Zwischen Steuersenkung und Umverteilung, oder auch: Schieß nicht auf den Weihnachtsmann!
Seite 6: "Denk an eine Zahl"
Wenn man The Silent Partner gesehen hat wird man nicht bestreiten wollen, dass die Aussicht auf ein steuerfreies Einkommen die Eigeninitiative und die Risikobereitschaft fördert. Harry Reikle übernimmt beide Santa-Rollen. Erst schlüpft er in das Kostüm des Demokraten-Weihnachtsmanns. Geben Sie für diejenigen, die weniger Glück gehabt haben (oder weniger erfolgreich sind - less fortunate hat beide Bedeutungen), steht auf dem Plakat, mit dem er für Leute sammelt, die sich das Shoppen im luxuriösen Einkaufszentrum nicht leisten können. Das ist die Umverteilung. Viel kommt da nicht zusammen.
Besser, man ist seines eigenen Glückes Schmied. Harry ist ein Vorausdenker des von Ronald Reagan entfesselten Wallstreet-Kapitalismus der 1980er. Der Einfachheit halber mimt er gleich selbst den Weihnachtsmann - jetzt in der von Wanniski geforderten Republikaner-Variante - und holt sich das Geld von der Bank. Da liegt es zum Abholen bereit. Dumm daran ist nur, dass das Nachspielen wirtschaftlicher Theorien mit Figuren aus der Populärkultur unerwartete Risiken birgt. Der Weihnachtsmann trifft auf Superman, womit er nicht gerechnet hat. Auch der Kassierer entwickelt Eigeninitiative und eröffnet seine eigene Privatbank in der Brotzeitdose.
"Denk an eine Zahl" (1) (18 Bilder)
Damit ist Miles Cullen der Konkurrenz einen Schritt voraus. Das wusste schon Bert Brecht. "Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?", fragt Mackie Messer in der Dreigroschenoper. "Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes?" Und was macht ein düpierter Bankräuber, wenn er merkt, dass er vom Angestellten einer Bank übers Ohr gehauen wurde? Reikle geht (mit femininem Make-up) in die Sauna, vergewaltigt eine junge Frau und verletzt sie schwer. So beweist er seine Potenz - wenn schon nicht die finanzielle, dann wenigstens die maskuline.
Jenseits dieser von Harry Reikle repräsentierten Schattenwelt, im Leben der Angestellten, ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Die Weihnachtsfeier im Haus des Chefs ist eine von der Sorte, die man nur ertragen kann, wenn man sich besäuft oder sich bekifft. Simonson wählt Möglichkeit 1. Julie will einen Joint rauchen, hat aber ihre Handtasche mit dem Gras im Badezimmer liegen lassen. Miles geht als Kavalier nach oben, macht die Badtür auf und überrascht den Arbeitskollegen Berg beim Quickie mit der betrunkenen Louise. Damit ist - im Winter - eine Bombe gelegt, die im Sommer explodieren wird, dies aber so dezent, dass man es kaum merkt.
Eine alte Theaterregel lautet, dass ein Charakter interessant wirkt, wenn man Leute zu ihm auf die Bühne stellt, die sagen, dass er interessant ist. Die Frau des Filialleiters findet, dass Miles ein Mensch ist, den man leicht unterschätzt. Julie hört das, lässt sich nach der Weihnachtsfeier von ihm nach Hause bringen und willigt ein, auf einen Cognac bei seiner Wohnung anzuhalten. Miles habe sich verändert, meint sie, oder sie habe ihn unterschätzt. Was würde er mit dem geraubten Geld machen? Miles ist ein kühler Rechner, bei dem immer die Kasse stimmt. Bis ans Lebensende würde es nicht reichen, antwortet er. Aber man könnte sich damit eine zweite Chance kaufen.
"Denk an eine Zahl" (2) (17 Bilder)
In der Wohnung steht das Aquarium mit den tropischen Fischen, das Miles Cullens Traum von einem anderen Leben repräsentiert, weit weg von der täglichen Langeweile in der Bank. Julie legt den Kopf an die Scheibe des Aquariums, bevor sie fragt, ob es in dieser zweiten Chance einen Platz für sie gibt. Durch die Spiegelung wird ihr Kopf verdoppelt. Der eine ist vor der Scheibe, der andere sieht aus, als wäre er dahinter. Bei diesem Aquarium wird der Traum vom Leben in der Südsee in den schlimmsten Albtraum umschlagen, mit einem abgeschnittenen Menschenkopf hinter dem Glas.
Es gibt zwei dramaturgisch gerechtfertigte Gewaltausbrüche in dem Film, die man braucht, um die Geschichte zu erzählen. Beide haben es in sich, weil Christopher Plummer ein so überzeugender Bösewicht ist. Der eine, die Vergewaltigung in der Sauna, hat schon stattgefunden. Jetzt gibt es erst einmal eine Liebesszene mit Julie und Miles, zwischen Fernseher und Aquarium. Miles hat den Reißverschluss an Julies Kleid geöffnet, da klingelt das Telefon. "Denk an eine Zahl", sagt die Stimme von Harry Reikle. "Denk an 48.350." "Falsch verbunden", sagt Miles und beim nächsten Anruf wieder: "Falsch verbunden."
