Zwischen Steuersenkung und Umverteilung, oder auch: Schieß nicht auf den Weihnachtsmann!
Seite 3: Der David Beckham der Bankräuber
Einer von den Weihnachtsmännern beobachtet den Mann mit der Aktentasche. Mr. Fogelman betreibt auf der Dachetage des Einkaufszentrums ein Restaurant. Täglich zur Mittagszeit bringt er eine größere Summe Bargeld in die von Santa Claus ausspionierte Filiale der (fiktiven) First Bank of Toronto. Ein Räuber, der sein Geschäft versteht, schlägt erst zu, wenn Fogelman die Einzahlung getätigt hat. Miles Cullen ist Chefkassierer und in seine Kollegin Julie Carver verliebt, ist aber zu zurückhaltend, um ihr mehr als vorsichtige Avancen zu machen. Julie wirkt generell nicht abgeneigt, steckt aber in einem Gefühlswirrwarr und müsste energischer umworben werden, wozu Miles nicht gewillt oder in der Lage ist.
Damals gab es kein E-Banking, man füllte Einzahlungs- und Überweisungsformulare mit Kohlepapier und Durchschlag für die Kunden aus. In der Romanvorlage des Dänen Anders Bodelsen, in deutscher Übersetzung als Geld zum zweiten Frühstück erschienen, ist der Erzähler ein Pedant. Es kommt vor, dass Kunden die Formulare als Unterlage benutzen. Durch die Kritzeleien werden die Durchschläge unleserlich und als Beleg unbrauchbar. Der Kassierer hat sich deshalb angewöhnt, die Formulare nach Dienstschluss durchzusehen und die unbrauchbar gewordenen auszusortieren.
Der David Beckham der Bankräuber (24 Bilder)
Der Kassierer entdeckt dabei den Text auf dem Zettel für den Banküberfall, den offenbar jemand eingeübt hat, mit einem Überweisungsformular als Unterlage. Der Film überspielt sehr geschickt das etwas weit Hergeholte dieser Ausgangsidee, indem er mehrere Bereiche kombiniert, statt sich auf den Bankraub zu beschränken. Feierabend. Der Sicherheitsmann lässt die letzten Kunden aus der Bank. Es war ein langer Tag mit viel Betrieb. Miles Cullen malt mit dem Fingernagel etwas auf ein Überweisungsformular, zeigt Julie das Cocktailglas auf dem Durchschlag und fragt, ob sie ihn noch auf einen Absacker mitkommen will.
"Keine Zeit", sagt Julie. Der verhinderte Liebhaber nimmt ein neues Formular, malt ein Herz darauf, zieht das Deckblatt ab und entdeckt neben dem Herz auf dem Durchschlag einen Text in Großbuchstaben: "Das Ding in meiner Tasche ist eine Pistole. Geben Sie mir das ganze Bargeld." Damit sind mehrere Spuren ausgelegt, denen der Film im Lauf der Handlung folgen wird. Vorher, als wir mit der Kamera die Bank betraten, an der Werbung für eher spießige Träume vorbei, für Lebensversicherungen und Immobilienkredite, haben wir an einem der Schalter einen uniformierten Polizisten gesehen und am Tisch mit den Formularen einen Weihnachtsmann, der gerade wegging.
Es hilft, aufmerksam hinzuschauen, aber man muss nicht Sherlock Holmes sein, um zu kombinieren, was das bedeutet. Auf dem Durchschlag begegnet der verhinderte Liebhaber, der gern Julies Herz stehlen würde, dem verhinderten Räuber, der das Geld der Bank stehlen will (bzw. ihrer Kunden) und schon den Zettel für den Überfall geschrieben hatte, die Ausführung des Plans aber verschob, weil der bewaffnete Polizist am Schalter stand. Zurück ließ er, ohne es zu wissen, die Nachricht mit der Pistole.
"Manchmal ist eine Zigarre eben nur eine Zigarre", soll Sigmund Freud gesagt haben, weil er fand, dass sich die Suche nach einer sexuellen Symbolik auch übertreiben lässt. Und manchmal ist eine Pistole eben nicht nur eine Pistole, sondern auch ein Penis. Der Text auf dem Durchschlag ist doppeldeutig. Ihn hat ein bewaffneter Bankräuber geschrieben und ein Mann, der darauf hinweist, dass er einen Penis in der Hose hat. Offenbar hält er das für erforderlich. Christopher Plummer, der Harry Reikle spielt, wird danach feminin geschminkt sein, mal mehr und mal weniger auffällig, und seinen letzten Auftritt in einem Frauenkostüm absolvieren.
Reikle ist seiner Zeit voraus. 15 Jahre, bevor der Begriff geprägt wurde, ist er bereits "metrosexuell" - also ein Mann, der nicht schwul ist, aber Eigenschaften hat, die als mehr weiblich als männlich gelten und zu den gängigen Schwulenklischees passen. Von den herkömmlichen Rollenbildern gelöst hat er sich nicht. In einer Art Überkompensation muss er deshalb seine maskuline Potenz herausstellen (die Pistole in der Hose). Das äußert sich in zwei schockierenden Gewaltausbrüchen. Oberflächlich betrachtet könnte man denken, dass Reikle ein sadistischer Psychopath ist, doch die Sache ist komplexer.
