Zwischen Steuersenkung und Umverteilung, oder auch: Schieß nicht auf den Weihnachtsmann!

Seite 2: Weihnachten als subversiver Akt

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Im Dezember 1843, zwischen zwei Lieferungen des Romans Martin Chuzzlewit, erschien das Buch, mit dem Dickens eine Tradition wiederbelebte, die im protestantisch geprägten England seit der Regierungszeit des Puritaners Oliver Cromwell ein wenig in Vergessenheit geraten war: das weihnachtliche Erzählen von Spukgeschichten. Der Geschichte gab er den Titel A Christmas Carol in Prose (Ein Weihnachtslied in Prosa). Damit knüpfte er an eine weitere Tradition an, die des Protestliedes. Ein Weihnachtslied als Protestsong - wie das?

Für den puritanischen Fundamentalisten Oliver Cromwell und seine Anhänger war das Weihnachtsfest Ausdruck einer heidnischen Gesinnung und der päpstlichen Infiltration des rechten Glaubens. Nirgendwo in der Bibel, argumentierten sie, verlangte Gott, die Geburt seines Sohnes zu feiern wie von den Katholiken praktiziert. Außerdem sei das Ganze eine Vergeudung von Ressourcen und eine Sünde. 1644 wurde das Feiern des Weihnachtsfestes praktisch verboten, genauso wie das Singen von Weihnachtsliedern. Wer es trotzdem tat riskierte, als Agent des Papstes verfolgt zu werden. Das konnte tödlich sein.

Das Singen von Weihnachtsliedern, auch das Texten und Komponieren, wurde so zum Akt des zivilen Ungehorsams und des politischen Widerstands. 1660, bei der Rückkehr zur Monarchie, wurden alle Gesetze der Cromwell-Ära für null und nichtig erklärt. Obwohl das Verbot nicht einmal zwanzig Jahre währte grub es sich tief in das kulturelle Gedächtnis ein. Zumindest als undeutliche Erinnerung an eine ferne Zeit haftete dem Weihnachtslied noch lange danach etwas Rebellisches an, bis hin zu A Christmas Carol, mit dem Dickens gegen die Armengesetze von 1834 protestierte.

A Christmas Carol - Erstausgabe

Im Großbritannien der Industrialisierung, des Raubtierkapitalismus und der gierigen Fabrikbesitzer wurde Armsein behandelt wie ein Verbrechen. Wer um staatliche Hilfe ansuchte landete unweigerlich in einem der Armenhäuser, die geführt wurden wie Gefängnisse. Die Zustände dort waren so erbärmlich, dass nicht nur Marx und Engels der Überzeugung waren, dass das lediglich dem Zweck diente, Hilfsbedürftige abzuschrecken. Die neuen Gesetze leisteten ihren Beitrag zur Verelendung breiter Schichten. Einer der geistigen Wegbereiter war Thomas Malthus, der in seinem Essay von 1798 eine berühmt-berüchtigte Theorie der Bevölkerungsentwicklung aufstellte.

Malthus’ (längst widerlegtes) "Bevölkerungsgesetz" stützt sich auf die Behauptung, dass sich die Menschen in geometrischen Wachstumsraten vermehren (1, 2, 4, 8), die Lebensmittelproduktion dies aber in arithmetischer Progression tut (1, 2, 3, 4). Dem zufolge scheint mathematisch nachweisbar zu sein, dass die Masse der Arbeiter und ihrer Angehörigen bestenfalls am Existenzminimum entlang krebst und sich daran nichts ändern wird, weil die Armen in guten Zeiten nur noch mehr Kinder kriegen und gleich wieder aufessen, was an Überschüssen erwirtschaftet wurde. Armut wird so zum Zustand, den man nicht abschaffen, sondern nur möglichst kostengünstig verwalten kann.

Für Malthus ist es unausweichlich, dass die Vorräte irgendwann nicht mehr reichen werden. Darum haben innerhalb seiner Lehre auch Kriege, Seuchen, Not und Elend ihr Gutes, weil sie Opfer fordern und so das Gleichgewicht zwischen Bevölkerung und Lebensmittelvorräten wiederherstellen. Ein Mensch, schrieb Malthus, der in eine Familie hineingeboren wird, die ihn nicht ernähren kann und in eine Gesellschaft, die seine Arbeit nicht brauchen kann, habe auf der Erde nichts verloren: "Beim großen Gastmahl der Natur ist kein Gedeck für ihn aufgelegt. Die Natur gebietet ihm, sich davon zu machen, und sie zögert nicht, den Befehl selbst auszuführen."

Das war Sozialdarwinismus, als es den Sozialdarwinismus noch gar nicht gab. In späteren Auflagen wurde die Passage gestrichen, weil sie den Geist von Malthus’ Lehre zu unverblümt auf den Punkt brachte. Sie beschreibt genau die Überheblichkeit und die Kälte im Umgang mit den Armen, die Dickens auf die Palme brachten und der er - zumeist euphemistisch verbrämt - so oft begegnete. In der ersten "Strophe" von A Christmas Carol erweist sich Ebenezer Scrooge als Anhänger von Thomas Malthus. Seinen Beitrag zur Gemeinschaft leistet er, indem er mit seinen Steuern für Gefängnisse und Armenhäuser zahlt.

