftaucht. Die Theorie mit den zwei Weihnachtsmännern war ein Nebenprodukt dieses seines Magnum Opus.

Oberster Leitsatz: Schieß nicht auf Santa Claus! Warum nicht? Weil das schlecht für die amerikanische Wirtschaft ist, und schlecht für die Republikanische Partei. Der eine Weihnachtsmann in Wanniskis Theorie sind die Demokraten. Wenn sie an der Macht sind ziehen sie den Spendierstrumpf an und lassen reiche Gaben über das Land regnen, um von oben nach unten umzuverteilen. Die oppositionellen Republikaner versprechen dagegen eine Senkung der Steuersätze. Sobald sie aber die Wahl gewonnen haben trauen sie sich nicht, ihr Versprechen wahr zu machen.

Wenn Republikaner das Land regieren, so Wanniski, sehen sie, was für ein Defizit ihnen die Demokraten hinterlassen haben. Also verhalten sie sich wie Scrooge in Dickens’ A Christmas Carol und wollen erst sparen und den Haushalt sanieren, bevor sie die Steuern senken. Darum werden sie bald wieder abgewählt. Die Demokraten sind viel geschickter. Sie sind ein doppelter Weihnachtsmann und plädieren sogar angesichts eines hohen Staatsdefizits für weniger Steuern. Beim Wahlvolk kommt das gut an, aber es ist schädlich für die Wirtschaft, weil die Demokraten die Steuern nicht entschlossen genug senken und wieder nur eine Umverteilung im Sinn haben.

Statt sich wie Scrooge aufzuführen und quasi den Weihnachtsmann zu erschießen müssen die Republikaner selbst einer werden, indem sie auch Gaben verteilen, in Form von Steuersenkungen, die zuerst den Besserverdienern zugute kommen. Das nützt der Wirtschaft, weil ein Ingenieur mehr produziert als ein Arbeiter, der einen Graben gräbt. Hohe Steuersätze wirken demotivierend. Die Amerikaner arbeiten weniger und investieren weniger, Freizeit und Konsum verdrängen die produktive Tätigkeit und das Geldverdienen. Niedrige Steuersätze haben die gegenteilige Wirkung.

Steuersenkungen erhöhen die Risiko- und Investitionsbereitschaft, es wird mehr gearbeitet, die Wirtschaft brummt, die Republikaner steigern den Reichtum der Bevölkerung und verbessern ihre Wahlchancen. Darum müssen auch sie ein Weihnachtsmann sein, statt auf ihn zu schießen. Wanniski wurde bald danach der Berater von Ronald Reagan, der sich als Kandidat für die nächsten Präsidentschaftswahlen warmlief und den er in der Two-Santa Theory noch kritisiert, weil ihm seine Steuersenkungspläne zu ängstlich sind.

Im November 1980 wählten die Amerikaner den Weihnachtsmann der Republikanischen Partei zu ihrem Präsidenten. Reagan bescherte den Besserverdienern die größte Steuersenkung seit den 1920ern und vor Donald Trump, der dieselbe alte Botschaft hinausposaunt: Niedrige Steuersätze erhöhen mittel- und langfristig die Staatseinnahmen, weil mehr gearbeitet, riskiert und investiert wird. Irgendwann haben auch die Amerikaner mit geringem Einkommen etwas davon, weil die Segnungen der Steuersenkungspolitik von oben nach unten tröpfeln. Mit Betonung auf "irgendwann".

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