Reikle, der von Plummer mit furchteinflößender Brillanz gespielte Gewaltverbrecher (und Vorgänger so manches Serienmörders späterer Jahre), greift auch in das Liebesleben des Kassierers ein, das durch seine Intervention einige unerwartete Wendungen nimmt. Dabei sollte man nicht vergessen, dass Herz und Text auf dem Durchschlag des Einzahlungsbelegs einer Bank zu sehen sind, in einem Einkaufszentrum. Wir sind im Herzen der Konsumwelt, in der die Potenz auch etwas mit dem Geld zu tun hat, und mit dessen erotisierender Wirkung. Aus der sich anbahnenden Beziehung zwischen Miles und Julie, in der Harry Reikle und seine finanziellen Angelegenheiten als Katalysator wirken, ist das nicht wegzudenken.
Filmemachen im Steuerparadies
Auf dieser Grundlage, dem Durchschlag in der Hand des Kassierers, wird sich nun eine intelligent erzählte Geschichte mit glaubwürdigen, logisch nachvollziehbaren Wendungen entwickeln und nicht einer jener Thriller, die unmotivierte, durch nichts vorbereitete Überraschungen aus der Schublade ziehen müssen, weil sich die Autoren in eine Sackgasse manövriert haben und nicht wissen, wie sie wieder herauskommen sollen. Das Drehbuch schrieb der später als Regisseur von L.A. Confidential bekannt gewordene Curtis Hanson, dem man so etwas bis dahin gar nicht zugetraut hätte. Der Rest lief ab wie oft beim Film: anders als geplant.
Hanson hatte bereits den von Roger Corman produzierten Psychopathen-Krimi Sweet Kill inszeniert und verfasste das Drehbuch zu The Silent Partner in der Erwartung, dass er auch Regie führen würde. Dann erhielt er von einem großen Hollywoodstudio, der Paramount, das Angebot, das Script zu White Dog zu schreiben, den Roman Polanski nach Chinatown inszenieren sollte. Diese Chance, in die erste Liga aufzusteigen, wollte er nutzen und vorher noch ein paar leicht verdiente Dollars mitnehmen. Darum verkaufte er an Joel B. Michaels und Garth H. Drabinsky eine dreimonatige Option auf The Silent Partner.
Michaels und Drabinsky hatten bis dahin nichts Wesentliches zustande gebracht (Drabinsky schlug sich gerade mit The Disappearance herum, einem hervorragenden Thriller mit Donald Sutherland als Auftragskiller, der zerstückelt und dann notdürftig wieder zusammengesetzt wurde und heute ein Geheimtipp ist). Hanson war überzeugt, dass diese Typen eine Produktion wie The Silent Partner nicht stemmen würden, er also deren Geld einstreichen, das Buch für White Dog schreiben und sich danach, nach dem Auslaufen der Option, wieder um Miles Cullen und Harry Reikle kümmern könnte.
Polanski traf im Haus von Jack Nicholson eine Minderjährige, wurde wegen Vergewaltigung angeklagt und verließ die USA. Hansons Drehbuch für White Dog wurde an andere Autoren weitergereicht, durchlief mehrere Überarbeitungen und landete nach Budgetkürzungen bei Sam Fuller, der einen sehr guten Film daraus machte, nachdem er das ihm überreichte Drehbuch noch einmal generalüberholt hatte - und zwar mit der Hilfe von Curtis Hanson, von dem er eine gute Meinung hatte, weil er der Autor von The Silent Partner war. So hatte am Ende auch Hanson etwas davon, dass es Drabinsky und Michaels doch geschafft hatten, ihr erstes gemeinsames Projekt zu finanzieren.
Hanson hatte nicht mit der kanadischen Regierung gerechnet. Weil die Filmproduktion in Kanada fast nicht existent war wurde 1967 die Canadian Film Development Corporation gegründet, die heutige Telefilm Canada, die 1968 Büros in Montreal und Toronto eröffnete. Die CFDC stellte Fördergelder und andere Formen geldwerter Unterstützung bereit, um die Produktion anzukurbeln. In den 1970ern löste das einen Boom aus. 1970 wurden in Kanada drei Spielfilme hergestellt, 1979 waren es 66. Allerdings wurde nur knapp die Hälfte dieser 66 Filme verliehen, die übrigen vergammelten im Archiv.
In gewisser Weise war das sogar ein Erfolg, weil auch die nicht gesehenen Filme wenigstens gedreht worden waren. Zuerst war das Förderprogramm so konzipiert, dass gewiefte Geschäftemacher staatliche Gelder abrufen konnten, ohne das Risiko eingehen zu müssen, nach der großzügig geförderten Projektentwicklung tatsächlich etwas zu produzieren (ein auch im deutschen Förderwesen nicht ganz unbekanntes Phänomen). Mitte der 1970er, als das Programm zunehmend in die Kritik geriet begann man umzusteuern und vermehrt auf steuerliche Anreize zu setzen.
Geldgeber wurden damit geködert, dass sie die komplette Investition von ihrem zu versteuernden Einkommen absetzen konnten. Das Resultat war durchwachsen, weil dieses Steuersparmodell Anleger anzog, denen die künstlerische Qualität eines Films egal war und oft auch, ob der Film jemals ins Kino kam. Umgekehrt dürften sich die Verantwortlichen für das Förderprogramm bei einigen Erfolgsfilmen gewünscht haben, dass sie nie das Licht eines Projektors erblickt hätten.
David Cronenbergs Shivers (1975) spielte richtig Geld ein und verschaffte dem Filmland Kanada internationale Beachtung, löste aber einen Skandal aus und beschäftigte sogar das Parlament, weil der Staat solchen Schweinkram mit verrückten Wissenschaftlern und den Sexualtrieb steigernden Parasiten finanzierte. Andere Produzenten schielten ausschließlich auf den US-Markt, verfilmten sehr amerikanische Teenagerkomödien für ein amerikanisches Publikum und gingen im Extremfall für die Dreharbeiten in die USA, nachdem sie in Kanada mitgenommen hatten, was abzugreifen war.
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