Scrooge ist ein geiziger und hartherziger Geschäftsmann in der Londoner City. An Heiligabend kommt ein Mann in sein Büro und bittet um eine Spende für Menschen in Not. Sollen sie ins Armenhaus gehen, meint Scrooge. Viele würden lieber sterben, sagt der Herr. Sollen sie machen, erwidert Scrooge, und so einen Beitrag zur Reduzierung des Bevölkerungsüberschusses leisten. Dann erscheint ihm der Geist seines früheren Kompagnons Jacob Marley, der dazu verdammt ist, unter den Menschen zu wandern und eine Kette aus Geldkassetten, Verträgen, Kontobüchern und anderen aus Stahl geformten Utensilien eines Geschäftsmannes zu tragen, die er in einem Leben voller Habsucht selbst geschmiedet hat.

Marleys Geist kündigt Scrooge den Besuch von drei Gespenstern an, die ihn, immer mit dem Weihnachtsfest im Zentrum, durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft führen werden. Geleitet von diesen Gespenstern reist Scrooge durch sein eigenes Leben (von der Kindheit bis zu seinem einsamen Tod) und durch verschiedene Gesellschaftsschichten, wo er Zeuge von Not und Elend wird, aber auch von Humanität und Gemeinsinn. Da Dickens die Spukgeschichte mit dem Märchen kombiniert kehrt Scrooge als geläuterter Mensch von der magischen Reise zurück, als ehemaliger Geizkragen und Halsabschneider, der sich in einen Wohltäter verwandelt hat.

Weihnachten zwischen Schrecken als Effekt und dem Einkaufszentrum

A Christmas Carol erschien am 19. Dezember 1843 in einer bis Weihnachten ausverkauften Auflage von 6.000 Exemplaren, Ende 1844 war die 13. Auflage erreicht (erste Verfilmung 1901). Es folgten weitere Weihnachtsgeschichten mit Geistern und anderen Spukwesen sowie Leseabende, die zum gesellschaftlichen Ereignis wurden, weil Dickens auch ein großer Vortragskünstler war - ein Künstler mit einer gegen die Ausbeutergesellschaft gerichteten Weihnachtsbotschaft. Durch den großen, Nachahmer auf den Plan rufenden Publikumserfolg etablierte Dickens die klassische Geistergeschichte als eine mit sozialem Gewissen. Worauf es ihm ankam war die Gesellschaftskritik, mit Religion und Spukgestalten als Vehikeln.

Den meisten von Dickens’ Nachfolgern ging es primär darum, den Lesern Angst einzujagen. Einige brachten es darin zu großer Meisterschaft, aber der ursprüngliche Antrieb, die Wut über eine ungerechte Gesellschaft, hatte sich verflüchtigt und wurde durch den Schrecken als Effekt ersetzt. William Dean Howells war als Romanautor mehr dem Realismus zugewandt als der Phantastik (sein bekanntestes Buch, The Rise of Silas Lapham, schildert Aufstieg und Fall eines amerikanischen Unternehmers). Er sah sich die Entwicklung genauer an und gelangte zu dem Ergebnis, dass es nicht die Gespenster waren, die ihn, den Realisten, störten.

Weihnachten zwischen Schrecken als Effekt und dem Einkaufszentrum (13 Bilder)

The Silent Partner

1886 beklagte Howells in einem Leitartikel für die Zeitschrift Harper’s, dass der weihnachtlichen Geistergeschichte der Weihnachtsbezug abhanden gekommen sei. Damit meinte er nicht die Jahreszeit, den Kauf von Geschenken oder das Glühweintrinken, sondern "die ethische Absicht, die Dickens’ Weihnachtsgeschichten ihre Würde gab". Vergessen wir also nicht, dass wir, wenn wir von der "klassischen Geistergeschichte" reden, auch von der Kritik an einer ungerechten Gesellschaft reden und von Leuten, die für Geld über Leichen gehen.

Den zentralen Satz von The Changeling sagt George C. Scott: "Sie sind der Nutznießer der grausamsten Art des Mordes, des Mordes aus Profitgier." Aber zuerst soll es hier um den Weihnachtsmann gehen und um den Film The Silent Partner, in dem Santa Claus eine Bank überfällt. In Deutschland lief der Film als Dein Partner ist der Tod. Der Originaltitel ist besser. Er spielt auf The Secret Sharer von Joseph Conrad an (Der stille Teilhaber, auch eine Mordgeschichte) und auf Silent Night, die Stille Nacht. Drabinsky produzierte ihn, wie auch The Changeling, mit seinem damaligen Partner, dem früheren Schauspieler Joel B. Michaels.

Am Anfang sehen wir den wichtigsten Schauplatz des Films, das Einkaufszentrum. Es ist der 14. Dezember, das Weihnachtsshopping ist in vollem Gange. Die Heilsarmee spielt ein Lied dazu, und unter die Menschenmenge mischen sich mehrere Weihnachtsmänner, drei davon sogar in einer Gruppe. Wer die Anonymität sucht und nicht erkannt werden will kann es schlechter treffen als mit einem solchen Kostüm und Rauschebart. Der Film nimmt sich etwas Zeit, um uns das Shopping Centre zu zeigen und den Außenlift, in dem ein Mann im Mantel und mit einer Aktentasche nach unten fährt.

In den ersten Minuten ahnt man schon, dass das ein sorgfältig inszenierter Film ist. Regie führte Daryl Duke, der zuvor schon den sehr guten Payday gedreht hatte und mit dessen baldigem Durchbruch jahrelang gerechnet wurde. Leider trat er nie ein. Duke blieb meistens beim Fernsehen hängen und war ansonsten der Regisseur für schlecht verliehene Kinofilme, bei denen man sich fragte, woher sie kamen und wer sie gemacht hatte, wenn sie doch noch ein Publikum fanden. The Silent Partner ist dafür das beste Beispiel: ein Schläfer, der lange darauf warten musste, auf DVD herauszukommen und dann durch seine Qualität beeindruckte.

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