Auch mit abgenommenem Hörer ist Miles nicht mehr in der Stimmung für Sex mit Julie. Unter dem Vorwand, dass sie zu viel getrunken haben und dass sie das jetzt nicht machen sollten bringt er sie nach Hause. Julie kann gar nicht anders, als zu denken, dass der Mann ein Eigenbrötler ist und eine Macke hat. Nach dem Überfall war Miles im Fernsehen. Dadurch ist er interessant geworden. Frauen halten ihn für unterschätzt. Reikle hat ihn und Julie einander näher gebracht. Kurz vor dem ersten Sex trennt er sie. Das ist der Beginn einer unheimlichen Partnerschaft, die sich nun entwickelt.
Besuch vom Weihnachtsmann
Wenn Miles zurück nach Hause kommt ist das Licht neben dem Schachbrett an. Reikle war in seiner Wohnung. Vom Fenster hinter dem Schachbrett kann man die Telefonzelle sehen, von der Reikle anruft. Miles weiß zu dem Zeitpunkt nur, dass der Anrufer der Weihnachtsmann ist, aber nicht, wie er heißt und wo er wohnt. "Wir sind Freunde", sagt der Mann. "Wir sind dasselbe Risiko eingegangen. Wir … wir sind Partner." Zwei Unternehmer, könnte man auch sagen, die etwas riskiert haben, um an das steuerfreie Geld zu kommen. Der eine ist der Doppelgänger des anderen.
Im Zeitalter der Mobiltelefone müsste man sich eine neue Szene ausdenken. Reikle könnte auch mit Smartphone unten auf der Straße stehen, aber die Scheiben der Telefonzelle würden einem abhanden kommen, und die sind wichtig, weil man das Aquarium nicht vergessen darf und sich wieder fragen soll, wer hinter der Scheibe ist und wer davor. Reikle hat seine Pistole mitgebracht und zeigt sie erstmals vor. Die Polizei kann Miles nicht alarmieren, weil er mit dem Mann in der Telefonzelle durch dasselbe Verbrechen verbunden ist. Wenn der Anrufer in den Knast geht tut er es auch.
Besuch vom Weihnachtsmann (24 Bilder)
Plötzlich ist die Zelle leer, als wäre der Anrufer eine Ausgeburt von Miles’ Phantasie gewesen. Miles verbarrikadiert die Wohnungstür. Reikle steht davor, hebt das Metall vor dem Briefschlitz an und schaut von draußen in die Wohnung. Das ist ein schöner Regieeinfall. Miles ist jetzt wie ein Fisch im Aquarium, der von außen beobachtet wird. Die bürgerliche Wohnung ist nicht mehr der Hort der Geborgenheit, sondern ein Gefängnis. Aber durch den Schlitz in der Tür sieht Reikle nur einen Ausschnitt. Reikle sieht nicht das Schachbrett, und wir wissen schon, dass Miles Cullen ein Mann ist, den man nicht unterschätzen sollte. Drehbuch und Regie haben diese Szene sehr gut vorbereitet.
Bei der Weihnachtsfeier im Haus des Filialleiters hat Miles erzählt, dass er, wenn er das geraubte Geld hätte, einen Blowfish kaufen würde. Damit ist nicht der erst später entwickelte Verschlüsselungsalgorithmus gemeint, sondern ein Kugelfisch für das Aquarium. Ich habe mich informiert und weiß jetzt, dass das ein potentiell giftiger und jedenfalls scheuer Fisch ist, der Menschen aus dem Weg geht. Kugelfische haben ein kräftiges Gebiss. Größere Exemplare können einem den Finger abbeißen, wenn man ihnen zu nahe kommt. Außerdem ist Miles noch Schachspieler. Der Weihnachtsmann sollte auf der Hut sein.
Er werde ihm nun etwas Zeit lassen, sagt Reikle durch den Briefschlitz, in der Miles sich überlegen kann, ob er ihm nicht lieber das Geld geben will. Sonst werde er ihn eines Tages in seiner Wohnung vorfinden, wenn er nach Hause kommt, und das werde er bedauern. Am nächsten Abend kommt Miles aus der Bank. Reikle hat seine Wohnung durchwühlt und einen seiner Fische erdolcht. Wieder klingelt das Telefon. "Kommst du runter oder komme ich rauf?", will der Weihnachtsmann wissen. "Besser, du kommst hoch", sagt Miles und flüchtet aus der Wohnung, sein Schachbuch in der Hand, während Reikle, die Pistole halb aus der Tasche gezogen, nach oben geht.
Da scheint sich nun eine Konfrontation zwischen Gewalt und Intellekt anzubahnen, aber letztlich ist es doch komplizierter, weil das eine Doppelgängergeschichte ist, und die Geschichte einer Partnerschaft. Reikle verschafft sich Zugang zur leeren Wohnung. Als er drin ist klingelt das Telefon. "Ich bin’s", sagt Cullen am anderen Ende der Leitung, in der Zelle. "Fick dich." Die Partner haben den Platz getauscht. Miles folgt dem (stark geschminkten) Reikle auf dessen Nachhauseweg. Sobald er die Adresse des Weihnachtsmanns kennt denkt er sich eine recht originelle (und komische) Methode aus, die zu dessen Verhaftung führt.
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